Dienstag, 14. Mai 2013

Christian Kröner. Von richtig guten Lehrern


Es gibt Lehrer und Lehrer. Und vor allem nach über dreißig Jahren gibt es Lehrer, die in Erinnerung geblieben sind und andere, die durch das Netz der Bedeutung gefallen sind – ob berechtigt oder unberechtigt. Ich glaube, dass die Kategorie eindeutig ist: ich erinnere mich an die Lehrer, die mir damals etwas bedeutet haben, deren Stimme ich innerlich heute noch hören kann. Zu diesen Lehrern hatte ich einen Zugang, sie haben mich irgendwie erreicht, in jenen Jahren, als ich zur Schule ging und mit allem Möglichen beschäftigt war – oft auch mit Dingen, die gar nichts mit Schule zu tun hatten.

Die Funktion von Schule ist es, Lernprozesse zu ermöglichen, Schülern etwas „beizubringen“. Diese Aufgabe unterliegt dem Lehrpersonal – erwachsenen Mitmenschen also. Vorgesehen sind verschiedene Fächer, anhand derer auch andere Kompetenzen, wie zum Beispiel das soziale Miteinander, gelernt werden sollen. Die englische Sprache sollte ich damals lernen und die russische, Mathematik sollte ich betreiben und Sport… Jeder kennt das, jede Schule hat ein Curriculum das festschreibt, welche „Fächer“ unterrichtet werden.

Die Fachlichkeit wird allerdings weniger durch sich selbst als durch ihre Vermittler – sprich durch Lehrer – groß oder klein, bedeutend oder unbedeutend, interessant oder uninteressant. Der Lehrer, der diesbezüglich für mich die größte Bedeutung hatte war Dr. Christian Kröner. Er hat Mathematik und Physik in der Oberstufe unterrichtet. Das waren weder damals meine Fächer noch sind sie es heute. Aber er hat es durch seine eigene Authentizität geschafft, dass die ganze Klasse seine Fächer ernst genommen hat und niemand daran gescheitert ist. Im Abitur habe ich meine besten Leistungen in seinen Fächern erbracht, obgleich sie inhaltlich sehr anspruchsvoll waren und es sich wie gesagt nicht um „meine Fächer“ handelte.

Wenn Christian Kröner da war, dann war er so richtig dabei, er hat begeistert. Er ist über die Bedeutung seines Unterrichts hinausgegangen, ohne dabei seine eigenen Fächer zu schmälern. Er war bereit dazu, uns über sein eigenes Metier hinaus wahrzunehmen, ja, er wollte seinen Schülern darüber hinaus begegnen. Wenn ich heute daran zurückdenke, dann kommt es mir so vor, als ob seine eigenen Fächer nur ein Vehikel für ihn waren, um sich um die Fragen der jüngeren Generation kümmern zu können, sich in die jeweiligen Entwicklungsprozesse einzubringen - zu ermutigen, zu ermuntern, zu unterstützen.

Er hat nicht danach unterschieden, aus welchem Elternhaus der eine oder der andere kam, oder wie gut oder schlecht unsere Leistungen waren. Nein, Christian Kröner ist uns allen gleichermaßen mit Wohlwollen und Respekt, mit Begeisterung und Enthusiasmus begegnet, er hat das jeweils Werdende in uns herausgefordert und geschätzt. So habe ich eine fachfremde Jahresarbeit bei ihm geschrieben, da er bereit dazu war, meinen Weg zu begleiten, der nicht aus seiner eigenen Fachkompetenz gespeist werden konnte.

Mit persönlichem Einsatz hat er dafür gesorgt, dass über das Curriculum hinaus Aktivitäten stattfinden konnten, die in unserer Klasse „dran waren“. Und er war nicht unser Klassenbetreuer, nein, aber wir waren seine erste Klasse damals, als er an die Schule kam. Das hat uns miteinander verbunden. Bis heute. Im November 2012 hatten wir nach unendlich vielen Jahren ein Klassentreffen. Und wer kam auch? Natürlich: Christian Kröner. Zwar mittlerweile „in Rente“ aber noch immer begeistert, schwungvoll, interessiert und hoch motiviert. Eine Begegnung auf Augenhöhe. 

Von jedem wollte er wissen, was er macht, wo er steckt, wie er lebt. Und auch von sich hat er erzählt, von seinen persönlichen Tiefen und Höhen, von dem, was ihn umtreibt, woran er arbeitet, was er macht. Und er erzählte auch mit einem Leuchten in den Augen, dass er im Frühjahr 2013 nach Südkorea fahren würde, um dort in der Waldorfbewegung zu unterrichten und vorzutragen.

Und vor einer Woche war dann zu erfahren, dass Christian Kröner am 04.05.2013 plötzlich verstorben ist. In Seoul, Südkorea. Mitten in der Arbeit. Bei jener Tagung von der er im November sprach. Unmittelbar nach seinem Vortrag ist er gestorben. Das macht mich sehr betroffen. Er verkörpert für mich den Zusammenschluss zwischen eigener Bescheidenheit und der Bereitschaft sich für den Anderen zur Verfügung zu stellen, den Anderen groß zu sehen. Christian Kröner war ein echter Lehrer, dem es gelungen ist nachhaltig zu berühren. Ich bin so richtig dankbar dafür, dass ich seine Schülerin sein durfte und er mein Lehrer war.

Sonntag, 5. Mai 2013

Von Schätzen in der Tasche. Koffer, Steine und das Leben


Ich nehme an, dass ich etwa in der dritten Klasse, also acht oder neun Jahre alt war. Zum Kunstunterricht mussten wir in die Grundschule einen großen Zeichenblock, A2, und Stifte mitbringen. Meine Mutter hatte mir extra dafür eine Tasche genäht, sie war aus einem festen Tuchstoff, rot-weiß gestreift und hatte oben an der Längsseite einen langen Reißverschluss. Mein Schulweg führte mich etwa zwanzig Minuten durch eine Betonlandschaft. Meistens liefen wir zu mehreren, wir wohnten ja alle in der gleichen Siedlung.

Eines Tages war meine Tasche besonders schwer. Ich mühte mich mit dem Tragen auf meinem Weg ab. Erst in der Schule schaute ich hinein und entdeckte zu meinem Erstaunen, dass ich einen großen, schweren Flussstein mitgenommen hatte. Er wog sicher zwei oder sogar drei Kilo. Da es ein Stein war, der normalerweise in unserem Wohnzimmer lag, trug ich ihn nach der Schule wieder zurück nach Hause. Er war richtig schwer und der Weg weit. Ich war wütend und verzweifelt, dass ihn mir jemand in die Tasche gesteckt hatte und ich so schwer zu tragen hatte. Das Gute daran war aber, dass ich ihn dann einfach wieder auspacken konnte.

Das ist im Leben nicht immer so. Heute bin ich es zwar gewohnt ständig meine Koffer und Taschen ein- und auszupacken, denn ich reise viel. Aber immer wieder frage ich mich, was ich überhaupt brauche, ob ich an alles gedacht habe oder ob ich gar ohne Gepäck reisen könnte. Manchmal habe ich das Gefühl, viel zu brauchen. Es könnte dies passieren oder jenes, ich könnte in diese oder jene Situation kommen, dieses Ding wäre vielleicht noch hilfreich oder jenes… Manchmal brauche ich wenig und manchmal verliere ich komplett den Überblick darüber, was eigentlich alles in meinem Koffer steckt.

Im übertragenen Sinne geht es dabei vielleicht nicht um Socken, Regenschirme oder das richtige Haarwaschmittel, sondern um steinige oder federleichte Erlebnisse und Erinnerungen, Menschen, die uns goldwert sind, intime Räume oder Worte die wir mit uns herum tragen, Wünsche, Vorsätze oder Entschlüsse, schlicht all das, was unser inneres Leben ausmacht. All die materiellen und immateriellen Dinge, die wir so herumschleppen (und die uns ja auch bereichern!), begleiten unser Leben. Im Laufe der Jahre hat sich da eine ganze Menge angesammelt.

An das Erlebnis in meiner Kindheit muss ich immer wieder denken, wenn mir mein Lebensrucksack, den ich auf meinem Weg durch den Alltag trage, zu schwer wird. Was habe ich eigentlich alles in meiner Tasche? Was trage ich alles mit mir herum? Fragen, Ängste, Sorgen? Vielleicht wieder irgendeinen Stein, den ich gar nicht brauche oder zumindest nicht weiß, wozu ich ihn brauchen könnte? Muss ich das alles dabeihaben? Und weiß ich überhaupt, was ich da alles ständig mit mir herum schleppe, was sich in den Tiefen meiner Taschen versteckt hat?

Manchmal greife ich mit meiner Hand in die Tasche, ohne das mein Blick folgen kann. Und ich taste nach etwas, was ich suche. Von dem ich denke, dass es doch da sein müsse. Und ich erwische etwas, was ich längst vergessen hatte. Neben alter Schokolade kann das auch ein Gedicht oder ein Gedanke sein, der da neben anderen lebensdienlichen Utensilien in den Tiefen meiner Tasche wartet, bis seine Zeit gekommen ist. Besonders überraschend kann es sein, wenn ich jemand anderen bitte, etwas aus meiner Tasche zu holen… und wir gemeinsam beginnen, mein ganz persönliches Panoptikum anzuschauen und darin zu lesen.

Als Kinder haben wir es ja schon geübt, möglichst viel mitzunehmen und das Bewusstsein darüber zu behalten… Wer kennt nicht das Spiel: „Ich packe in meinen Koffer…“ alles, was die Mitspieler imaginär hineingetan haben, muss erinnert und aufgezählt werden, in der richtigen Reihenfolge… Ich war darin nie gut. Denn ich konnte mir die verrückten Sachen nicht merken, die so völlig bezugslos eingepackt wurden. Zahnbürsten, Melkschemel, Matchboxautos oder eben Pflastersteine…

Vielleicht könnte ich mal wieder in meine Tasche schauen. Und es wagen, sie auf dem Tisch meines Lebens auszuleeren, um mit vertrauten Menschen darauf zu schauen. Möglicherweise lassen sich ja auch vergessene Schätze darin finden…