Montag, 25. Mai 2009

Eine Stadt voller Geschichten

Sein Leben bestand aus Geschichten. Und das wusste er. Was hatte er nicht alles schon erlebt. Da gab es die Geschichten mit den Frauen. Die Geschichte mit dem Goldtaler. Die Geschichte in dem alten Land. Und die in Europa. Fast alle Begegnungen in seinem Leben sind zu Geschichten geworden. Erlebnisse und Ereignisse gab es in unzähliger Fülle. Er könnte davon erzählen. Das hat er auch schon getan. An vieles erinnert er sich. Aber darum ging es ihm jetzt nicht mehr.

Nein, die Zeit, vergangene Geschichten zu erzählen neigte sich dem Ende zu. Er suchte keine alten Geschichten mehr. Aber seine eigene Geschichte, die, die sich gerade erzählt, die Geschichte, die er selber nicht kannte, obwohl er die Hauptperson war… Die Geschichte, über die er noch nie jemanden hatte richten hören und die er selber nur vage in sich spürte. Dieser Spur wollte er folgen. Diese Geschichte wollte er finden. Er wollte sie nicht suchen. Nein. Er wollte sie finden. Sie sollte auf ihn zukommen. Das wollte er. Die Zeit war reif. Er bewegte sich aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Aus der Zukunft in die Gegenwart.

Er ging einkaufen. In einen großen Supermarkt. Und als er in einer Reihe an der Kasse stand, da versuchte er sich vorzustellen, welche Geschichten die Menschen um ihn herum wohl schrieben oder in sich trugen. Waren es die Grimm’schen Märchen? Oder Kriminalromane? Hatte der Mann, der vor ihm stand mit Asterix mitgelacht? Oder hatte er die alten Überlieferungen wie das Nibelungen-Lied gelesen? Mit welchen Helden waren die Menschen um ihn herum mitgegangen? Und die Frau hinter ihm, was war ihr nahe gegangen? Welche Geschichten beschäftigten sie, welche trug sie in sich? Gelesene, gehörte, gesehene oder gar selbsterlebte?

Und der Mann realisierte, dass es verschiedene Ebenen von Geschichten gab. Die eigenen Geschichten. Und die Geschichten der Anderen. Literarische Geschichten. Die gehörten Geschichten, die gelesenen, ja und sogar die selber geschriebenen Geschichten. Jeder Mensch schreibt sein Leben in sich ein, in die Erde ein. Jeder macht Geschichte. Komponiert die eigene Lebensgeschichte. Baut an seiner Geschichte. Und der Mann fragte sich, an welcher Stelle seiner Geschichte er sich wohl befand. Standen ihm noch Abenteuer bevor? Würde das Wetter beständig, sonnig und windstill bleiben? Oder war das Ende nah? Erlebte jemand seine Geschichte mit, würde sie weiter erzählt werden? Wer nahm Anteil daran? Und wie würde seine Geschichte einst erzählt werden?

Er wusste, dass er die Spur seiner eigenen Geschichte nur finden würde, wenn er die Geschichten anderer begriff. Und er fuhr in die Stadt. Dort fanden die Literaturtage statt. Und alle Menschen waren dort auf der Suche nach Geschichten. Und hier fanden sie sich, die vielen Geschichten. Es gab das gesprochene Wort, Lesungen und Erzählungen. Und es gab das geschriebene. In Hülle und Fülle. Eine ganze Stadt voller Bücher. Voller Erzählungen und Geschichten. Der Mann begab sich in den Strom und ließ sich mitnehmen. Was für Geschichten würden ihm begegnen, würde er sich in ihnen finden?

In gleißender Mittagshitze beginnen zwei Schauspieler aus dem Briefwechsel „Herzzeit“ von Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu lesen. Stille liegt über dem Innenhof. Die gelesenen Worte werden von melancholischer Musik umrahmt. Die Briefe wechseln einander ab. Sie erzählen von Liebe. Von Sehnsucht. Von Fragen und Unwägbarkeiten. Zwei große Dichter, die miteinander um das Wort ringen. Briefe von poetischer Kraft. Die von Verlangen und Verzweiflung handeln. Die Alltagsgeschehnisse beschreiben und Fragen stellen. Ein Telegramm ist dabei: „Ich denke an dich“, Briefentwürfe werden gelesen. Die Stille wird hörbar. Und Zeit und Raum breiten sich aus. Die Nachkriegsjahre steigen auf, Briefe aus Paris, Köln, München und Salzburg erklingen. Und das Drama, die Tragödie der beiden großen verwundeten Dichter, die zu Beginn der 70er Jahre das Leben und das Schreiben und das Lesen aufgaben – wir dürfen heute ihre Liebesbriefe lesen.

Gegen Abend steht Rafik Schami auf der Bühne. Der große Erzähler aus Damaskus, der seine Geschichten, die im Orient spielen, auf Deutsch erzählt. Der große Innenhof des Wilhemstifts ist bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt. Und Rafik Schami ergreift das Wort. Er erzählt. Erzählt von seinem Buch „Das Geheimnis des Kalligraphen“. Er liest nicht vor, nein, er erzählt. Er lädt die Zuhörer ein, mit ihm nach Damaskus zu kommen. Den Gerüchten um den Kalligraphen zu folgen. Dafür beschreibt Rafik Schami Gerüche, Lichtverhältnisse und lässt mit bewegenden Worten seine Helden entstehen. Sie erwachen und bewegen sich durch die Worte des Autors über die Bühne, durch Damaskus. Bilder entstehen, Szenen, Geschichten. Rafik Schami, dessen Name frei übersetzt „der, der Damaskus liebt“ bedeutet, schafft es, seine Geschichte erlebbar zu machen, die Zuhörer einzubeziehen – den Duft von Damaskus herüber wehen zu lassen.

Und dann ist da Raoul Schrott. Ein österreichischer Literaturwissenschaftler, Komparatist und Schriftsteller. Seine Lesung findet zu nächtlicher Stunde statt. Was für eine Geschichte bringt er? Die „Illias“ ist es. Die alte Geschichte um den trojanischen Krieg. Er hat sie neu übersetzt. Und zur Erklärung flicht er ein, dass Poesie das ist, was zwischen den Zeilen steht… Und das war der Grund für ihn, den alten Text ins heutige Deutsch zu übertragen. Er liest aus seinem Buch vor. Mit donnernder Stimme. Sein Körper sitzt still an seinem Lesepult, aber die Kraft seiner Stimme tost durch die Nacht. Da sind sie, die Helden, die Kriegsmänner aus der alten Zeit. Der Kampf um die schöne Helena entbrennt. Und die Helden ringen um Ehre, Gunst und Sieg. Sie streiten mit den Göttern. Und das Meer tost im Hintergrund. Die Zuhörer werden zu Mitstreitern der Belagerung Trojas.

Und wieder ganz andere Geschichten erzählen Inge Jens und Arno Luik. Sie führen auf der Bühne ein Gespräch. Interviews sind es, die Arno Luik gemacht hat – für den „Stern“ zum Beispiel mit Boris Becker, Joschka Fischer, Thomas Buergenthal, Angelika Schrobsdorf, Inge und Walter Jens… Sie erzählen vom Heute, aus dem Hier und Jetzt. Geschichten aus Deutschland. In seinem Buch „Wer zum Teufel sind sie nun?“ stellt Arno Luik provozierende Fragen. Auf der Bühne ist es aber die zweiundachtzigjährige Inge Jens, die dem Journalisten Fragen stellt – und es entfaltet sich ein bunter Teppich von überraschenden Aussagen mächtiger Menschen durch die Stimme des Interviewers. Die Zuhörer sitzen betroffen da. Denn sie sind ein Teil der Geschichten. Nicht, weil sie „dabei waren“, nein, weil sie „dabei sind“ – weil sie leben, hier und jetzt in Deutschland.

Geschichten, die sich selbst erzählen. Geschichten, die der Mann kaum im Stande war zu denken. All die Liebesgeschichten und die Leidensgeschichten, die großen und die kleinen, die Geschichten, die aus Worten bestehen und die schweigenden Geschichten – die erzählbaren und die nicht erzählbaren. Er wird still. Und für den Moment hat er den Mut verloren, seiner eigenen Geschichte nachzugehen. Das, was er hier erlebt hat berührt ihn sehr. Betroffen sitzt er am späten Abend bei einem Glas Wein in der lauen Nacht und spürt den Geschichten nach. Eines Tages – vielleicht morgen – wird er sich auf seine Geschichte zu bewegen. Sie blinzelt ihm am nächtlichen Himmel schon entgegen.

1 Kommentar:

  1. Sehr schön. Hier sieht man das Aufblühen eines Menschen; das Ziel im Leben überhaupt, nach Aristoteles.

    V.

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