Schon fast mit einer etwas mitleidig klingenden Stimme fragte die Frisörin sie, ob sie denn über die Osterfeiertage in die Heimat fahren würde. Sie glaubte nicht richtig zu hören – in die Heimat? Immer wieder fiel sie durch ihre Sprache auf – man nennt es Hochdeutsch – und so überlegte sie verwirrt: in die Heimat, ja, fährt sie in ihre Heimat? Das Wort, fast ein Fremdwort in ihrem Sprachgebrauch, hatte wenig mit ihr zu tun.
Ihre Gedanken begannen sich zu bewegen. Was löst das Wort Heimat aus? Heimat kann sich auf einen Ort beziehen, auf die Sprache (besonders im Ausland, also auch in Süddeutschland…) und auf Menschen. Dort, wo man sich zu hause fühlt, da ist Heimat. Ist das so?
Eine ihrer Großmütter kam aus Estland – sie musste ihre Heimat verlassen - und die andere aus Böhmen – auch sie musste ihre Heimat verlassen. Beide gehörten zu den „Vertriebenen“ nach dem Krieg. Als Kind hat sie ihre Großmütter ganz selten einmal über die „verlorene Heimat“ sprechen hören. Immer war Wehmut dabei. Und Liebe. Und es war in beiden Fällen so, dass es ganz ausgeschlossen war, dass es möglich sein könnte in diese verlorene Heimat einmal wieder zurückzukehren. Heimat war unerreichbar. Und irgendwie vorbei. Fast wie aus einem anderen Leben. Aber gleichzeitig schien Heimat kostbar, wertvoll und wunderschön.
Von ihren Eltern kannte sie diesen Begriff nicht. Irgendwie kam der nicht vor. Wohnorte, Städte, ja sogar Länder waren variabel. In diesem Sinne gab es auch kein heimatliches Haus. In wie vielen Wohnungen hatte sie schon gelebt? Ein einziges gab es in ihrem Leben, in das sie immer wieder fahren konnte. Es war das Haus ihrer Tante – auf Sylt, direkt am Deich. Dort war sie über all die vielen bewegten Jahre immer wieder hingefahren. Schon als kleines Kind und auch als Erwachsene mit ihren eigenen Kindern, die nun wiederum auch schon erwachsen waren. Aber auch dieses Haus sollte jetzt verkauft werden. Nun ging also das einzige Haus, mit dem sie den Begriff „Heimat“ auch nur annähernd in Verbindung bringen konnte, auch noch verloren.
Die Frisörin hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihre Kundin etwas wortkarg war… Sie schnitt ihr die Haare, sprach über das Wetter, die Stadt und schaute ihr manchmal durch den Spiegel ins Gesicht. Die Kundin fühlte sich beobachtet. Ihr wurde es etwas unbehaglich zumute, denn sie verfolgte innerlich die Frage wo ihre Heimat sei und fühlte sich dabei beobachtet.
Was die einheimische Frisörin wohl über sie dachte?
Sie fühlte sich manchmal zu hause. Ja auch an Orten, die sich wohl nicht „Heimat“ nennen können. Sie konnte sich in sich selbst zu hause fühlen, ja und in Häusern, in Städten, in Gegenden, aber besonders in Momenten. In Situationen. Mit Menschen. In Menschen. Ja, daher kannte sie das Gefühl. Sich heimatlich, aufgehoben fühlen.
Und sie dachte weiter. Ihr kamen die verschiedenen Geistesströmungen in den Sinn. Für einen Aristoteliker, der seine Aufmerksamkeit mehr „auf die irdischen Dinge“ lenkt, müsste es doch einfach sein, „Heimat“ zu erleben. Heimat in Dingen. Das lässt sich doch organisieren, oder? Zum Beispiel in Gebäuden. Ein heimatliches Haus gibt Schutz. Und wie ist das dann für Platoniker? Ihre Aufmerksamkeit richtet sich primär auf das Geistige. Dann muss es auch eine geistige Heimat geben.
Die Frisörin erzählt plötzlich - als wenn sie die inneren Fragen der Kundin gehört hätte - dass sie „von hier“ käme. Schon immer. Sie lebe in ihrem Elternhaus. Schon immer. Und sie mag die Gegend. Schon immer. Das ist ihre Heimat. Die Heimat zu verlassen, das könne sie sich gar nicht vorstellen…. Ja, denkt die Kundin – so eine Frage kennt sie gar nicht. Die Heimat verlassen? Dazu muss es ja erst einmal Heimat geben….
Viele Menschen reisen, suchen „ihren Ort“ und fragen sich wo sie hingehören. Auch in Tätigkeiten kann man sich natürlich zu hause fühlen – oder eben auch gar nicht. Als sie aus dem Frisörgeschäft kommt fühlt sie sich fremd, sie ist verwirrt. Sie gehört dort nicht hin. Sie fällt auf. Nicht physisch, aber sprachlich. Sie ist „nicht zugehörig, heimatlos“.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Ja, was ist Heimat? Wo ist Heimat? Es scheint offensichtlich zu sein, dass es nicht mehr um etwas Pysisches geht, Heimat ist vielleicht nur noch im Ätherischen zu erleben.
AntwortenLöschenDanke!
Gruß! P.
In der Tat, die Wehmut der Nomaden. Eigentlich weiss aber auch die Frisörin nicht was Heimat ist, denn sie hat diese ja noch nie verlassen.
AntwortenLöschenVi