Montag, 13. Oktober 2014

Berühren und berührt werden. Zu Hartmut Rosa: "Zwischen Resonanz und Entfremdung. Was kann heute Heimat sein?"


Zwischen erwartungsvoller Stille und angeregten Unterhaltungen füllt sich der Saal im Bonndorfer Schloss. Als nahezu alle Plätze belegt sind schließt sich die Tür. Die beiden Herren, die das Gespräch auf der Bühne führen werden, gehen nach vorne - einer auf der linken Seite und einer auf der rechten Seite. Kulturreferent Jürgen Glocker stellt den Gast vor: Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena und in unmittelbarer Nachbarschaft in Grafenhausen lebend, wird seine Resonanzthese zur Frage nach Heimat präsentieren.

Es ist still im Saal. Das Publikum richtet seine Aufmerksamkeit nach vorne. Und plötzlich beginnt Hartmut Rosa zu sprechen. Er antwortet auf die Fragen, die ihm gestellt werden. In einer ungeheuren Schnelligkeit und Wendigkeit ist er der deutschen Sprache mächtig. Seine Worte sprudeln wie ein Wasserfall - klar und deutlich, prägnant gewählt und messerscharf formuliert. Hier weiß jemand, wie virtuos Sprache sein kann. Die Atmosphäre im Saal ist gleichsam still und erregt, schnell und gemessen und vor allem von einer ungeheuren Intensität erfüllt - sie resoniert.

Was kann uns heute Heimat sein? Wie wollen wir leben? Hartmut Rosa eröffnet seine These mit einem interessanten Gedanken, er fragt, ob wir mit der Dingwelt um uns herum verbunden sind, ob die Dinge zu uns sprechen. Gibt es eine erlebbare Verbindung zwischen mir und den mich umgebenden Dingen? Nehme ich wahr, was um mich herum steht, liegt, sich bewegt? Natur, Kultur, Technik und Wirtschaft - alles ruft nach Beziehung. Die menschliche Aufmerksamkeit als Achse zwischen Welt und Individuum. Heimat entsteht dort, wo Beziehung gelebt wird.

So definiert Rosa seinen Heimatbegriff als ein Prozessgeschehen zwischen Individuum und Welt. Heimat ist der Weltausschnitt, zu dem wir eine Beziehung haben, mit dem wir uns in einem gemeinsamen Kontext befinden, wo die Dinge mir etwas sagen, wo Gegenstände zu mir sprechen, wo sich Bedeutung konstituiert. Die Sehnsucht nach Heimat ist das Bedürfnis nach Antwort, nach einem Ort oder Platz in der Welt, der mit mir spricht, der mir antwortet.

Hartmut Rosa weist auf eine doppelseitige Berührung hin, eine lebendige Verbindung zwischen Subjekt und Objekt. Er lädt dazu ein die Welt hervorzubringen und den Weltausschnitt zu einem heimatlichen avancieren zu lassen, der zu mir passt, der in mir resoniert. Es geht ihm um eine Resonanzbeziehung, um Anverwandlungsprozesse und die Frage, ob ich die (stummen) Dinge (wieder) zum Sprechen bringen kann (wie die Kinder).

Im Zeitalter der digitalen Welt-Verfügbarkeit (einer Kultur des gesenkten Blicks) geht es ihm darum, die Welt in Reichweite zu halten oder zu bringen, sich innerhalb einer Steigerungsgesellschaft einen Weltausschnitt anzueignen - Orte zu reklamieren, deren Sprache ich verstehe. Rosa geht es um eine resonante Weltbeziehung des Menschen im 21. Jahrhundert, der durch ein postmodernes Nomadentum und ständige Erreichbarkeit geprägt ist.

Wenn die digitale Ortlosigkeit die Verfügbarkeit der Welt schweigen und erstarren lässt, wird der Mensch heimatlos und leer. Der moderne Zeitgenosse, so Rosa, ist getrieben vom Verlangen nach Resonanz. Wenn der Mensch eine Beziehung nicht nur zu Menschen sondern auch zu Dingen aufbaut, entsteht "Augenkontakt", der die Interaktion zwischen Individuum und Welt lebendig werden lässt. Von Nöten ist die körperliche Anwesenheit, damit das Resonanzgeschehen (berühren und berührt werden) zur leiblichen Erfahrung wird.

Fast zwei Stunden reden die beiden Herren miteinander, den Schlussakkord bereichern Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum - ein intensiver Abend mit kristallklaren Gedanken und warmen erkenntniserweiternden Blickwinkeln geht zu Ende. Die Veranstaltung in Bonndorf hat etwas in meine Reichweite gebracht, das mich auf das aufmerksam macht, was zu mir spricht. Heimat als interaktives und sich wandelndes Resonanzgeschehen, ein neuer Blick, der in die Zukunft reicht.

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