Montag, 5. Oktober 2009

Parzival im Netz. Oder: Ich und die Anderen

Wenn die Parzival-Geschichte verfilmt würde (was hoffentlich niemals geschieht!) dann würden die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen sicherlich von den Ritten Parzivals auf seinem Pferd geprägt sein. Parzival reitet von Station zu Station durch die Zeit – er lässt sich von seinem Pferd führen, denn er lenkt es nicht. Wolfram von Eschenbach betont immer wieder, wie weit, wie schnell und wie gut Parzival reitet. Der Held auf dem Pferd – das ist das verbindende Element zwischen den verschiedenen Ereignissen auf horizontaler Ebene. Parzival reitet mit wehender Mähne seiner Zukunft entgegen.

Auf vertikaler Ebene werden die Ereignisse von anderen Elementen geprägt – nicht von Pferden, die auf der physischen Ebene die Transportmittel von Event zu Event darstellen, sondern durch Begegnungen mit verschiedenen Schicksalsgenossen. Diese Begegnungen lassen sich natürlich auch in eine zeitliche Kategorie hineinstellen, da sie nacheinander geschehen, sie haben aber weniger mit einem chronologischen Ablauf im Zeitstrom, als mit Höhen und Tiefen in der inneren Entwicklung des Helden zu tun.

Den Schnittpunkt zwischen den horizontalen Ereignissen und den vertikalen bildet die Mitte Parzivals, seine Seele. Gerade diese Ebene, die des sozialen Miteinanders, hat der „Held“ zwischen dem geistigen Strom (er ist durch seine Mutter ein Angehöriger der Gralsgesellschaft) und dem physischen (er ist, wie sein Vater, ein Artusritter) die ihm beide mitgegeben sind, auszubilden.

Was wäre Parzival ohne seine Mitmenschen – ohne das Leid, das ihm zugefügt wurde, ohne die Kränkungen, die Schmerzen, die Sünden, Fehler und Versäumnisse? Aber auch ohne die Hilfe, den Glauben an ihn, die Liebe, die Sühne, die Begegnung mit ihm? Das „Glück“ seiner Entwicklung ist ja, dass er nie weiß, was kommt, dass aber immer etwas kommt. Und das er auch gar nicht weiß, was er „will“ – die Zukunft ist ihm verschlossen, er hat keine Vorstellung davon –aber er ist mit wehender Mähne unterwegs.

Wenn man die Geschehnisse zurückverfolgt – also die ganze Entwicklung überblickt – dann fallen bestimmte Figuren auf, die eine besondere Bedeutung für das innere Leben des Helden haben. Erst im Laufe der Geschehnisse wird das Netz sichtbar, in dem sich Parzival bewegt. Zunächst hat er ja keinen anderen Ansprechpartner als seine Mutter. Damit etwas passiert, etwas in Bewegung kommt, braucht es andere Faktoren, neue Herausforderungen, Fragen und Gegebenheiten – Figuren stellen sich ihm in den Weg.

Je nach Blickwinkel, bekommen die verschiedenen Figuren Zuordnungen, die sichtbar machen, was Parzival ihnen verdankt, was er an oder mit ihnen lernt, wie er seinen Weg durch sie geht – und auch, was sie in ihm herausfordern. Mit diesem Blickwinkel fallen folgende Figuren in ihrer Rolle für Parzival auf:

Ermöglichungsfiguren: Herzeloyde und Gahmuret. Der Held braucht Eltern. Ohne sie kann er nicht auf der Erde leben. Seinem Vater begegnet Parzival nie. Denn der will dem mächtigsten Herrn auf Erden dienen und zieht in den Orient – um dort zu sterben, bevor Parzival geboren wird. Aber er hinterlässt seinem Sohn ein Erbe: den Mut zum Aufbruch, zur Suche nach sich selbst. Herzeloyde, als ängstliche, alleinerziehende Mutter versucht den Knaben vor der Welt zu schützen, damit er nicht so werde wie sein Vater: tot und ein Held. Aber gerade die Welt sucht Parzival – und so zieht er davon.

Leit- und Opferfiguren: Titurel, Jeschute und Ither. Titurel ist der erste Gralskönig auf Erden. Er hat sein Amt an seinen Sohn Frimutel abgegeben, der jedoch bald verstorben ist. Nun ist Anfortas der leidende Gralskönig. Um zu sterben, muss der greise Titurel warten, bis ein würdiger Nachfolger das Amt übernimmt. Titurel „leitet“ Parzival. Damit aber Parzival „ausgebildet“ wird, etwas lernt, muss er etwas tun, sich in das Leben hineinstellen. Und so führen die missachteten Bedürfnisse des aufbegehrenden Parzivals zu Taten, die er später sehr bereut. Ein Überfall auf eine begehrliche Frau, ein Totschlag für die rote Rüstung. Jeschute und Ither „opfern“ sich, um Parzival Erfahrungen zu ermöglichen, die Vorboten für spätere Herausforderungen sind und wegweisend für ihn werden.

Lehrerfiguren: Gurnemanz und Trevrizent. Zwei weise Männer bieten dem Ungestümen und Verzweifelten an, ihm ihr Wissen weiterzugeben. Die Lehre Gurnemanz‘ bleibt äußerlich, Parzival kann sie noch nicht individualisieren. Anders ist das am Ende der Geschichte beim Karfreitagsgespräch mit Trevrizent. Parzival hört die Schuld, kennt seine Sünden und geht über seinen Lehrer hinaus, der keinen anderen Weg als die Buße sieht. Parzival macht sich die Lehren zu Eigen, führt sie fort und überwindet die althergebrachten Ge- und Verbote.

Signalfiguren: Sigune und Kundrie. Dreimal begegnet Parzival Sigune im Wald um die Gralsburg. Das erste Mal sitzt sie mit ihrem toten Geliebten unter einer Linde, das zweite Mal in der Baumkrone und das dritte Mal hat sie sich in einer Klause einmauern lassen. Jedes Mal gibt sie wichtige Informationen weiter (wie zum Beispiel seinen Namen!), die Parzival eigentlich zur Verfügung stehen müssten. Und als Kundrie Parzival vor dem Artushof verflucht, und später seine Gralsberufung kund tut, spricht sie das aus, was sich in seinem Gewissen regt.

Helfer- und Orientierungsfigur: Iwanet und Artus. Iwanet ist ein Knappe von Artus. Er hilft dem unbeholfenen Parzival die Rüstung Ithers anzulegen und somit eine neue (äußere) Identität anzunehmen. Im Laufe der Geschehnisse hat er immer wieder mit der Kleidungsänderung des Handlungsträgers zu tun. Artus ist König und Kraft seines Amtes befähigt, Urteile zu fällen. Gerade das macht er aber in Bezug auf Parzival nicht. Er ist sowohl beim Totschlag Ithers dabei, als auch bei der Verfluchung Kundries. Artus präsentiert sich auf der physischen Ebene als „Orientierungspunkt“ für Parzival – auf der Gegenseite zum Gralskönig Anfortas, der die geistige Ebene repräsentiert.

Träger- und Gegnerfiguren: Condwiramurs und Lähelin. Condwiramurs ist die einzige Figur, die Parzival nie in Frage stellt. Auch sie eine alleinerziehende Mutter - wie Herzeloyde - jedoch voller Vertrauen, Anerkennung und Wertschätzung dem Helden gegenüber. Sie gibt, was sie geben kann und nimmt, was sie bekommt. Anders ist das mit Lähelin. Er hat es auf die Ländereien des Protagonisten abgesehen. Da er sich aber „nur“ auf der physischen Ebene bewegt, und Seele und Geist nicht erreichen kann, ist er eine marginale Bedrohung.

Freund- und Bruderfigur: Gawan und Feirefiz. Gawan wird wie ein lichter Spiegel des Helden präsentiert. Er taucht meistens dort auf, wo Parzival nicht ist. Physisch ist er ihm selten nah, seelisch aber umso mehr. Als Parzival in bitterster Bedrängnis in die „Blutstropfenszene“ gerät, ist er derjenige, der ihn „erkennt“ da er wie sein Bruder ist. Sein „echter“ Bruder, Feirefiz, wird zum Maß der Integrität, als die beiden miteinander kämpfen und sich, kurz vor einer Katastrophe, über den gemeinsamen Vater gegenseitig annehmen. Gawan und Feirefiz, zwei Brüder, einer seelisch und der andere physisch.

Erkenntnisfigur oder Zielfigur oder Aufwachfigur oder Alles-in-allem-Figur: Anfortas. Anfortas stellt sich für den Schmerz zur Verfügung. Selber die Gralsregeln verfehlt, ist er darauf angewiesen, dass Parzival die eigene Verwundung, die Verfehlung am Anderen, das Dunkle in der Welt erkennt und anerkennt. Dadurch kann er geheilt werden. Eine physische Wunde wird durch seelische Anteilnahme und geistige Erkenntnis der Zusammenhänge geheilt. Auf die Heilung Anfortas‘ ist der Weg Parzivals ausgerichtet. Hier findet das mitmenschliche, soziale Wunder statt.

Und das mitmenschliche, soziale Wunder kann sich nur zwischen den Figuren ereignen - der eine braucht den anderen. Parzival wäre nicht Parzival, wenn er nicht sein Schicksalsnetzwerk - mit jeder einzelnen Figur! - um sich hätte, um daran zu wachsen.

Das Netz in Parzival.
Oder: Die Anderen und Ich.

4 Kommentare:

  1. Liebe Sophie,
    nur kurz: bei dem Titel habe ich einen Transfer auf Dich als Person erwartet. Ich dacht, Du stellst Überlegungen an, wer Dein Trevrizent, Dein Gawan, etc. ist.

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  2. Liebe Sophie! Es ist immer wieder eine Freude Deine Schilderungen über die Seelengeheimnisse des Parzivals zu lesen; die ja mit Dir und mir und… zu tun haben. Die
    S u c h e nach dem ~ persönlichen ~ Sinn des Lebens ist bereits die Essenz. Wolfram von Eschenbach schafft es in so vielschichtigen Bildern die Seele in Bewegung zu halten.

    Herzliche Grüße von Katharina

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  3. Liebe Katharina, wer bist du? Herzlich, Sophie

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  4. Fiktives Gespräch:

    S: Wer bist du?
    K: Welch’ große Frage die berührt; sie bewegt sich in jener Größenordnung derjenigen: Was wirret dir?
    S: Kennen wir uns?
    K: Vielleicht für einen AugenBlick .
    Wer bist DU?

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