Sonntag, 19. Januar 2014

Zum Berliner Journal von Max Frisch. Immer wieder Gegenwart


Zwei Mal setze ich mich hin und lese jeweils die Hälfte, eine Nacht liegt dazwischen, dann bin ich durch. Es war „Zufall“ – eines jener unerwarteten Ereignisse, einfach so. Auf den Zug wartend schlenderte ich durch die Bahnhofsbuchhandlung – nichts suchend, schon gar nichts erwartend, am ehesten: die Zeit ver-lesend. Und da lag es, auf dem Tresen, das blaue auffallende Buch – in genau dem Blau, in dem die Straßenbahnen in Zürich durch die Stadt fahren. Ein neuer Max Frisch. Wie konnte das sein, ich kannte doch alles und er war seit vielen Jahren tot.

Tatsächlich, ein „neuer“ Max Frisch. Richtig, da war etwas angekündigt worden. Zwanzig Jahre lag das Manuskript nach seinem Tod im Tresor. Und nun wurde es veröffentlicht, ein weiteres Tagebuch: „Aus dem Berliner Journal“. Wie immer, im Suhrkamp Verlag. Und da ist er wieder, der alte Frisch. Unverwechselbar. Seine Worte klar, präzise und deutlich. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft. Bei Max Frisch gibt es nur eins: die Gegenwart.

Hie und da ein winziger Ast, der in Vergangenes oder Kommendes ragt, aber die Krone seiner geschriebenen Worte ist das Jetzt. Ein Jetzt, das mich nicht, vierzig Jahre später, in die Vergangenheit verschleppt, Anfang der siebziger Jahre, Berlin, sondern mich in den damals gesetzten Worten landen lässt, jetzt, zeitlich und örtlich. Ich lese und habe das Gefühl, dass all das, was Frisch beschreibt gerade passiert, als gäbe es nichts anderes als die siebziger Jahre, gerade jetzt, ich sitze mitten drin.

Fast ist es, als könnte ich die Luft jener Tage wieder riechen – ein bisschen grau und farblos war alles, irgendwie lauwarm. Einiges bahnte sich am Horizont an, politisch brodelte es, doch der Alltagsbürger hatte mit seinem privaten Leben zu tun, in den schwarz-weißen 20-Uhr-Nachrichten gab es immer wieder erstaunt wahrzunehmen, was an anderen Orten passierte. Von Handys und Computern in der Welt des Bürgers keine Spur. Die Welt war streng geteilt, in Ost und West, und die Vermittlungsversuche noch nicht reif genug, um sich unter das Brandenburger Tor zu trauen.

Max Frisch, der Bürger aus der Schweiz, hatte, abgesehen von seiner Vaterstadt Zürich, einige Jahre in Rom gelebt, war immer wieder in New York gewesen und hatte bereits viele Reisen hinter sich. Er beschloss mit der neuen Ehefrau, Marianne Oellers, die Beziehung zu Ingeborg Bachmann war der Jüngeren zu Liebe getrennt worden, ins geteilte Berlin zu gehen – mit seiner Schreibmaschine. Sein Tagebuch beginnt am Tag des Einzugs in die dortige Wohnung. Gerade die Grenze war es, die der Mann und Schriftsteller suchte, das Hüben und das Drüben, und so scheute er sich nicht, den Kontakt zu Kollegen jenseits der Grenze zu suchen, mit ihnen zu diskutieren, gemeinsam deutsche Literatur zu schreiben – immer wieder über die Grenze zu gehen.

Es sind Alltagsbeobachtungen. Bemerkungen. Einfache Sätze. Max Frisch bietet mir als Leserin an mit dem Erzähler mit zu gehen, dabei zu sein, obgleich jede Begebenheit verknappt dargestellt wird. Kein unnötiger Satz, kein Umraum, keine Her- oder Ableitung. Es handelt sich nicht um Visionen oder Diskurse, keine epische Breite, an der Max Frisch den Leser teilnehmen lässt, sondern nur das gegenwärtige Erleben, glasklar, ohne Schnörkel – eben realistisch.

Max Frisch liefert nüchterne Beschreibungen ab, aber auch delikate Anmerkungen über den Ich-Erzähler, der heftig dazu einlädt, in ihm Max Frisch selbst zu sehen, zu hören, ja zu riechen und zu erleben. Es gibt Seiten in der neuen Publikation, die nur ein Satz ziert. Und das wirkt. Sprache, wie in Stein gemeißelt. Luftig, fragend und doch standhaft.

Max Frisch ist kein Träumer sondern ein sanftmütiger Realist. Gerade die Unbeholfenheit des Ich-Erzählers macht ihn so liebenswert, die scharfe Analyse und Beschreibung der Kollegen so deutlich, die Inszenierung des Protagonisten in der halb eingerichteten Wohnung so menschlich. Viele der im Journal niedergeschriebenen Sätze beschreiben das Verhältnis zwischen Individuum und Welt, die fragende, suchende Haltung eines Mitmenschen jener Jahre, der das Leben versucht über das Schreiben zu bewältigen.

Warum das Journal zwanzig Jahre im Tresor liegen musste ist mir nicht klar geworden – weder wartet der Text mit geheimnisvollen Enthüllungen auf noch mit spektakulären Szenen. Ein Frisch-Text, wie ich ihn kenne und mag. Lediglich die Beschreibungen der Literatur-Kollegen könnten es sein, die Takt verlangen, denn schließlich gilt auch hier: das Miteinander reden zählt mehr, als das Übereinander schreiben. Gerne hätte ich mit Max Frisch einmal einen Kaffee getrunken – seine Beschreibungen beleben mich so, dass in mir Fragen entstehen, die mich weiterführen.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Suhrkamp Verlag, Berlin, Januar 2014.

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