Sonntag, 20. Dezember 2009

Im Krankenhaus. Wenn Seele und Geist weggeschickt werden.

Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert in Krankenhäusern. Da ihr Arzt das Krankenhaus am Sonntag darüber informiert hatte, dass sie kommen würde, war alles vorbereitet. Sie musste nur ihre Plastikkarte abgeben. Das war gewissermaßen der Eintrittsschein in die Welt der medizinischen Versorgung. Von da an war sie ein „Fall“. Eine Patientin, die medizinisch betreut und versorgt wurde.

Da sie niemand kannte, und in dem großen Gefüge eines Krankenhauses mit all seinen Abläufen die menschliche Zuständigkeit ständig wechselte, wurden jede Menge Datenaufkleber gedruckt. Für die diversen Akten und Schriftstücke, für Laboruntersuchungen und alles weitere, was sie betraf. Die Etiketten mit ihrem Namen verteilten sich in alle Richtungen des großen Gebäudekomplexes.

Die neue Patientin war ein hinzugekommenes Rädchen im Getriebe. Nichts sollte verwechselt werden. An dieser Stelle ging es ganz explizit um physische Individualität. Auch an das Bett der neu Aufgenommenen wurde ein Schild mit ihrem Namen gemacht und selbst um ihr Handgelenk wurde ein Bändchen gelegt, auf welchem Name und Geburtsdatum zu lesen waren.

(Wie gut, dass kein Bändchen um einen Zeh ihres Fußes gelegt wurde. Später hörte sie, dass man das in amerikanischen Filmen bei Verstorbenen so sehen kann.)

Über das Namensbändchen war sie irritiert. Ob die Schwestern wohl meinten, dass sie selbst vergessen könnte, wer sie sei? Nachdem sie aus der Narkose nach der OP wieder erwachte, bemerkte sie, dass eine Schwester das Bändchen an ihrem Arm verstohlen abriss. Das brauche man nun nicht mehr, sagte sie, denn nun könne die Patientin sich ja selber wieder artikulieren. Die OP war also gut verlaufen – sie wusste nicht viel darüber, was die Ärzte konkret getan hatten – nein, sie wusste es nur so ungefähr. Und einen Moment Zeit, dass man es ihr hätte in Ruhe erklären können – den gab es wohl nicht. Sie war wach, lag still in ihrem Bett und wartete ab.

Um gesund zu werden wird ein Patient in einem Krankenhaus um zwei Dinge gebeten. Einerseits um totale Hingabe. Übergabe und Vertrauen in das, was Ärzte wollen und einfach tun. Und andererseits um einen kritischen Geist. Mitdenken, nachfragen, nicht locker lassen. (Ja, was sie nicht alles unterschreiben musste!) Eben das Gegenteil von Hingabe. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegt der goldene Mittelweg. Weder das eine noch das andere funktioniert in seiner Reinform. Gerade das, worum implizit gefragt wird, ist eine menschliche Mitte, die den Körper, die Seele und den Geist mit einbezieht. Diese Mitte in einem Krankenhaus zu bewahren, ist gar nicht so einfach.

Eine Nacht wird normalerweise von Stille und Dunkelheit getragen. Auch im Krankenhaus kommt zu später Stunde so langsam Ruhe auf und es wird dunkler. Aber eben nicht ganz. Auf der einen Seite ist es still, schwer und dunkel und auf der anderen Seite bleibt es unruhig. Die nächtlichen Stunden werden von Geräuschen und stoisch aufblinkenden kleinen Lichtern durchzogen, sowie von einer unablässigen und unklaren Unruhe und Bewegung durchströmt. Es ist gerade so still, dass jedes Geräusch zu hören ist. Eine Stimme auf dem Flur. Türen, die auf und zu gemacht werden. Ein Klingelknopf, der in einem anderen Zimmer getätigt wird. Betten, die verschoben werden. Patienten, die neu eingeliefert werden. Ein leises Klappern – schlicht, jede kleine Bewegung ist in der Stille der Nacht hörbar, wenn man nicht schläft.

Als sie, zu nächtlicher Stunde nach Baldrian oder einem Beruhigungstee fragte, bot man ihr Valium an. Das dürfe sie ruhig nehmen – dann könne sie sicher schlafen. Etwas anderes gäbe es nicht. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte sich nicht noch einmal so abgeben, so verlieren, sich selber so verlassen wie bei der Narkose. Nein, und wenn sie die Nacht wach bleiben würde, Valium wollte sie nicht nehmen.

Sie war keine 24 Stunden im Krankenhaus. Wie viele zuständige Schwestern oder Ärzte in dieser Zeit an ihr Bett traten, konnte sie nicht erinnern. Sie weiß noch, dass es einen Zeitraum gab, da in sehr kurzen Abständen ihr Puls, ihr Blutdruck und ihre Temperatur gemessen wurden. All das wurde in Akten abgelegt. Was es zu bedeuten hatte – das wusste sie nicht. Alles schien irgendwie normal zu sein. Aber für sie war alles neu, fremd und nicht vertraut. Sie war noch nie operiert worden.

Physisch nahm alles seinen Gang. Komplikationslos. Da sie am Morgen zwar die Erlaubnis erhielt zu duschen, ihr aber kein Handtuch angeboten wurde - denn sie selbst hatte keins dabei, weil sie ja gar nicht darauf eingestellt war, über Nacht dortzubleiben - beschloss sie, das Krankenhaus so zu verlassen. Ungeduscht. Nur weg. Zurück auf bekanntes Terrain. Dort gesund werden. Als sie nach dem Frühstück zurück an ihr Bett kam, lag da der Entlassungsbrief - das hieß, dass sie gehen konnte.

Wie verlässt man ein Krankenhaus? Geht man einfach? Oder gibt es jemanden, dem man die Hand geben konnte? Der explizit wissen sollte, dass man geht? Schließlich war doch auf physischer Ebene einiges passiert. Die Tagschwestern waren erst seit kurzem im Dienst und hatten - bis auf „Messungen“ - noch gar nicht mit ihr gesprochen. Der Arzt hatte sein Okay zur Entlassung gegeben, war aber längst in anderen Zimmern verschwunden. Sie „kannte“ niemanden, ging aber trotzdem zu einer der jungen Frauen in weißem Kittel und gab ihr die Hand um Auf Wiedersehen zu sagen.

Ein Aufenthalt in einem normalen Krankenhaus bedeutet, dass alles getan wird, was auf physischer Ebene zu tun ist, um Gesundheit zu erlangen. Seele und Geist werden aber durch eine Narkose explizit weggeschickt, ja verbannt. Sie brauchen dann Zeit, um sich langsam wieder anzunähern. Denn sie gehören zur Gesundheit des Menschen dazu. An diesem Erlebnis wurde ihr sehr deutlich, was es hieß, wenn man sich nur um eine Ebene - die physische - des Menschen kümmert.

Die Seele hätte eine Chance gehabt mitzukommen, wenn auf der menschlichen Ebene etwas mehr Anteilnahme genommen worden wäre. Ganz abgesehen vom Geist, der die Geschehnisse erst in einen größeren Zusammenhang bringen musste, um irgendwie mitzugehen. Zu wünschen ist, dass eines Tages auch die „normalen“ Krankenhäuser daran denken, dass der Mensch nicht nur aus physischer Materie besteht.

Um gesund zu werden ist sie nun dabei, neben der physischen Genesung, auch seelisch und geistig wieder eins zu werden.

1 Kommentar:

  1. mama, es ist so gut etwas von DIR zu lesen. nicht von dir über etwas sondern von dir über dich, über deine erlebnisse!

    und der goldene mittelweg -
    den such ich auch gerade!

    DANKE.

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