Donnerstag, 26. Mai 2016

Stumme Zeugen. Das Haus an der Schwarzen Desse


Du hast geschwiegen. Zwei Fotos hinter Glas hingen in deinem Wohnzimmer. Vielleicht war es auch im Schlafzimmer. Auf einem der Schwarz-weiß-Bilder war das Portrait eines ernsten, schmalen Mannes zu sehen. Sein Blick ist mir in Erinnerung geblieben. Traurig, sanft, bescheiden und voller innerer Klarheit. Auf dem anderen Bild sind zwei Kindergesichter zu sehen. Die beiden nebeneinanderstehenden Jungs tragen weiße Hemden, zu sehen sind auch die verzierten, ledernen Hosenträger. Auch sie blicken ernst in die Kamera.

Die Bilder markieren den Bruch des Vorher und Nachher. Sie zeugen von der Vergangenheit. Von etwas, das ganz anders als unsere gemeinsame Gegenwart gewesen ist, in der deine Aufmerksamkeit und Hinwendung gänzlich dem gewidmet war, was sich im Hier und Jetzt ergreifen ließ. Aber die beiden Bilder kamen aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, ja, aus einer Welt, die so gar nichts mehr mit der zu tun hatte, in die wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworfen waren. Sie spiegeln den Abgrund zwischen den Zeiten wider – der sich vor meiner Geburt vollzog.

Wie kann es sein, dass eure Geschichte kein Thema für uns war, warum hast du nichts erzählt? „Willy“. Ja, ich erinnere mich, mit welch klangloser Stimme du diesen Namen ausgesprochen hast. Ich wusste, dass der ernst blickende Mann an der Wand Willy war, dein Mann. Der Vater deiner Söhne. Aber ich kannte ihn nicht. Er war längst verschwunden, weg, tot. Er tauchte bei uns nicht auf, in meinem Leben gab es ihn nicht, es gab nur dich und den fremden Mann auf dem Foto. Willy war ein Unbekannter, der von der Wand ins Zimmer sah – und schwieg. Ist er auch für dich ein unnahbarer Mann geworden, hattest du nicht die Kraft, ihn über die Grenze zu tragen – oder hat er das nicht zugelassen?

Ihr wart bereits 15 Jahre verheiratet, bevor die Kinder kamen und lebtet in dem Haus an der Schwarzen Desse. Die Kinder wurden in die Naziherrschaft hereingeboren, der Anschluss an das Deutsche Reich war bereits vollzogen. Was hat das alles bedeutet? Du warst nicht mehr jung, nein, eine Spätgebärende – und die Zeit war rau und neu und hart und zukunftsorientiert. Aber für Deutsche sah es zunächst so aus, als hätte das Schicksal euch begünstigt. Hattet ihr diese Hoffnung? Gefahr lag in der Luft, dass es zur Katastrophe kommen würde, versuchtet ihr euch auszureden - vielleicht. Es hieß durchhalten, zwischen den Fronten. Dein Standpunkt ist mir nicht klar. Überlebt haben die Katastrophe nur du und die Söhne.

Den ersten Bruch mit dem Land, in dem ihr lebtet hat er mitgemacht. Ja, er war der Regisseur hinter den Kulissen und hat dafür gesorgt, dass ihr in Sicherheit kommt – so wurde mir erzählt. Er selber musste sich damals zunächst verstecken, wurde aber dann gefasst und schließlich tauchte er, Jahre später, kaum widerzuerkennen, bei euch auf. Dann hieß es Geld verdienen. Die Hoffnung auf ein erneutes gemeinsames Leben schwand nicht, sondern gab euch Kraft die Durststrecke auszuhalten. Aber der Tod war schneller. Willy verschwand für immer.

Den zweiten Bruch hat er nicht mehr erlebt. Es hieß noch einmal alles hinter euch zu lassen, der Zukunft entgegen ins Neue, Unbekannte zu fliehen, die Vergangenheit in den tiefen Schlund des Vergessens zu katapultieren. Und wieder: nach vorne schauen, von vorne beginnen. Um euer Leben ging es, das Foto war dabei, die Urne wurde umgebettet – alles andere war unwichtig.

In der Zeit, die wir zusammen hatten, hast du kaum etwas erzählt und ich habe nicht gefragt. Jetzt schaue ich auf die Fotos und öffne Google-Maps. Euer Haus kann ich mir digital ansehen, es steht noch immer – zwischen Fluss und Bahnhof, neben dem einstigen Elektrizitätswerk. Seine alte Pracht ist noch sichtbar, obwohl es total heruntergekommen ist, ein verlebtes, schweigendes Haus. Es zeigt den Riß in der Zeit, die Brutalität der Geschichte. Es war einmal…

Was aber genau war, dass weiß ich nicht. Die Fotos, damals in deiner westdeutschen Wohnung, das Haus auf Google-Maps heute, die Erinnerung an dich und die schmale Faktenlage ist alles, was ich habe. Welche Geheimnisse verbergen sich? War es nicht richtig, was ihr tatet? Was ihr hattet? Was ihr wolltet – in den politisch extremen Zeiten? Es kann nicht sein, dass es über Zweidrittel deines Lebens kaum etwas zu sagen gibt. Die Versatzstücke suchen Verbindung, die Leerstellen Inhalt, die stummen Bilder suchen Worte.

Die Schwarze Desse fließt noch immer an dem Haus vorbei, in dem die Fotos gemacht wurden, alte Bäume säumen das Gelände, sie sind Zeugen des Vergangenen – aber auch sie sprechen eine Sprache, die mir nur rudimentär geläufig ist. Ein eisernes Schweigen liegt über der Zeit, in der sich Geschichten verbergen, die nicht erzählt wurden, Schicksale von Menschen, die unbekannt geblieben sind.

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