Donnerstag, 3. März 2011

Zum Geburtstag: Lieber Lothar,

heute hast du Geburtstag. Es ist noch nicht der runde Geburtstag, der große, nein, der kommt erst nächstes Jahr, es ist ein ganz normaler Geburtstag heute, einer, der sich gerne hinter gewichtigen Zahlen versteckt. Und gerade deswegen möchte ich dir sehr herzlich dazu gratulieren und dir alles Liebe und Gute wünschen. Ein Geburts-Tag erinnert uns an den Tag unserer Geburt. Jahr für Jahr. Immer wieder. Und wir werden nicht jünger, sondern immer älter, Jahr für Jahr. Wie viele Jahre uns gegeben sind, das wissen wir nicht. Aber wir können das feiern, was wir wissen, nämlich, dass heute dein Geburtstag ist!

Das muss nicht einfach gewesen sein, damals, in dieser krisengeschüttelten Zeit. Für dich, auf die Welt zu kommen, für deine Mutter - meine Großmutter - dich zu entbinden, an ihrem 40. Geburtstag. Dein Bruder - mein Vater - war damals knapp zwei, auch er wird sich nicht an deine Geburt erinnern. Und dein Vater - mein Großvater - ob er überhaupt in der Nähe war? Konnte er überhaupt an der Geburt seines zweiten Sohnes teilnehmen? Ich habe ihn nie kennen gelernt, und auch du hattest ihn nur kurz – er starb, als du sieben Jahre alt warst.

All diese Dinge weiß ich nicht aus eigenem Erleben, ich war nicht dabei. Ich kenne nur Erzählungen darüber, habe Vorstellungen davon. Wir haben uns erst viel später kennengelernt. Da warst du schon erwachsen. Ihr habt schon im Süden Deutschlands gelebt – die große „Reise“ lag hinter euch, die vielen schwierigen Jahre. Mehrmals musstet ihr euer Zuhause verlassen, euch auf unbekannte Wege machen und schauen, wo ihr unterkommen konntet. Als ich geboren wurde und du „Onkel“ wurdest, war Frieden im Land und die Häuser waren wieder aufgebaut und frisch gestrichen.

Unsere Wege haben sich nicht oft gekreuzt. Nein, da reichen vielleicht die Finger meiner Hände. Aber ich erinnere mich an einen Besuch bei euch in Berlin. Ob Renate damals noch studiert hat, oder schon fertig war, das weiß ich nicht. Aber wir haben euch besucht. Ich war noch ein Kind. Es ist eine vage Erinnerung. Mehr Gefühl als Bild. Mein Bruder wird sicher dabei gewesen sein. Und meine Eltern.

Du warst ein bärtiger, stattlicher Mann, damals, der mir fremd und vertraut zugleich war, den ich kaum „kannte“ und der doch die gleichen Augen wie mein Vater hatte. Da war ein Fremdsein und da war ein Vertrautsein gleichzeitig zu spüren. Ich erinnere mich an eine schwarze Wand in eurer Wohnung, an Masken und allerlei fremdartige Gegenstände, die es dort gab. Ich fand das abenteuerlich und ein bisschen unheimlich.

Auch erinnere ich mich daran, dass es die „Westfälische Straße“ war, in der ihr wohntet – das fand ich seltsam. Denn ich wusste, dass das Bundesland, in dem ich lebte, (Nordrhein)-Westfalen hieß – und das war weit weg von Berlin. Vielleicht hat aber gerade dieser Straßenname auch eine Verbindung hergestellt, jedenfalls stellte ich mir vor, dass sie von uns bis zu euch führte.

Du hast immer ein eigenwilliges Leben geführt. Die Erwachsenenwelt in meinem Umkreis munkelte darüber. Aber ich konnte damit nichts anfangen, denn ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Einmal wart ihr für längere Zeit auf einer Weltreise. Und da habt ihr euern Kater – wie hieß er noch, er war ganz schwarz! – zu meiner Großmutter nach Tübingen gebracht. Sie hat ihn gepflegt. Und auf ihrem Fensterbrett zur Mühlstraße hin einen Blumentopf mit Wiese angepflanzt – damit der Kater etwas Frisches zu fressen hätte.

Auch war ich damals mit ihr in einem Jeansladen am Bahnhof in Tübingen – ich war noch so klein, dass Jeans in meinem Leben noch keine Rolle spielten – und wir kauften eine Hose für dich, die wir dir dann schickten, in einem Päckchen. Das fand ich schön.

Ja, wir haben uns wirklich nur selten gesehen. Aber als ich euch endlich, erst vor ein paar Jahren, da oben an der Nordsee besucht habe und sah, wie wunderschön und besonders ihr euer Haus eingerichtet und wie sehr ihr euch damit verbunden habt, was für ein großartiger Künstler du bist, da habe ich verstanden, was es heißt, künstlerisch im Leben zu stehen. Die Ehe zwischen Kunst und Wissenschaft ist bestimmt nicht einfach und der Weg zwischen den beiden liegt nicht wie eine gerade Straße vor uns, er birgt aber gerade das, was wir das unergründliche und wunderschöne Mysterium des Lebens nennen können. Mensch sein heißt schöpferisch zu sein – und das symbolisierst du für mich.

Renates Leben neigte sich damals schon dem Ende zu - und ich bin so froh, dass ich euch kurzerhand noch besucht habe! – und nun bist du schon zum fünften Mal an deinem Geburtstag allein. Wie mag das sein? Vielleicht hast du dich an das Alleinsein gewöhnt – vielleicht auch nicht. Es wird still sein, da oben, bei dir im Norden – an deinem Geburtstag. Vieles gibt es zu beklagen, aber die Sonne geht jeden Morgen für uns alle auf.

Und jetzt, wenn ich an dich denke, fällt mir Joseph Beuys ein. Ich denke an einen überlieferten Text von ihm - ich habe ihn neulich geschenkt bekommen - der davon handelt, wie wir innerlich immer ein Künstler bleiben können. All das ist äußerlich für dich vielleicht nicht möglich, innerlich wünsche ich dir aber, dass du die Leichtigkeit spüren kannst, die uns das Leben hier auf der Erde schenkt. Schön, dass du da bist, Lothar, und noch einmal: herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag heute!
Deine Nichte Sophie

How to be an artist?

Laß dich fallen,
lerne Schlangen zu beobachten,
pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemanden
Gefährlichen zum Tee ein,
mache kleine Zeichen,
die „Ja“ sagen und
verteile sie überall in deinem Haus.
Werde ein Freund von
Freiheit und Unsicherheit.
Freue dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle so hoch du kannst
mit deiner Schaukel bei Mondlicht.
Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere „verantwortlich zu sein“,
tue es aus Liebe.
Glaube an Zauberei,
lache eine Menge,
bade im Mondlicht.
Träume wilde phantasievolle Träume,
zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell dir vor,
du wärst verzaubert,
kichere mit Kindern,
höre alten Leuten zu.
Spiele mit allem,
unterhalte das Kind in dir,
du bist unschuldig,
baue eine Burg aus Decken,
werde naß,
umarme Bäume,
schreibe Liebesbriefe.

Joseph Beuys

12 Kommentare:

  1. Dein Brief hat mich sehr berührt, ich wünsche deinem Onkel unbekannterweise alles Gute zum Geburtstag. Und das Gedicht von Beuys verführt mich Unsinn zu machen. Vielleicht fällt mir ja noch etwas Schönes ein - wie wärs Sophie, ich könnte dich ja zum Tee einladen?
    L.G. Elfriede

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  2. Hallo Sophie,
    schoener Brief,
    weisst Du sicher, dass das Gedicht von Beuys stammt oder ist das nicht so wichtig? Ich glaube es nicht.
    Einen im Stil aehnlichen Tekst gibt es von Peter Handke:

    Spiele das Spiel


    Gefährde die Arbeit noch mehr.
    Sei nicht die Hauptperson.
    Such die Gegenüberstellung.
    Aber sei absichtslos.
    Vermeide die Hintergedanken.
    Verschweige nichts.
    Sei weich und stark.
    Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg.
    Beobachte nicht, prüfe nicht,
    sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen.
    Sei erschütterbar.
    Zeig deine Augen,
    wink die anderen ins Tiefe,
    sorge für den Raum und
    betrachte einen jeden in seinem Bild.
    Entscheide nur begeistert.
    Scheitere ruhig.
    Vor allem hab Zeit und nimm Umwege.
    Laß dich ablenken.
    Mach sozusagen Urlaub.
    Überhör keinen Baum und kein Wasser.
    Vergiß die Angehörigen,
    bestärke die Unbekannten,
    bück dich nach Nebensachen,
    weich aus in die Menschenleere,
    pfeif auf das Schicksalsdrama,
    mißachte das Unglück,
    zerlach den Konflikt.
    BEWEG DICH IN DEINEN EIGENFARBEN;
    bis du im Recht bist und
    das Rauschen der Blätter süß wird.
    Geh über die Dörfer.
    Ich komme dir nach.

    ©Peter Handke "Über die Dörfer"

    Herzlichen Gruss
    Achim

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  3. Stehe im garten
    und hebe deine flügel auf
    wohin werden sie dich tragen
    liege unter den wolken
    und schreibe worte in das blau
    die für jedefrau zu lesen sind
    binde dein herz an einen
    frühlingswind und
    treibe hinweg
    steige die treppe in deinem inneren
    hinab
    bis zu der erloschenen feuerstelle
    in der die scherben der kanne liegen
    die du zertrümmert hast vor jahren
    hebe sie behutsam in deine hand
    und gehe wieder hinaus in das
    licht des frühlings
    neige dich in den engelwind
    und lies die Worte die sie
    schrieben für dich
    wolkenweiß
    bis dann kommt dein schicksal
    geflogen kommt
    ohne aufhebens
    in diesen garten


    Anna.

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  4. Hallo Sophie, das ist wirklich ein wunderbarer Brief. Du bist ja eine Poetin! Diese weiche Sprache mit der dahinter wirkenden Klarheit der Beobachtung und Wahrnehmung... es erinnert mich an meine Tagebücher, die ich seit vielen Jhren schreibe.
    Warum hast du aber den Brief veröffentlicht? Das verstehe ich nicht.
    Und das Gedicht, das musste ich mir gleich abschreiben!
    Herzlich, Elke (du weßt schon)

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  5. Herzlichen Dank für die schönen Kommentare und die anregenden Anregungen.

    Es ist jeden Tag aufs Neue eine Frage: was ist innen und was ist außen - und dann, was bleibt innen und was
    darf,
    soll,
    will,
    muss,
    kann
    hinaus.

    Herzlich! Sophie Pannitschka

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