Freitag, 21. Mai 2010

Pfingsten. Sprachliche Verwirrungen und Entwirrungen

Walter Benjamin macht sich in seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten Sprachaufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ aus dem Jahr 1916 Gedanken über vier unterschiedliche Sprachformen. Er beschreibt die „Göttliche Sprache“, die durch das Wort erschaffend, bildend und konstituierend wirkt. „Und Gott sprach: es werde Licht. Und es ward Licht.“ Dann beschreibt er die „Adamitische Sprache“, die den Dingen ihrem Wesen nach einen Namen gibt. Ausdruck und Wesen eines Dinges sind in dieser Sprache äquivalent. Diese beiden Sprachen haben ihre Blüte im Paradies – vor dem Sündenfall.

Nach dem Sündenfall entstehen zwei weitere Sprachformen: die „Urteilende“ und die „Stumme“ Sprache. In der „Urteilenden Sprache“ werden die Dinge zu Objekten, zu Gegenständen, die außerhalb des Sprechers ihren Platz haben. Benjamin spricht vom richtenden und dem getrennten, urteilenden Wort. Sprechendes Subjekt und besprochenes Objekt sind deutlich voneinander unterscheidbar. Die Sprache hat ihre erschaffende und wesenhafte Kraft verloren.

Was durch diese Entwicklung entstanden ist, ist die „Stumme Sprache“. Denn nun beginnen die Dinge - ihrem Wesen nach - von sich aus zu sprechen, sich auszusprechen und treten in einen Kommunikationsprozess mit anderen Dingen, Objekten oder eben mit dem Menschen. Die „Stumme Sprache“ spricht sich im schweigenden Ausdruck der Dinge aus – der nicht minder aussagekräftig ist.

In der „Urteilenden Sprache“ hat der Mensch eine bestimmende Rolle zugewiesen bekommen. Denn ihm wurde vom Schöpfer nicht nur die Sprache mitgegeben, sondern auch die Möglichkeit zu benennen. Die „Dinge“ werden nun durch den Menschen benannt, genannt - es ist dem Menschen gegeben, Wortschöpfungen zu vollbringen und den Dingen einen Namen zu geben, der, im Unterschied zur „Adamitischen Sprache“, eine Beurteilung in sich birgt. Dem Menschen obliegt also Verantwortung gegenüber „dem Ding“ und der Sprache „über das Ding“.

Mir fällt dazu immer wieder die Geschichte des Turmbaus zu Babel aus dem Alten Testaments ein. Die Menschheit wird wegen ihres Hochmuts und ihres Urteils durch Gott mit einer Sprachverwirrung bestraft. Die ursprüngliche, gegenseitige Verständigung - über das Wort, die Sprache - führte zu einer Sprachenvielfalt, die es mit sich brachte, dass sich die Menschen nicht mehr verstehen konnten und viele unterschiedliche Sprachen benutzten. Heute gibt es etwa 6500 verschiedene Sprachen, von denen viele vom Aussterben bedroht sind.

Die Sprachverwirrung hat zur Ausbildung unterschiedlicher Fähigkeiten, Eigenheiten, Gewohnheiten und Ausprägungen der verschiedenen Völker geführt. Ein Verständnis war nicht mehr mit allen möglich, es sind Gruppen, Sippen, Völker entstanden, die ihre eigenen Ausdrucksweisen entwickelt und gepflegt haben. Um sich in verschiedenen Sprachen zu verständigen, ist es nötig geworden sich aufeinander zuzubewegen, Verständnis zu entwickeln, sich eine andere Sprache anzueignen, zu verstehen und sich neu auszudrücken.

Man möge einmal dem Gedanken nachgehen, was es für das Wesen von „Milch“ bedeutet, wenn es in unzähligen Sprachen benannt werden kann. Wo spricht sich ein Urteil und in welchen Worten ein Wesen aus?

Die Fähigkeit, unterschiedliche Sprachen zu sprechen ist eine Bewegung, die sich vom Ich zum Du bewegt und zu einem neuen Miteinander auf horizontaler Ebene führt. Die Erde ist von einem reichen und vielseitigen Sprachnetz umschlungen, das sich an verschiedenen Orten und durch verschiedene Menschen, die die Sprachen sprechen, durchdringt. Die Fähigkeit des Sprechens, Sprache an sich, ist jedem Menschen prinzipiell gegeben – wenn er in einem sozial miteinander kommunizierenden Netz lebt. Wir sprechen von der Muttersprache die jedem Erdenbürger auf unterschiedliche Weise zur Verfügung steht. Ausgehend von dieser Muttersprache lassen sich weitere Sprachen erlernen und somit den eigenen Sprachhorizont erweitern.

Das hat uns die Sprachverwirrung gebracht, die durch den Turmbau zu Babel über die Menschheit gekommen ist.

Jede Sprache ist und hat eine eigene Welt, die keine Türen oder Schranken besitzt. Sprachen sind gleichzeitig geschlossene und offene Welten. Jede für sich. Wenn wir wollen, so können wir eine uns unbekannte Sprache erlernen – niemand oder nichts kann uns davon abhalten. Sprache ist ein verbindendes, offenes Glied zwischen Menschen. Wenn sich zwei Menschen aufeinander zubewegen die keine gemeinsame Sprache haben, dann werden andere Zeichen als Worte eingesetzt, um sich zu verständigen. Handzeichen, Symbole, Gestik und Mimik. Körpersprache wird benutzt und die Kommunikation auf das Wesentliche, das Wesenhafte dessen was mitgeteilt werden soll, herunter gebrochen.

Nun nähert sich in diesem Jahr wieder das Pfingstfest. Und von Pfingsten wird im Neuen Testament erzählt, dass das, was die Jünger damals verkündeten, in der je eigenen Sprache desjenigen zu verstehen war, der sein Herz geöffnet und den Erzählungen gelauscht hat. Worte verschiedener Sprachen wurden für die Menschen verständlich. Gerade das Gegenteil der Sprachverwirrung beim Turmbau von Babel trat ein. Möglich, dass gerade die „Stumme Sprache“ sich offenbart hat und die unsichtbaren, unscheinbaren Dinge sich durch sich selbst nun aussprechen können. Sprache hat sich entwirrt.

Die Vielheit der Sprachen birgt ihr Wesen in der Sprache an sich, die sich von Mensch zu Mensch bewegt. Mit Worten oder ohne Worte. Dem Menschen ist es gegeben, auf die verschiedenen Sprachen zu lauschen und durch sich sprechen zu lassen. „Jede Wahrheit hat ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache“ - schreibt Walter Benjamin an Hugo von Hofmannsthal am 13.1.1924.

Freitag, 14. Mai 2010

Warum ich schreibe. Vom Ich zum Wir

Anfangen – jeder Schreibprozess hat einen Anfang. Der Abgrund will überwunden werden. Ich wähle einen Moment, der mir einen Beginn ermöglicht. Ohne diesen tatsächlich ergriffenen Augenblick entsteht auf dem Papier - und dem Computerbildschirm - nichts. Anfangen heißt loslaufen, weitergehen, Möglichkeiten schaffen, eröffnen – eben beginnen.

Buchstaben
– ich nutze die 26 Buchstaben unseres Alphabets, um die passenden Worte zu bilden, zu kombinieren, sich begegnen zu lassen. Dafür begreife ich sie, fasse sie an und schmecke sie um dann von meinen Funden zu berichten.

Chaos
– ein belebender Aspekt in der Sprachwelt. Gedanken, Stimmungen, Ideen… Ein Schreibprozess nutzt das kreative Chaos um etwas Neues zu erschaffen, Signale zu setzen, um Farben zu kombinieren, neue Blickwinkel einzunehmen.

Dichter – dichte Worte, verdichtete Kombinationen, dichterische Freiheit, gedichtete Bilder. Dichter und Gedichte mag ich sehr.

Erwägen - erfassen, erdichten, ergreifen, ergötzen und erbrechen, erschrecken, erkennen und erstarren. Erinnerungen festhalten. Enden.

Fantasie – ist zum Schreiben notwendig. Wenn ich dumpf bin, kann ich nicht schreiben. Worte fordern innere Beweglichkeit, Plastizität, polyphone Bilder – fantastische Texte entstehen durch fantasievolle Eingangstore.

Gewebe
– ich webe mit Worten und produziere Geschriebenes. Aus meinen Gedanken entstehen unterschiedliche Muster, die geduldig warten gewichtet zu werden. Von der Gabe zur Aufgabe – ohne aufzugeben oder anzugeben. Eben frei etwas zu geben und die Grenzen zu wahren.

Handeln – Schreiben ist Handlung, Tat und „geronnener Wille“. Texte sind Abenteuer und unübersehbare Unterfangen – Höhen und Tiefen inbegriffen.

Ich – zu meinem Ich stehe ich, wenn ich schreibe und veröffentliche. Ohne mein Ich geht es nicht - dazu muss ich stehen und darf nicht sitzen. Intertextuelle Diskurse schreiben sich über Worte fort und bereichern individuelle Entfaltungskräfte. Intuition, Inspiration und Imagination.

Ja sagen – auch wenn es unbequem ist. Mich im Tanz von Ja und Nein mit drehen und wenden, die Polaritäten berühren und abwägen, jetzt ja sagen, den Job ernst nehmen und Jazz dabei hören.

Können – mein Können auf die Probe stellen. Kommentare erwarten, Kreativität einsetzen, Klagen erinnern und klug erwidern.

Lesen – was andere geschrieben haben. Lesen und fühlen, wie sich Worte bewegen, welche Bilder entstehen. Menschen und Situationen, Ereignisse und Geschehnisse lesen, um zu erschreiben, was das Lesen in mir beschreibt.

Mut – Beherzt das Wort ergreifen. Schrift einsetzen. Mut mich im Schreiben zu zeigen. Mut Dinge auszudrücken, die des Mutes bedürfen. Multiplikator werden. Und manchmal müde sein - vor lauter Unerschrockenheit.

Niederlagen
– annehmen, einstecken und verwandeln. Transformieren.

Ohnmacht – Ohnmacht erleben, wenn die Worte nicht kommen, wenn die Buchstaben sich verdrehen, wenn erstarrende Stille entsteht, wenn Stummheit sich ausbreitet und kalt alles verschweigt.

Pläne – planen und verwirklichen, ergreifen und loslassen. Konzepte erstellen und ausklamüsern, Ideen aushecken und austüfteln, damit Pläne zu Ereignissen werden, damit Wunsch zu Wille wird. Planen und ändern – immer wieder neu.

Quadratisch – mit Ecken denken und Tangenten einbauen, aber den Umkreis nicht vergessen und die geometrischen Gebilde in Worte fassen.

Rufen – mit stillen Worten und durch geduldige Schrift. Anrufen, durchrufen und alarmieren. Vom Zuruf zum Aufruf, vom Sprecher zum Hörer, vom Schreiber zum Leser.

Stimme – meine eigene Stimme suchen und finden. Ihren Worten vertrauen, Spuren verfolgen und in geduldige Schrift umsetzen, die stumme Sprache zum sprechen bringen, schreiben um etwas zu sagen und die Quelle der Stimme zu sein.

Tippen – Worte auf der Tastatur eintippen und mein soziales Netz damit antippen. Mich trauen zu texten und Texturen zu erstellen, damit Diskurse eröffnet und geführt werden können. Mir treu bleiben und mich trauen zu schreiben.

Unsicher – unerkannt bleiben in der Unsicherheit. Ohne Rüstung und doppelten Boden in die Sichtbarkeit treten.

Verständnis – verstehen und um Verständnis werben. Einblick gewähren in die Werkstatt der Worte, mit Gespür, Takt und Fingerspitzengefühl. Ohne Verständigung verstehen wir uns nicht.

Wir – vom Ich zum Wir. Am Anfang war das Wort. Mit Worten einen Weg gehen, Brücken bauen, weben und Sätze im Dschungel des Alltags bilden. Vom Ich zum Du im Zwischenraum über die Sprache.

Zweifel – den Zweifel ernst nehmen und überwinden. Er führt mich, wenn ich mich nicht überführen lasse. Der Zweifel ist ein Kreativitätspotenzial, der sich gerne in den Arm nehmen lässt. Vom zaudern, zögern und zagen zum zwielichtigen Zwischenbericht.

Schreiben, um vom Ich zum Wir zu gelangen und die eigene Stimme erklingen zu lassen.

Samstag, 8. Mai 2010

Firenze. Die Stadt der sonnenbeschienenen Schatten

Firenze vermittelt Wärme. Dunkle Wärme. Die Stadt im Süden kommt körperlich direkt bei mir an – wenn ich an sie denke. Lebensgeister regen sich. Woher kommt das? Ich bin schon oft dort gewesen. Und jedes Mal habe ich wieder erlebt, dass die Stadt „tot“ ist. Immer wieder entstand das starke Gefühl, dass die Stadt von ihrer Vergangenheit lebt, von ihr zehrt und sich noch immer an ihr labt.

Da gab es die Renaissance und mit ihr die unendlich vielen prächtigen Bauten. Diese Steine sind geblieben. Noch heute kann man durch Straßen gehen, durch die auch schon die Meister der Platonischen Akademie vor über 500 Jahren gegangen sind. Und recht viel anders wird es nicht aussehen. Das ist zumindest das erste faszinierende Element: Im 21. Jahrhundert lässt sich Firenze so wahrnehmen, als wenn das Mittelalter gerade erst zu Ende gegangen wäre und die Knospe der Neuzeit kurz vor dem Aufbrechen ihrer eigenen Blüte stehen würde.

Die Stadt präsentiert sich auch so. Sie stellt ihre Kunstwerke aus, Gemälde und Skulpturen, lädt in Paläste, Kirchen und Bauten ein, die in der Anzahl auf so kleinem Raum ihres gleichen vermissen. Philosophen, Dichter und Humanisten werden zitiert, der Aufbruch der damaligen Zeit ist in seiner plötzlichen Erstarrung wahrnehmbar.

Irritierend sind die vielen Touristen aus aller Welt - aber die lassen sich beim Schlendern durch die steinerne Stadt auch irgendwie wegdenken. Ich selber bin ja auch nichts anderes als eine deutsche Touristin, die durch alte Zeiten flaniert. Die große, unbeantwortete Frage ist, was mit den Menschen von damals geschehen ist, ihren Intentionen, ihren Gedanken, neuartigen Ideen und vielen Vorhaben. Die stoffliche Hülle ist weiterhin anwesend, die feinstoffliche gilt es aufzuspüren.

Das Zweite, was mich immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, dass die Gebäude sprechen. Die warmen Steine geben etwas von sich preis, wenn man in sie hinein lauscht. Und sie wissen nichts von der heutigen Zeit. Gar nichts. Sie sprechen, klingen und raunen von damals. Etwas Unverständliches. Und sie tun so, als ob nichts geschehen wäre. Sie verhalten sich so, als ob Lorenzo de Medici gleich um die Ecke kommen würde, um sich mit seinen Freunden darüber zu beraten, wann und wo das nächste Dichterfest gefeiert werden solle.

Firenze ist verhaftet. In seine Geschichte. Die Stadt ist tot und lebt gleichzeitig weiter. Ein steinernes Mahn-Mal, denn sie beharrt auf der Gegenwart des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Die Stadt mahnt. Und so erscheint es auch mir, dass ich eine Zeitreise mache und darin gefangen werde. Innerlich finde ich mich in der damaligen Zeit wieder. Was hat das mit heute zu tun?

Zwei unterschiedliche Gefühlsräume entstehen, zum einen: Vertrautheit, Zuhause und Aufgehoben sein und Lebensfreude. Das andere Gefühl aber ist fast gegensätzlicher Natur, es ist mit Gefahr, Zeichensetzung, gewagten Neuerungen und Über-die-Stränge-schlagen zu umreißen. Es ist etwas schief gelaufen, damals. So richtig schief.

Ein schweigender Schatten liegt heute auf der Stadt. Auch damals gab es eine Unterwelt, dunkle Geschichten und Machenschaften – aber die hatten einen anderen Duktus als der traurige, stumme Schatten, der heute über der sonnenbeschienenen und noch immer leuchtenden Stadt am Arno liegt. Es gibt nicht viele Städte, über die so viel publiziert wurde und viele Autoren sind auf die eine oder die andere Weise damit beschäftigt gewesen, das Unsichtbare sichtbar zu machen – was aber wohl noch niemandem gelungen ist.

Damals wurde das Versprechen eines neuen Menschenbildes gegeben. Die Mission Dantes, Petrarcas oder Picos ist eindeutig so zu verstehen – aber die Ideen der Humanisten sind im Verlauf der Geschichte in den Hinterhalt geraten, sie sind versteckt und verdeckt worden, sind aus der Sichtbarkeit verschwunden. Die Steine von Firenze bewahren das Versprechen. Es ist das große Heimweh und die Sehnsucht nach Zukünftigem, einem humanistischen Menschenbild, das aus der Vergangenheit heraus gebrochen werden muss.

Das alte - philosophische - Athen wurde in Firenze wiedergeboren. Ist dort wieder erwacht, hat geblüht und ist dann in seiner eigenen Erinnerung versunken. Wird es nun, noch einmal 500 Jahre später, an einem anderen Ort eine neue Renaissance-Blüte geben, die aus Athen und Firenze - der Stadt am Arno - geboren wird? Die Frage bleibt, wo gegraben werden muss, damit das, was unvollendet geblieben ist, ans Licht kommt. Und damit ich verstehe, woher das warme und gleichzeitig beklemmende Herzklopfen kommt, wenn es um Firenze geht.

Die Steine werden es uns nicht erzählen – sie bleiben bei der alten Geschichte. Es gilt den feinstofflichen Schatten anzuschauen, den sonnenbeschienenen - er kennt die Geschichte genau und verschweigt sie, solange ihn niemand durchdringt. Ein Abbild dieses Schattens ist in den Herzen derjenigen Menschen zu finden, die ein Klopfen spüren. Zukunft entsteht erst dann, wenn die Gegenwart bereit dazu ist, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.