Sonntag, 5. Mai 2013

Von Schätzen in der Tasche. Koffer, Steine und das Leben


Ich nehme an, dass ich etwa in der dritten Klasse, also acht oder neun Jahre alt war. Zum Kunstunterricht mussten wir in die Grundschule einen großen Zeichenblock, A2, und Stifte mitbringen. Meine Mutter hatte mir extra dafür eine Tasche genäht, sie war aus einem festen Tuchstoff, rot-weiß gestreift und hatte oben an der Längsseite einen langen Reißverschluss. Mein Schulweg führte mich etwa zwanzig Minuten durch eine Betonlandschaft. Meistens liefen wir zu mehreren, wir wohnten ja alle in der gleichen Siedlung.

Eines Tages war meine Tasche besonders schwer. Ich mühte mich mit dem Tragen auf meinem Weg ab. Erst in der Schule schaute ich hinein und entdeckte zu meinem Erstaunen, dass ich einen großen, schweren Flussstein mitgenommen hatte. Er wog sicher zwei oder sogar drei Kilo. Da es ein Stein war, der normalerweise in unserem Wohnzimmer lag, trug ich ihn nach der Schule wieder zurück nach Hause. Er war richtig schwer und der Weg weit. Ich war wütend und verzweifelt, dass ihn mir jemand in die Tasche gesteckt hatte und ich so schwer zu tragen hatte. Das Gute daran war aber, dass ich ihn dann einfach wieder auspacken konnte.

Das ist im Leben nicht immer so. Heute bin ich es zwar gewohnt ständig meine Koffer und Taschen ein- und auszupacken, denn ich reise viel. Aber immer wieder frage ich mich, was ich überhaupt brauche, ob ich an alles gedacht habe oder ob ich gar ohne Gepäck reisen könnte. Manchmal habe ich das Gefühl, viel zu brauchen. Es könnte dies passieren oder jenes, ich könnte in diese oder jene Situation kommen, dieses Ding wäre vielleicht noch hilfreich oder jenes… Manchmal brauche ich wenig und manchmal verliere ich komplett den Überblick darüber, was eigentlich alles in meinem Koffer steckt.

Im übertragenen Sinne geht es dabei vielleicht nicht um Socken, Regenschirme oder das richtige Haarwaschmittel, sondern um steinige oder federleichte Erlebnisse und Erinnerungen, Menschen, die uns goldwert sind, intime Räume oder Worte die wir mit uns herum tragen, Wünsche, Vorsätze oder Entschlüsse, schlicht all das, was unser inneres Leben ausmacht. All die materiellen und immateriellen Dinge, die wir so herumschleppen (und die uns ja auch bereichern!), begleiten unser Leben. Im Laufe der Jahre hat sich da eine ganze Menge angesammelt.

An das Erlebnis in meiner Kindheit muss ich immer wieder denken, wenn mir mein Lebensrucksack, den ich auf meinem Weg durch den Alltag trage, zu schwer wird. Was habe ich eigentlich alles in meiner Tasche? Was trage ich alles mit mir herum? Fragen, Ängste, Sorgen? Vielleicht wieder irgendeinen Stein, den ich gar nicht brauche oder zumindest nicht weiß, wozu ich ihn brauchen könnte? Muss ich das alles dabeihaben? Und weiß ich überhaupt, was ich da alles ständig mit mir herum schleppe, was sich in den Tiefen meiner Taschen versteckt hat?

Manchmal greife ich mit meiner Hand in die Tasche, ohne das mein Blick folgen kann. Und ich taste nach etwas, was ich suche. Von dem ich denke, dass es doch da sein müsse. Und ich erwische etwas, was ich längst vergessen hatte. Neben alter Schokolade kann das auch ein Gedicht oder ein Gedanke sein, der da neben anderen lebensdienlichen Utensilien in den Tiefen meiner Tasche wartet, bis seine Zeit gekommen ist. Besonders überraschend kann es sein, wenn ich jemand anderen bitte, etwas aus meiner Tasche zu holen… und wir gemeinsam beginnen, mein ganz persönliches Panoptikum anzuschauen und darin zu lesen.

Als Kinder haben wir es ja schon geübt, möglichst viel mitzunehmen und das Bewusstsein darüber zu behalten… Wer kennt nicht das Spiel: „Ich packe in meinen Koffer…“ alles, was die Mitspieler imaginär hineingetan haben, muss erinnert und aufgezählt werden, in der richtigen Reihenfolge… Ich war darin nie gut. Denn ich konnte mir die verrückten Sachen nicht merken, die so völlig bezugslos eingepackt wurden. Zahnbürsten, Melkschemel, Matchboxautos oder eben Pflastersteine…

Vielleicht könnte ich mal wieder in meine Tasche schauen. Und es wagen, sie auf dem Tisch meines Lebens auszuleeren, um mit vertrauten Menschen darauf zu schauen. Möglicherweise lassen sich ja auch vergessene Schätze darin finden…

1 Kommentar:

  1. Ja, wie vielen Schätzen hat man dass man nicht ahnt und die ungenützt bleiben. Ich habe angefangen jeden Tag, für einen kleinen Moment sie sichtbar zu machen bevor sie von sich selbst in meinen Rücksack sich verstecken. Was es möglich macht muss nicht unbedingt am gleichen Tag passieren aber was garantiert ist, ist das ich, für einen kleinen Augenblick dankbar werde.
    Josiane

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