Als sie aus dem Flugzeug stieg, war der Sommer vorbei. Irgendetwas in ihrer Tasche, die sie über ihre Schulter geschwungen hatte, drückte gegen ihre Seite. Wie immer hatte sie Bücher im Schlepptau, vermutlich hatte sich eins quergelegt. Es war eng in diesem Gang und die kühle Luft aus der Klimaanlage wand sich ihre nackten Waden hinauf. Die Frau vor ihr benutzte ein strenges Parfüm und nestelte an ihrer Bluse herum, die Kontrolle der Pässe dauerte ungewöhnlich lang. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und fror. Ungebührliches Warten war nicht ihre Stärke.
Als sie endlich an der Espressobar stand, ein Doppio kostete hier vierachtzig, sah sie das Paar des gestrigen Abends wieder - zwei selbstvergessene Männer, deren Innenwelt augenscheinlich nicht mit der äußeren kongruent war - die beiden redeten weiterhin aufeinander ein, als gäbe es zur Belohnung ein Eis am Stiel. Geht dem Schreiben das Reden voraus? Die Frage des Schreibens war an das Vorhandensein einer Leserschaft geknüpft. Texte ohne Leser sind graue Schattengestalten, die sich mit billigem Mineralwasser zufrieden geben, an statt Champagner zu fordern.
Sie hatte nicht bemerkt, dass die beiden Männer offensichtlich in ihrem Flugzeug gesessen haben mussten. Oder gab es innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehrere Flüge mit dem gleichen Ziel? Etwas verschränkte sich in ihr, obgleich der gestrige Abend in einem komplett anderen Kontext gestanden hatte. Fremde Räume verschoben sich mit Zeiten, die nicht ineinander griffen. Messerscharf galoppierte die Frage auf sie zu: Wovon hängt das Reden ab?
Die junge Frau neben ihr schwieg beredet in sich hinein. Augenscheinlich war, dass sie in ein innerliches Gespräch verwickelt war, das mitunter von langen traurigen Pausen durchzogen war - ihre Augen glänzten, aber es war noch keine Träne zu sehen. Was war geschehen? Die Kellnerin hingegen tanzte von einem Gast zum nächsten und verteilte fröhliche Floskeln, wünschte gute Flüge, schöne Ferien - sie schien eine Schatztruhe mit sonnigen Sehnsüchten zu besitzen, aus denen sie freizügig verteilte. Das ganze Leben ein Dialog? Sie musste an Buber denken. Das Ich im Du, nein, das Ich durch das Du.
Erst einmal musste sie die Tatsache verwinden, dass der Sommer verschwunden war, bevor sie sich dem Abhängigkeitsgrad von Schreiben, Leben und Reden ergeben konnte. Ohne Abschiedsgruß war der Sommer von der Bildfläche verschwunden, sie musste es hinnehmen - auch wenn sich ihrem Herzen eine Klage entwand, die mit dem lauen Titel "Sommer ohne Abschied" locker einen Roman ergeben hätte, in dem Vorwurf an Vorwurf gereiht werden könnte. Nein. Sie wollte Tacheles reden - brachte aber nicht ein Wort hervor, da sich keine linearen Gedanken präsentierten .
Sie schrak aus ihren verworrenen Tagträumen, als sie ihren Namen über den Lautsprecher hörte. Last call. Da redete jemand - während sie träumte. Sie musste zu Gate 18. Sofort. Wenn sie noch ins Flugzeug wollte. Keine Frage war beantwortet. Was war mit den Männern, mit der jungen traurigen Frau, der ständig lächelnden Kellnerin? Sie wusste nichts - hatte nicht gefragt, keine Geschichte hatte sich etabliert . Und deshalb war auch kein Wort niedergeschrieben worden. Die Leser würden also kein Futter bekommen, sondern nur eine leere weiße Seite, wenn sie nicht...
Die Zeit zwischen den Flugzeugen war definitiv um. Landen und abfliegen gehörten hier zum guten Ton. Sie erschrak ob der Alltagsroutine, der sie sich nicht gewappnet fühlte. Irgendetwas funktionierte aber in ihr, so dass sie gerade noch rechtzeitig ans Gate kam und durch den menschenleeren Flur laufen konnte. Im Flugzeug klappte sie ihren Laptop auf und begann mit der Geschichte. Sie schrieb: Als sie aus dem Flugzeug stieg, war der Sommer vorbei...
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