Sonntag, 2. März 2014

Biographien schreiben und lesen (III): Über die Bedeutung von Gefühlen


Im Schnittpunkt des Jetzt – zwischen Vergangenem und Zukünftigen – ist die Ausprägung des Gefühls ein wichtiges Signal für mein Denken und Handeln. Weder kann ich in einem Moment wenn etwas geschieht – ich lese die Zeitung, stehe an einer Straßenkreuzung, befinde mich in einer Konferenz – das Geschehen (analytisch) durchdenken noch die Konsequenzen aus einer folgenden Handlung überblicken. Ich verlasse mich auf mein Gefühl, denn es ist eine unmittelbare Reaktion auf das, was ich erlebe: Gehe ich weiter oder bleibe ich stehen, frage ich nach oder schweige ich, sage ich innerlich ja oder nein…

Während mein Denken prinzipiell indoktrinierbar ist und mein Handeln nach bestimmten Normen und Werten vorgegeben oder gemaßregelt sein kann, sind innere und damit sehr persönliche Gefühlsreaktionen im Allgemeinen nicht korrumpierbar. Was aber bestechlich ist, ist die Deutung meiner Gefühle, die Bewertung und Beurteilung. In welchem Kontext „erlaube“ ich mir das Gefühl des traurig Seins anzunehmen, mich einsam zu fühlen, mich zu freuen, Glück oder Zufriedenheit zuzulassen?

Gefühle gehören, gesellschaftlich gesehen, in die intime Privatsphäre eines Menschen (Angst, Ärger, Humor, Mitleid, Liebe u.a.m.). Selten werden Gefühle als Argumente anerkannt – im beruflichen, professionellen Kontext haben Menschen sich an Leitbilder, Richtlinien, Gebote und Verbote zu halten und ihr eigenes Gefühlsempfinden „außen vor zu lassen“.

Nicht zuletzt gehört Deutschland zu den Ländern mit den meisten Bestimmungen und Erlassen, Vorgaben und Gesetzen. Auf fast jede mögliche Situation hat sich der Staat vorbereitet. In diesem Falle passiert dieses und in jenem jenes. Nicht zuletzt ist das die Begründung für die Legitimierung unserer Rechtsstaatlichkeit. Was in die Vorgaben eingebaut ist, ist ein gewisser Ermessensspielraum, in dem die Beteiligten u.U. ihrem Gewissen folgend (relativ) frei bzw. individuell handeln können.

Das Gewissen befindet sich in unmittelbarer Nähe des Gefühls. Während Gefühle kurzfristig auftreten und auch schnell wieder verschwinden können, handelt es sich beim Gewissen eher um eine längerfristige innere Ausrichtung eines Menschen. Gefühle können unmittelbar erlebbar werden, die leise Stimme des Gewissens hingegen ist eine innere, mitunter delikate Angelegenheit die unter Umständen nicht nach außen dringt.

Aber gerade diese innere Stimme ist es, die unseren Gefühlen den Weg weist und damit ethische, moralische und intuitive Gründe dieses und nicht jenes zu tun legitimiert. Gefühle sind wichtige Signale, die sich mit dem Denken und Handeln verschränken können – aber nicht müssen. Für unsere eigene Integrität, unser Selbstverständnis, kurz unsere Identität ist es aber von Nöten, dass unserem Gefühlserleben ein angemessener Raum innerhalb unseres Selbst zugesprochen wird.

Gefühle sind prinzipiell immer „richtig“ – welche Bedeutung wir ihnen aber beimessen ist uns selbst überlassen: sie können uns im Weg stehen (ich habe keine Lust), uns auf etwas aufmerksam machen (da gibt es etwas, das ich fast übersehen hätte), uns leiten (ich werde mal in diese Richtung weiter suchen) oder uns warnen (es könnte Gefahr drohen). Ein Gespür oder eine Ahnung führt uns selten in die Irre. Darum ist es so wichtig, das eigene Gefühlsleben differenziert wahrzunehmen und einen warmen Umgang mit ihm zu pflegen.

Zeitgemäß wichtig scheint mir, in unserem Bildungssystem und dem gesellschaftlich-kulturellen Auf und Nieder dafür Sorge zu tragen, dass die Kunst (ganz allgemein) in jeglicher Hinsicht sichtbar und erlebbar ist und sich zutraut, unsere Gefühle anzusprechen. Wir hingegen müssen uns darin üben, neben dem Denken und dem Handeln, auch dem Fühlen einen adäquaten Raum zur Verfügung zu stellen, in dem (gewissenhaft) getanzt werden darf.

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