Montag, 4. Mai 2009

Die Götter zürnen. Über die erste Freundschaft auf Erden.

Vor ein paar Tagen habe ich wieder einmal eine deutsche Übersetzung des ältesten Epos der Menschheit in die Hände bekommen, das uns überliefert ist: das Gilgamesch-Epos. Es ist ungefähr 5000 Jahre alt. Es heißt, dass es die bedeutendste literarische Schöpfung des Zweistromlandes und das erste - in Keilschrift! - niedergeschriebene literarische Werk der Menschheit überhaupt sei. Es hat lange gedauert bis es gefunden, übersetzt und veröffentlicht wurde und es erzählt eine wundersame Geschichte über die Freundschaft.

Ich habe es jetzt gelesen, ja regelrecht verschlungen. Es ist mir fremd und sehr vertraut zugleich. Etwas erklingt in mir. Die Namen und Worte, Klänge und seltsamen Laute leben schon lange warm in meiner Seele – haben ein Zuhause in mir gefunden, obwohl ich so gut wie nichts davon erklären kann.

Ich habe die Geschichte schon einmal gehört. Als Erzählung. Das ist schon lange her. Ich war noch ein Kind. Es war damals etwas ganz Neues für mich. Worte, Zusammenhänge, Namen und Geschehnisse, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ja, geschweige denn, dass ich irgendwie eine konkrete Vorstellung davon gehabt hätte. Ich glaube, ich war damals völlig verzaubert. In meinem Elternhaus wurde über gänzlich andere Dinge gesprochen. Ich kam aus aufgeklärtem, modernem Hause, war mit der Welt der Sagen und Legenden, Märchen oder Mythen nicht vertraut. Die Worte, die in meiner Familie gesprochen wurden, hatten mit der diesseitigen und hiesigen Welt zu tun, mit dem, was gerade in Deutschland geschah und wie man sich dazu zu verhalten habe. Dass die Welt früher anders ausgesehen hat, und dass es so etwas wie „Babylonien“ gab, dass wusste ich eigentlich nicht. Es spielte in meinem Alltag keine Rolle.

Ich war zehn Jahre alt, als ich in die Waldorfschule kam und die erste Epoche, die mir entgegenkam, war „Urgeschichte“. Ich hatte keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Unsere Klassenlehrerin erzählte uns von den wundersamen Begebenheiten um die beiden Helden. Wir übten Keilschrift. Malten Bilder. Erzählten das Geschehen nach. Ich tauchte in diese Welt ein. Tief und ohne Fragen. Fühlte mich aufgenommen, zu Hause angekommen. Und „verstand“ nichts davon. Ich sog die Worte „Gilgamesch“, „Eabani“, „Utnapischtim“ und „Uruk“ auf – solche Buchstabenkombinationen kannte ich noch nicht.

Gilgamesch und Eabani (so, wie Enkidu damals genannt wurde, denn die „richtige“ Übersetzung des Namens wurde erst später entdeckt) suchen, finden und verlieren einander. Zunächst steht jeder für sich. Gilgamesch ist Herrscher über Uruk. Eabani ein „wilder“ Mensch, der erschaffen wird um Gilgamesch erst Gegenspieler und dann Mitspieler zu werden. Eine Tempelpriesterin verführt ihn in der Steppe und lockt ihn so in die Stadt. Nachdem sich die beiden Männer in die Augen geschaut haben, kämpfen sie miteinander. Sie erproben und erleben ihre Ebenbürtigkeit und werden dann Freunde. Richtige Freunde. Sie „rechnen“ miteinander, bauen aufeinander, blicken einander an. Sie „wollen“ etwas miteinander und tun das auch. Die Bruchstücke der Überlieferung berichten uns davon, dass sie gemeinsam wirkliche Abenteuer erleben. Die beiden sind also nicht mehr allein, nicht mehr jeder für sich. So, wie sie es lange waren. Nein, sie sind zu zweit. Vielleicht die ersten „Freunde“ auf Erden.

Die Zeit der „göttlichen Menschen“ neigt sich dem Ende zu. Gilgamesch, nur zu einem Drittel Mensch, und Eabani, ganz und nur Mensch, begegnen einander tief. Zwei Männer also, die sowohl in ihrer Stärke, als auch in ihrer Schwäche präsentiert werden. Sind sie es, die uns das Ur-Bild der Freundschaft schenken? Einer Begegnung mit Folgen? Gleichzeitig zeigen sie uns, dass ihre Freundschaft ein unmögliches Unterfangen ist. Die Götter zürnen ihnen und lehnen sich gegen die Freundschaft auf.

Und da die Götter noch immer die Macht haben, entfachen sie das irdische Drama: Eabani stirbt – denn die Götter wollen seinen Tod. Eabani hat keine göttlichen Anteile. Ist ganz und nur Mensch. Er muss sterben. Gilgamesch stürzt daraufhin innerlich in einen tiefen Abgrund. Er kann den Tod seines Freundes nicht verschmerzen. Der große und mächtige Herrscher der Stadt Uruk ist geknickt. Völlig aufgelöst. Verzehrt sich fast gänzlich. Er macht sich auf die Reise zu Utnapischtim. Um Trost zu finden. Sich Rat zu holen. Um das ewige Leben zu suchen. Denn er kann keine Ruhe finden. Aber es gelingt ihm nicht.

Nach langer Wanderung kann er die Aufgabe des weisen Alten nicht vollbringen, er soll sieben Tage und Nächte wach bleiben. „Bewusst“ sein. Aber er schafft es nicht. Er schläft ein. Wird also nicht eingeweiht. Und dennoch bekommt Gilgamesch das Lebenskraut geschenkt. Aber wie es so ist, in den großen Geschichten und dem einfachen Leben: eine Schlange entwendet Gilgamesch das Lebenskraut.

Betrübt und niedergeschlagen und unglücklich kehrt der verwundete Held in die Stadt Uruk zurück. Als magerer Trost für sein Scheitern bleibt ihm letztlich nur der irdische und vergängliche Stolz auf die von ihm errichtete Stadtmauer. Sein Freund Eabani bleibt fort, tot und unerreichbar für ihn. Die Materie verwittert zu Staub. Gilgamesch bleibt allein. Mit diesem Unglück endet die Erzählung.

Ob sich die beiden wiedersehen? Ob ihre Freundschaft in einer späteren Inkarnation Früchte trägt? Ob sich das Blatt einmal wendet und Eabani den irdischen Schmerz durchläuft? Oder ob sie eine ganz und gar glückliche und erfüllte Begegnung haben?

Fragen über Fragen. Diese Geschichte bringt keinen Trost. Ist aber ein Urbild für das menschliche Schicksal. Kein klassisches Liebesdrama, nein, eine tiefe und verzweifelte Freundschaftsgeschichte. Und so wundersam, wie die Klänge der Namen der beiden Helden sind, die in ihrem Schmerz verglühen, schenkt die Erzählung doch ein wenig Licht, wenn ich daran denke, dass es die Menschheit auch heute, 5000 Jahre später, noch gibt. Das Urgeschehen trägt – denn es ist der Menschen Schicksal.

Freundschaft und Schmerz, Gilgamesch und Eabani, Leben und Tod – das ist das Schiff auf dem wir durch das Leben segeln. Die unvergessenen Wortklänge in unseren Herzen weisen uns den Weg durch Tragödien und Dramen, Liebe und Erfüllung. Die Götter haben mittlweile verstanden, dass wir Menschen Freundschaften brauchen.

1 Kommentar:

  1. Liebe Sophie,
    Du scheinst ja wieder viel Zeit zum Lesen zu haben......Außer sehr alt ist das Epos, glaube ich, auch sehr lang......
    Meine Erfahrung ist, dass Freundschaften nicht nur, auch durch den Tod, enden können, sondern auch verlschen können. Dass sie entstehen, glühen und sich überleben können. Sie gehören oft zu bestimmten biographischen Phasen und begleiten einen durch sie hindurch.
    liebe Grüße, M.

    AntwortenLöschen