Sonntag, 9. März 2014

Biographien schreiben und lesen (IV): Zum Selbstverständnis eines "Zentrums des Erlebens"


Der Mensch, als handelndes Subjekt, als „Zentrum des Erlebens“ (Peter Bieri) lebt zwischen Raum und Zeit von seiner Geburt bis zu seinem Tod auf der Erde. Er gestaltet seine Biographie und schreibt dadurch das Leben in sich, seine Umgebung und die Erde ein. Bios bedeutet Leben, Graphie bedeutet Schreiben. Aber was schreibt sich ein, um welche Ereignisse geht es, was ist es, was den Lebenslauf eines Menschen zu einer individuellen Biographie macht und wie lassen sich Lebensgeschichten lesen?

Jeder Mensch lebt in dem Spannungsfeld zwischen eigenen Motiven die er mitbringt, die sich in ihm entwickeln, denen er nachstrebt und seiner sozialen Umwelt, die durch Normen, Werte, Gepflogenheiten oder Gesetze bestimmt ist. Individuum und Welt passen nicht immer zusammen, gehen aber als Prozessgeschehen auseinander hervor (Ursula Stenger), denn sie sind beide Teil voneinander und bedingen sich gegenseitig.

Pico della Mirandola, Dichter und Philosoph in der Renaissance in Florenz, schrieb im Vorwort seiner Schrift „Über die Würde des Menschen“: Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünscht. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, dich in die höhere Welt des Göttlichen durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.[1]

…wie ein Bildhauer und Dichter… Der Mensch, als ein seelisches Wesen, das mit Gefühlen und eigenen Motiven ausgestattet ist, steht zwischen Materie und Geist und darf, ja muss gestalten, wenn er nicht zu einer Marionette des Gesellschaftssystems werden möchte. Wie ein Bildhauer, der in dem unbehauenen Stein die Skulptur erblickt und sie hervorholt und/oder wie ein Dichter, der mit Worten sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges entstehen lassen kann, Wahres und Erdachtes, Gutes und Böses, der mit seinen Worten trennen und verbinden kann.

Alles, was äußerlich geschieht, hat eine innere Entsprechung, kann zum Lebensereignis erhoben werden und die Möglichkeit zur Entwicklung bergen. Wenn der seelische Schnittpunkt zwischen Geist und Materie und zwischen mir und dem Anderen als Quelle und Ziel zugleich verstanden wird, wird die Biographie zu einem selbsterschaffenen Kunstwerk (Foucault), dass das Individuum gestaltet und das dadurch eine Bedeutung erlangt, dass Mitmenschen es lesen dürfen.

Da der Mensch nicht allein existieren muss, sondern in einem polyphonen sozialen Gefüge lebt, Teil eines menschlichen Miteinanders ist, das auch von Nähe und Distanz geprägt ist, hat er es mit Anregungen und Herausforderungen seiner Mitmenschen und seiner Umwelt zu tun. Die eigene Motivgeschichte verschränkt sich mit der anderer, durch Hinwendung zum Gegenüber. Leben bedeutet, sich in einem ergebnisoffenen Prozess zwischen Schreiben (des eigenen Lebens) und Lesen (der Motive meiner Mitmenschen) zu bewegen.

[1] Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Leipzig: Pantheon Akademische Verlagsanstalt 1940, Seite 50.

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