Die beiden kennen einander vorerst nicht, haben aber miteinander zu tun. Und das nicht nur qua Verwandtschaft – der eine ist Onkel, der andere Neffe – sondern durch ihr miteinander verknüpftes Schicksal. Um aber ihr eigenes Schicksal zu leben, brauchen sie den jeweils anderen.
Offenkundig geht es in der Geschichte von Parzival auf einer Ebene um die Erlösung von Anfortas. Untergründig spielt die „Bestimmung“ der beiden, ihr „Basiskonflikt“, ihre Konstitution, schlicht der Faden ihres Schicksals mindestens eine genau so große Rolle, wie die Heilung durch „die Frage“.
Was ist ihr Konflikt, wie finden und lösen sie ihn?
Anfortas kommt auf die Tanzfläche des Geschehens, als Parzival nach Munsalvaesche kommt. Und er tanzt in diesem Saal überhaupt nicht, denn, Anfortas ist ganz und gar Wunde. Er wird als alter, dahin siechender Mann geschildert, der an seinen Schmerzen zu zerbrechen droht. Schwach liegt er auf seinem Lager und hofft, dass er erlöst wird. Entweder in dem er sterben darf, oder in dem er geheilt wird.
Anfortas ist Gralskönig. Ein leidender, kranker Gralskönig. Durch den frühen Tod seines Vaters Frimutel (der wiederum Sohn von Titurel ist) wird er, als ältester von fünf Geschwistern (Trevrizent, Herzeloyde, Repanse de Schoye und Schoysiane) als Gralshüter bestimmt. Zu seinem Amt gehört es, auf die Inschrift des Grals zu warten, welche Königin an seine Seite gehört. Aber der Gral schweigt. Anfortas setzt sich darüber hinweg, richtet seinen Blick auf die rothaarige Schöne und der Konflikt entbrennt.
Anfortas sucht das Leben. Und zum Leben gehört die Sinnlichkeit. Orgeluse, die geheimnisvolle Verführerin, ist das Ziel von Anfortas Begierde. Und dafür wird der König bestraft. Verwundet in seiner Männlichkeit und nicht mehr tauglich, das Gralsvolk zu führen. (Und auch Orgeluse wird tief verletzt – aber das ist eine andere Geschichte.)
Parzival hingegen ist ein junger, unwissender, naiver und fröhlicher Geselle. In seiner Einfältigkeit „verschlägt“ es ihn in die Gralsburg – und er weiß von nichts. Was er sucht, ist ein Lager für die Nacht. Und so erlebt er staunend und schweigend das Geschehen, bis er diesen wundersamen Ort am nächsten Morgen verstört verlässt.
Parzival ist in der Einöde aufgewachsen, seine Mutter Herzeloyde hat versucht ihn von der Welt fern zu halten. Aber er sucht die Welt – und findet sie auch. Anders als Anfortas. Während der Ältere „wusste“, was er tat, ist Parzival mit Unwissenheit geschlagen. Er folgt seinem Herzen, lebt einfach, macht Erfahrungen und versagt. Parzivals Konflikt entfaltet sich durch seinen eingeschränkten Blick.
Bei ihm ist es der Schmerz des Versagens auf der Gralsburg und der Schmerz über die Getrenntheit von seiner Frau Condwir amurs, was ihm das Leben schwer macht. Methaphorisch gezeigt in der berühmten Blutstropfenszene. Parzival leidet. Nicht minder als Anfortas. Bei Anfortas ist es der physische Schmerz, Parzival leidet seelisch, ihm ist das Leben zur Wunde geworden, ein Riß ist entstanden – wie Muschg es im „Roten Ritter“ so schön beschreibt.
Parzival bekommt eine zweite Chance, denn die Gralsbotin Kundry führt ihn auf die Burg. Das heisst, dass sich die Schicksalsfäden der beiden ein weiteres Mal kreuzen und es ist gerade die Begegnung dieser beiden Figuren, durch die sie erlöst werden. Der äußerlich strahlende Held steht vor dem verwundeten Mann und stellt die Frage der Fragen: Oheim, waz wirret dier?
Beide wußten nur wenig davon, wie sie ihren eigenen Knoten würden lösen können, und deutlich ist, dass der Eine den Anderen braucht. In der Begegnung lockert sich das Geflecht und ein neues Muster kann entstehen.
Parzival steht in seiner Betroffenheit, ob seines früheren Versagens und des damit verbundenen Leides, weinend vor dem halbtoten Gralskönig Anfortas. Sie schauen einander an und Parzival stellt die erlösende Frage. Es ist das Mitleid, durch das sie erlöst werden, das Teilnehmen am Anderen, das Interesse, die warme Schale, die sich zwischen ihnen bildet. Denn auch Parzival wird erlöst, von den Wunden, die er sich und anderen zugefügt hat. Die Verknüpfung des Schicksals zwischen Anfortas und Parzival findet in diesem Moment ihre Bestimmung und Erlösung.
So werden aus den Wunden Wunder. Und aus dem Schmerz die Kraft, die es den beiden ermöglicht, das eigene Schicksal – mit all den Fehlern die sie gemacht haben - anzunehmen. Wie ein geknüpfter Teppich, der die verschiedenen Lebenswege miteinander verbindet, stehen die einzelnen Figuren in einem großen Schicksalsnetzwerk. Schmerzen und Wunden sind Knotenpunkte im Geflecht des Lebens.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
vielen DNak für das Bild des sich löckernden Knotens durch das zulassen der Begegnung!
AntwortenLöschenWie vertraut!
Gruß
Michael
Liebe Sophie, danke schön! Freue mich über deine Beiträge. Jelle van der Meulen
AntwortenLöschen...dass das Leben zur Wunde wird. Ja, das kenne ich. - Ich arbeite mit einem jungen Mann zusammen, den man autitisch nennt. Er ist ganz Wunde. Jede Veränderung außen, schmerzt ihn innerlich. Indem ich ihn anschaue, kann ich seinen Schmerz, der der Schmerz der ganzen Welt ist, den ich von mir aus gar nicht wahrnehme, auch fühlen. Es wird mir klar, dass ich nicht der begnadete Heilpädagoge bin, der eine Schublade seiner verstaubten therapeutische Kommode öffnet und alles im Griff hat. Ich ahne, dass die Schale der Heilung sich nur bildet, wenn wir uns auf einer anderen, menschlichen Ebene begegnen und die erlösende Frage gestellt wird, ohne schon im Voraus die Antwort zu wissen.
AntwortenLöschenDanke für deine Beiträge. Kike.
Ja, Michael.
AntwortenLöschenDanke, Jelle.
Gerne, Kike.
Sophie