Sonntag, 4. November 2012

Ein Jahr nach deinem Verschwinden in die Stille. Zwiesprache mit Angela Albeck-Henke


Angela, dein Todestag jährt sich. Und du bist still - weiterhin. Tage reihen sich an Nächte, Wochen entstehen, Monate vergehen, jetzt ist es ein Jahr her. Tote schweigen eigentlich immer – sagt man. Sie sind fern und doch nah, anwesend und abwesend zugleich. Das große Schweigen hat sich in mein Herz gesenkt. Die stille Welt sieht schweigend anders aus, ihr Klang ist fein, zart und sanft.

Du warst kein Mensch des öffentlichen Wortes. Hattest keine große Position. Die Welt spricht nicht von dir. Und doch: Du hast ein Schicksalsnetzwerk hinterlassen. Deine Nächsten. Und auch Menschen, die einander nicht kannten. Sich aber jetzt, nach deinem Tod, durch deinen Tod, einander zugewandt haben. Dieses Netzwerk pulsiert. Du stehst in der Mitte, wie in einem Spinnennetz.

Und jeder bringt sein Bild von dir mit, seine Vorstellung. Das Bild, das in seinem Herzen lebt. Da kommen viele Bilder zusammen. Statische Bilder. Keiner von uns kann dich ersetzen. Kann an deine Stelle treten. Kann wissen, was du gedacht, gesagt, getan hättest. Du bist weg. Und wir sind hier. Eingebunden in irdische Notwendigkeiten. Wir müssen essen, schlafen, es warm haben. Aber wir begegnen uns. Welten treffen dabei aufeinander.

Das Leben ist nach deinem Tod nicht einfach weitergegangen. Nein, sie kamen schleichend, aber sie kamen, die großen Umwälzungen. Dein Tod hat alles verändert. Fragen aufgeworfen. Grundlagen erschüttert. Die Welt musste neu gefügt werden. Noch immer suchen sich verschiedene Puzzleteile. Das Werk ist noch im Entstehen, im Werden, im Kommen. Es ist noch nicht vollbracht, auch in seiner irdischen Zeitlichkeit nicht.

Dein Tod hat Rollen geöffnet, vakant gemacht, zur Verfügung gestellt. Wer übernimmt was? Und warum? Und vor allem: wie? Peinliche Fragen zwischen Menschen, die einander nicht unbedingt gut kennen. Du bist die Bezugsperson. Die große Schweigende. Gewissensfragen werden wach. Und die Frage, wie dein Drama in das eigene Lebensdrama passt, bleibt manchmal unbeantwortet.

Wir hängen alle voneinander ab, gehen auseinander hervor, bilden ein großes Ganzes. Aber niemand von uns hat den Überblick, niemand steht außen, wir alle bilden den Innenraum. Jeder für sich und einige für andere. Schicksalsnetzwerke überschneiden sich, bilden Systeme und Subsysteme. Manche sind trocken und staubig, einige blühen über Jahre und Jahrhunderte. Menschen sind Wesen in der zeitlichen Begrenzung.

Aber die Absicht zählt, so sagt man. Der Wille trägt. Du bist uns weit voraus. Vom Vorgeburtlichen, übers Irdische, bis ins Nachtodliche. Vielleicht bist du deinen ungeborenen Enkeln nah… Alles das, woraus wir hier bestehen, aus Wünschen, Sehnsüchten, Absichten, hast du hinter dir gelassen. Du hast dich auf den Weg in die Zukunft gemacht, in die Geistigkeit, durch die wir unsterblich sind. Wir müssen handeln, du kannst erkennen.

Treffen, einander begegnen, können sich Lebende und Tote, Vergangenes und Zukünftiges, Einsicht und Tat nur im Jetzt, im Gefühl, im Seelischen. Die Mitte ist warm und groß, wo sich Himmel und Erde berühren, aber nicht durchschaubar, nicht planbar, sondern geheimnisvoll. Manchmal fühle ich dich nah und erlebe einen Auftrag, den ich kaum annehmen kann. Und manchmal bist du fern, so dass ich mich nach irdischen Gesetzmäßigkeiten richten muss.

Es gibt mehr Fragen als Antworten und das hält uns wach. Nichts ist deutlich, keine Routine entstanden, sondern offene unbegangene Wege liegen vor uns. Was bliebe von einem Rätsel, wenn es gelöst würde? Der Kern des Menschen bleibt ein unerkanntes Wunder mit dem wir leben. Mal schlecht, mal recht. Was bleibt sind die Spuren, die du hinterlassen hast und denen wir nachspüren. Tag für Tag und Nacht für Nacht, solange wir da sind, herzlich leben. Unser Blick braucht die Weite, über Vergangenheit und Gegenwart hinaus – bis in die Zukunft: zu dir.

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