Boccaccio (1313-1375) war der erste Gelehrte an der neugegründeten Universität in Florenz, der öffentlich über die „Göttliche Komödie“ von Dante (1265-1321) sprach. Er war, mit seinem Dichter-Freund Petrarca (1304-1374), ein großer Dante-Freund und -Kenner. Boccaccio war ein Erzähler und Humanist der ersten Stunden, in der erwachenden Renaissance in Florenz.
Nachdem 1348 die Pest in Florenz ihr Unwesen getrieben hat (und in Prag die erste deutsche Universität eröffnet wurde) begann Boccaccio das „Dekamerone“ zu schreiben. Angelehnt an die „Göttliche Komödie“ mit ihren einhundert Gesängen, schuf er einen Novellenzyklus aus einhundert Erzählungen.
Die Rahmenhandlung des Dekamerone erzählt vom pestverseuchten Leben in der Stadt am Arno – und gehört auch heute noch zu den wenigen brauchbaren dokumentarischen Berichten über diese Unglückszeit. Drei junge Männer und sieben junge Damen treffen sich in der Kirche Santa Maria Novella - von dort nimmt die Binnenhandlung, nehmen die „Novellen“ oder auch „Neuigkeiten“ ihren Ausgangspunkt - und beschließen gemeinsam aufs Land zu ziehen, um der Ansteckungsgefahr zu entgehen.
Sie ziehen Richtung Fiesole in ein Landhaus. Auch heute, siebenhundert Jahre später, steht das Gebäude noch da – an der Via Boccaccio – und beherbergt eine Fakultät der Europäischen Universität (!). Damals war es ein verwaistes aber intaktes Landhaus, in das die Gruppe der Überlebenswilligen geflüchtet ist, um die Zeit miteinander zu verbringen.
Eine Funktion des Erzählens ist es schon immer, sich die Zeit auf angenehme, aufregende, lustvolle, interessante oder bereichernde Weise zu vertreiben. Und so beginnt auch diese Gruppe junger Florentiner sich dort in der Diaspora Geschichten zu erzählen. Jeder Tag wird durch eine „Königin“ oder einen „König“ bestimmt. Sie geben jeweils ein Thema vor. Und jeder der zehn Beteiligten erzählt dann im Verlaufe eines Tages – am Morgen, in der glühenden Hitze des Nachmittags oder in der Dunkelheit des Abends, vor oder nach dem Essen, im Haus, im Garten oder am Fluss - eine Geschichte zum Thema. So entstehen im Laufe von zehn Tagen einhundert Erzählungen: einhundert Novellen eben. Das Dekamerone – das Zehntagewerk.
Wer alte Erzählungen mag, findet in diesem Novellenzyklus sicher die eine oder andere wunderbare Geschichte. Eine von ihnen hat besondere Aufmerksamkeit erlangt, es ist die sogenannte Falkennovelle, die 9. Novelle des 5. Tages. Sie ist, wenn es nach Paul Heyse geht, konstituierend für die Novelle an sich.
Wie definiert man eine Novelle? Im Gegensatz zu einer Kurzgeschichte oder zu einem Roman? Wo fängt eine Novelle an, wo hört sie auf, wo sind ihre Grenzen? Lyrik und Dramatik lassen sich deutlich definieren, aber innerhalb der Epik gibt es einige unscharfe Ränder. Die Form lässt sich nicht eindeutig festlegen. Deshalb hat der deutsche Dichter Paul Heyse (1830-1914 in München) auf den Inhalt verwiesen. Er nennt eine Erzählung dann eine Novelle, wenn sie symbolisch „einen Falken“ aufweist.
In Florenz lebt ein Edelmann namens Federigo. Er liebt Monna Giovanna und richtet ein Fest nach dem anderen aus, um ihre Gunst zu erlangen. Er stiftet sein ganzes Vermögen, um ihr Geschenke und seine Aufwartung zu machen. Sie aber erhört ihn nicht. Sie heiratet einen anderen, einen reichen Kaufmann, und bekommt mit ihm einen Sohn. Federigo ist mittlerweile einsam und verarmt, er hat nur noch einen einzigen Falken und lebt in einem kleinen Landhaus nahe Florenz. In seinem Herzen liebt er noch immer Monna Giovanna.
Als Monna Giovannas Ehemann stirbt, zieht auch sie aufs Land, in die Nähe des kleinen Gutes von Federigo. Aber erst zu dem Zeitpunkt, als Monna Giovannas Sohn erkrankt, und sich, um zu genesen, von ganzem Herzen den prächtigen Falken von Federigo zum spielen wünscht, geht sie zu ihm - die ihn vorher nie beachtet hat. Federigo ist erstaunt und beglückt. Monna Giovanna will bei ihm speisen. Da Federigo nichts anderes als seinen Falken besitzt, dreht er ihm kurzerhand den Hals um, und serviert ihn seiner geliebten Dame.
Erst nach dem Essen offenbart die Mutter des kranken Knaben, dass sie gekommen sei, um um den Falken zu bitten. Federigo ist untröstlich – endlich hat er die Aufmerksamkeit seiner Dame, und nun kann er ihr nicht dienen. Den Falken haben sie bereits gemeinsam verspeist. Monna Giovanna kehrt erschüttert zu ihrem Sohn zurück, nachdem sie den Falken von Federigo nicht erhalten konnte. Ihr Sohn stirbt. Und sie erwacht und erkennt, wem sie in Federigo begegnet ist. Nach einer angemessenen Trauerzeit heiraten die beiden und Federigo wird wieder ein reicher und geachteter Bürger von Florenz.
Soweit die humanistische Erzählung von Boccaccio aus der Renaissance in Florenz.
Nicht jede Novelle, die seitdem geschrieben wurde, endet in dieser Weise klassisch. Wenn aber jede gute Novelle so einen „Falken“, so eine „unerhörte Begebenheit“ (wie es Goethe nennt), so einen delikaten Wendepunkt aufweist, dann sind die Erzählungen alles andere als alt und märchenhaft, sondern modern und riskant und unüberschaubar. Ein Scheitern wird nicht ausgeschlossen und die Stringenz, Treue und Naivität, die Federigo an den Tag legt, wünsche ich manch einer literarischen Gestalt, die sonst noch durch die Weltliteratur spaziert.
Boccaccio, dem alten Italiener, gebührt, ob seines Novellenzyklus‘, noch heute ein Platz in der Weltliteratur. Den Mut zu einer Renaissance - nicht nur in der Literatur - der symbolischen Wiederauferstehung des Falken zwischen Federigo und Monna Giovanna , könnten wir, in jeder Hinsicht, heute in Mitteleuropa wieder gut gebrauchen. Vielleicht spielt die Europäische Universität - in der Via Boccaccio zwischen Florenz und Fiesole - dabei eine Rolle. Einen würdigen Ort hat sie ja gefunden, auch Pico della Mirandola (1463-1494) hat - einhundert Jahre später - in jenen Gefilden seine 900 Thesen geschrieben.
P.S. Warum nur hat Lorenzo di Medici 1473 die Universität von Florenz nach Pisa verlegen lassen?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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