In der deutschen Literatur etabliert sich eine neue Perspektive. Eine erweiterte Blickrichtung. Während in den letzten Jahrhunderten die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf dem Bildungs- und Entwicklungsweg eines Individuums lag, einer einzeln zu verfolgenden Figur, so scheint es mir jetzt so, als ob eine Perspektivverschränkung stattfände. Als ob sich der Blick erweitere. Es steht nicht mehr nur ein einzelnes Individuum – literarisch gesprochen: eine Figur - im Vordergrund, sondern es wird ein ganzes Netzwerk beschrieben. Ein Schicksalsnetzwerk. Figuren- und damit Ereigniskonstellationen.
Im übertragenen Sinne steht die Konstruktion eines Kreises für dieses Bild: Er lässt sich entweder aus der Mitte heraus konstruieren – aus seinem Mittelpunkt heraus – oder über die Peripherie – mittels angelegter Tangenten, die den Umkreis erschaffen.
Entwicklung, Entfaltung, Erlebnisse und Begebenheiten werden heute immer weniger aus einer eindimensionalen, zentrierten Perspektive beschrieben, sondern benötigen auf Grund ihrer Komplexität den großen Blick von oben oder auch: durch verschiedene Schichten hindurch. Erst dieser große Blick schafft Sinn, denn ein Individuum lebt nie gänzlich isoliert von der Welt mit all ihren Ereignissen, Zuständen, Gegenständen, Gesellschaften und eben weiteren Teilhabern.
Der Soziologe Niklas Luhmann würde sich mit seiner Systemtheorie über die Entwicklung in der deutschen Gegenwartsliteratur sicher freuen.
Denn gerade die Generation der jüngeren Autoren in Deutschland scheint diesen Perspektivwechsel begriffen zu haben. Individuum und Welt gehören zusammen, sie rekurrieren einander und das Leben eines einzelnen ist ohne seine Mitspieler nicht mehr begreif- und schon gar nicht beschreibbar. Es folgt der Blick auf drei literarische Beispiele: Neuerscheinungen aus diesem Jahr, die zeigen, wie Menschen oder Figuren und Ereignisse ineinander greifen, wie unübersichtlich das Gewebe oft ist und wie überraschend die Zusammenhänge sind.
Daniel Kehlmann erzählt in seinem neuen Buch „Ruhm“ neun Geschichten. Sie sind so verfasst, dass sie einzeln als Kurzgeschichten gelten könnten. Aber genau darin liegt der Punkt: sie berühren einander. Ganz trocken. Mittels eines Namens, einer kleinen Begebenheit, eines Ortes oder Zeitpunkts. Nicht, dass die Protagonisten offensichtlich aufeinander reagieren, oder, dass sich ein gemeinsames „Ereignis ereignet“ – nein, es ist wie im täglichen Leben, in dem ich auch nicht weiß, ob XY gerade vor mir im Laden gewesen ist – und vor allem warum.
Daniel Kehlmann macht ein Netzwerk sichtbar. Ohne Wertigkeit. Ein Netzwerk auf horizontaler Ebene ohne hierarchische Ausrichtung – philosophisch auch „Vertikalspannung“ genannt. Knotenpunkte treten in den Vordergrund. Ganz subtil. Und die große Verknüpfung bildet das Netz des sozialen Lebens – in dem sich literarische Figuren genauso wie konkrete Menschen bewegen, suchen und finden.
Anna Katharina Hahn macht in ihrem neuen Roman „Kürzere Tage“ etwas Ähnliches – und doch auf eine ganz andere Weise. Auch sie erzählt Geschichten. Über Begebenheiten. Innen- und Außenansichten verschiedener Protagonisten werden vermittelt. Sie präsentiert Ausschnitte aus dem Leben verschiedener Figuren. Der Blick der Autorin wendet sich von einer Figur der nächsten zu. Trocken. Disparat. Und trotzdem gibt es eine Verknüpfung, die schnell deutlich wird. Es ist der Zeitpunkt des Geschehens und der Ort. Stuttgart. Die Erzählung steht auf realem Boden. Es werden Straßen genannt, Gebäude, das Surrounding entspricht dem „wirklichen Leben“.
Ihre zunächst unzusammenhängende Darstellung der verschiedenen Lebenssituationen mündet in einen gemeinsamen Moment. Raum und Zeit begegnen einander. Die Protagonisten – die übrigens alle in der gleichen Straße leben – treffen in einem heiklen Moment aufeinander. Die Situation ist zugespitzt. Es geht um Leben und Tod. Keiner kennt die Geschichte des Anderen – aber nun werden die Figuren zusammen zu einer gemeinsamen Geschichte. Und damit endet – natürlich – die Erzählung von Anna Katharina Hahn, ohne dass der Leser weiß, wie die Erzählung „ausgeht“.
Eine weitere Variante dieser neuen Blickrichtung, dieses Sichtbarmachens von Netzwerken und speziell von Vorerfahrungen, also persönlicher Entwicklung in zeitlicher Ausdehnung, bietet Judith Hermann in ihrem neuen Buch „Alice“. Es ist eine Figur – Alice – die in fünf Momenten ihres Lebens geschildert wird. Fünf Männer sterben. Die Reihenfolge ist dabei unerheblich. Aber Alice kennt sie alle – begleitet sie, diese Männer. Bis auf den Tod ihres Onkels. Er ist vor ihrer Zeit gestorben – aber sie recherchiert seinen Tod.
Auch diese fünf Geschichten könnten einzeln stehen. Aber das tun sie nicht. Und zu Recht. Denn das Sinnhafte dieser morbiden – und doch so leichtfüßig geschriebenen Erzählungen – wird erst dadurch sichtbar, dass Alice in ihrem Netzwerk auf einem Knotenpunkt steht – mitten in ihrer eigenen Lebensgeschichte. Aber gerade die wird natürlich nicht konsequent geschildert – nein, wieder bekommen wir es nur mit Momentaufnahmen zu tun. Kontinuität schafft nur der Name „Alice“.
Judith Hermann hat also ein Thema genommen – den Verlust und damit gleichzeitig das Leben damit – und in der Geschichte, die wir das Leben einer Figur nennen, das „Sterbensnetzwerk“ fokussiert, in dem die Protagonistin deutlich dem Leben zustrebt. Ja, sich konträr zum Tod dieser Männer verhält. Die Gestalt Alice wird durch die verschiedenen Erzählungen erschaffen, sie bildet den Mittelpunkt und gleichsam die Peripherie.
In allen drei der genannten Erzählungen fällt noch etwas auf. Das Leben von Figuren, Gestalten – und ich vermute auch realen Menschen – ist nicht konsequent „nacherzählbar“, ist nicht verstehbar, ist nicht nachvollziehbar. Gerade das Leben entbehrt die Konsequenz, die Stringenz oder auch die Kontingenz. Innen und außen sind eben innen und außen. Zwar gibt es einen Schnittpunkt dieser Bereiche – aber was dort geschieht gehört wohl zum Mysterium des menschlichen Lebens und damit dem, was wir den „Lebens-Lauf“ nennen. Und dies ist wohl eine Wahrheit, die sowohl für die Literatur als auch für das wirkliche Leben gilt.
Fragmente werden zu Abbildern einer vollständigen Figur, eines vollständigen Entwicklungs- und Lebensweges – gerade in ihrer fragmentarischen Struktur. Eigentlich ist das mittlerweile ja schon bekannt. Aber es tut gut, wieder darauf hingewiesen zu werden. Sowohl die menschliche als auch die literarische Identität markiert die Schnittstelle zwischen Individuum und Welt/Gesellschaft, zwischen mir und dir, zwischen innen und außen. Dadurch bleibt die Würde gewahrt.
Und: gerade das machen die drei zukunftsweisenden Erzählungen sichtbar. Und: sie sind stolz darauf. Hier kann sich das „wirkliche Leben“ mit der literarischen Welt zusammenschließen. In einem Kreis. Von außen nach innen. Und: von innen nach außen.
• Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag, 2009.
• Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage. Suhrkamp Verlag, 2009.
• Judith Herrmann: Alice. S.Fischer Verlag, 2009.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Das mit den Perspektiven ist richtig ein Ding. Eine Perspektive ist etwa: ein Standort der Aufmerksamkeit. In deinem Text ist deine Perspektive eine Vierte, die die drei vorhandenen Perspektiven in einem neuen Zusammenhang stellt. Herzlich, Jelle van der Meulen
AntwortenLöschenMeine Perspektive?
AntwortenLöschenJa, ich stehe da und staune über die "Standorte der Aufmerksamkeit" - das finde ich eine treffende Beschreibung.
Es gibt auch noch einen schönen Film, der die beschriebene Netz-Perspektive zeigt und damit sonst unsichtbare Verbindungen sichtbar macht. Es ist BABEL von Alejandro González Iñárritu aus dem Jahr 2006.
Gibt es noch mehr Bücher oder Filme in dieser Art?