Sonntag, 3. Juli 2016

Noch immer. Aufgaben einer Kriegsenkelin


Bücher, Kopien, Unterlagen und Notizen liegen um mich herum und stapeln sich. Ich will Ordnung schaffen und die Themen sortieren und zunächst getrennt betrachten. Die Frage, an welchen Stellen sie sich berühren wird folgen. Ich will Wege, Motive und daraus entstandene Konsequenzen einzeln anschauen und versuchen zu verstehen. Wo sind Lücken, welche Fragen brennen auf Antwort, welche wollen gehütet und einbalsamiert werden?

Ich brauche ein Konzept, etwas, um mich daran festzuhalten. Es gibt einen Schnittpunkt, das weiß ich. Der Weg aus Böhmen und der Weg aus Estland treffen aufeinander. In der Mitte des letzten Jahrhunderts, an einer Universität, in Süddeutschland, in Gestalt der nächsten Generation. Das ist der Ausgangspunkt – Anfang, Ende, Umschlagmoment.

Generationen geben einander die Hand, sie gehen auseinander hervor – begleiten sich und verstehen einander selten. Gilt es doch Motive, Glaubenssätze, Wünsche und Hoffnungen sowie Vorsätze und Entschlüsse individuell umzusetzen und zu zeigen, dass sich die Welt weiterdreht, dass Entwicklung möglich und Freiheit nötig ist. Jede Generation hat eigene Gesetze, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Nichts ist, wie es einmal war, immer wieder muss das Rad neu erfunden werden. Soziokulturelle und politisch-globale Gegebenheiten aus der Vergangenheit wollen über menschliche Schicksale transformiert in die Zukunft implementiert werden – damit es besser wird.

Das sind theoretische Worte, Überlegungen und Hoffnungen, die sich darauf gründen einen Sinn zu finden, Stolpersteine als Heilmittel anzuerkennen. Immerhin ist ein Ergebnis der Kreuzung die nachfolgende Generation – neues Glück, es geht weiter. Es handelt sich in letzter Instanz um meine eigene Geschichte, als Teil einer großen Erzählung, die die Menschen sich auf der Erde zusammenreimen und weitererzählen, im großen Netz der mitmenschlichen Anteilnahme. Was habe ich, um Gottes Willen, mit dieser Vergangenheit zu tun – reicht es nicht, wenn ich nach vorne schaue und meine Ideen der Zukunft zur Verfügung stelle?

Es ist mehr als zehn Jahre her, seit ich das erste Buch über Kriegskinder gelesen habe. Ich wusste sofort, dass ich damit etwas zu tun habe. Mittlerweile ist das Thema gesellschaftlich angekommen. Bücher türmen sich in Schaufensterauslagen. Die Fragen richten sich nicht mehr nur noch auf die Folgen einer Kriegskindheit, sondern auch auf die Auswirkungen auf die nachfolgende Friedensgeneration, die Kriegsenkel. Obgleich das Thema des Dritten Reiches, mit seiner Naziideologie und den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges, in Deutschland auf akademischer Ebene vorbildlich aufgearbeitet wurde, bleibt die Frage, was davon im Leben eines jeden Einzelnen zu finden ist.

Was ist aus den traumatischen Erlebnissen unserer Großeltern geworden? Welche Auswirkungen hatten Bombennächte, die Flucht, herannahende feindliche Soldatentrupps, der Verlust von Besitz und Heimat, Verwandten und Freunden? Gesellschaftlich war politisch und ideologisch ab 1945 eine Neuorientierung nötig. Werte änderten sich über Nacht. Was war richtig, was falsch? Welche Folgen hat eine Kindheit im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland? Welche persönlichen Grundmuster entstehen? Was haben die Kinder des Friedens mit dem Krieg ihrer Vorväter zu tun? Und, hat auch noch die nachfolgende Generation daran zu leiden?

Mehr, als jemals zu befürchten war.

Das Thema liegt offen auf dem Tisch, die Fragen sind allesamt bekannt. Die Auseinandersetzung damit und die möglichen Antworten muss sich jedoch jeder selber erarbeiten. Und das ist leichter gesagt als getan. Da gibt es keine gesellschaftliche Generalamnesie. Jede Verknüpfung, jede Geschichte ist einzigartig, individuell und mit den unglaublichsten und schillerndsten Aspekten gespickt, so dass die Brille, durch die die Entwicklung eines Menschen angesehen wird, diejenige des Namens des Individuums ist. Die Welt dreht sich, alles ist einer ständigen Veränderung unterlegen, aber der Name des Einzelnen bleibt. In ihm offenbart sich die Kreuzung zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlicher Ordnung, ein Name steht für Persönlichkeit – und die will errungen werden.

Bekannt ist der Wunsch nach einer heilen Welt in der Kriegskinder-Generation. Anknüpfen an die Erinnerung der zerstörten Heimat, neu anfangen, fleißig sein, aufbauen, so tun, als ob nichts wäre – die zerstörten Jahre einfach überspringen. Was aber liegt dem Motiv der Kriegskinder zu Grunde, die akzeptierten, dass die Welt kaputt ist? Dass Gott tot ist, dass Werte und Normen endgültig überholt sind und nur im erneuten Klassenkampf die Revolution der gesellschaftlichen Neuordnung zu suchen ist?

Kinder, die in diese Familien hineingeboren wurden, Kriegsenkel mit 68er Eltern, wuchsen auf einem explosiven Trümmerfeld auf, das keinen Schutzraum einer heilen Welt besaß und auf dem für keinen Großvater Platz war, Rosen in seinem Garten zu pflegen.

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