Montag, 8. Juli 2013

Walter Benjamin und die Stumme Sprache der Dinge


Das Gespräch über Benjamin hat mich betroffen gemacht, in mir ist etwas verstummt, eine blaue Stille ist entstanden. In dieser Stille ist zwar auch etwas zu hören, aber die Worte haben keinen Zugang zur Außenwelt sondern kreisen verstört in meinem inneren Universum. Und ich respektiere das, nehme die befangene Stille an. Heute. Verlange nicht, dass Worte aus meinem Mund kommen. Ich kann sie nur über eine andere Bahn schicken, ihnen die Möglichkeit geben, sich sacht und leise über Fingerspitzen und Augen-Blicke erlebbar zu machen. Du verstehst?

Ich weiß, es geht um die Worte im Inneren, um Bilder und Geschichten, um das Gespräch in mir, in dir, zwischen uns – mit ihm! - das sich entfaltet, entblättert, entblößt. Darum, dass Mensch und Welt nicht voneinander getrennt sind, sondern jeden Augenblick neu auseinander hervorgehen, miteinander klingen, irgendwie. Wenn ich in mich hinein lausche, dann höre ich, dass Benjamin auch in der blauen Stille in mir spricht, mit seiner leisen Stimme (die ich nie gehört), seinem vorsichtigen und durchdringend fragenden Blick (den ich nie gesehen habe) und doch… Er spricht, es spricht, etwas klingt und ich schweige. Du aber forderst, dass ich gerade von diesem inneren Gespräch erzählen möge. Wie soll das gehen? Ich bin doch sprachlos.

Gerade mit der Sprache, dem Thema der Sprachlosigkeit hat Benjamin gerungen. Er ist mir über seine Schriften entgegen gekommen, über seine Worte, die ich auf dem Papier gelesen habe, sie sind in mir erwacht, im Laufe der Zeit, irgendwie, und haben begonnen zu sprechen. Davon habe ich dir erzählt, damals im Zug. Du kanntest ihn bis dahin nicht. Aber es dauerte nicht lange, bis sich deine Tür für ihn öffnete, so dass er auch in dir einen Ort erhielt, ein gern gesehener Gast wurde. Benjamins Worte klingen, um es romantisch, ja vielleicht abgedroschen zu sagen, sie haben eine Aura. Längst sind natürlich auch die Worte von anderen dazu gekommen, die sich über die Worte Benjamins erheben und davon erzählen, was sie anrichten – zwischen mir und dir, zwischen ihm und ihr, im Zwischenraum.

Benjamin schreibt in der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“:

Der Strumpf
Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. Ich hatte nur am Knopf zu ziehen, so schnappte die Tür aus ihrem Schlosse mir entgegen. Unter den Hemden, Schürzen, Leibchen, die dahinter verwahrt gelegen haben, fand sich das, was mir ein Abenteuer aus der Kommode machte. Ich musste mir Bahn bis in ihren hintersten Winkel schaffen; dann stieß ich auf meine Strümpfe, die da gehäuft und in althergebrachter Art gerollt und eingeschlagen ruhten. Jedes Paar hatte das Aussehen einer kleinen Tasche. Nichts ging mir über das Vergnügen, die Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Ich tat das nicht um ihrer Wärme willen. Es war »Das Mitgebrachte«, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, »Das Mitgebrachte« aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte »Das Mitgebrachte« herausgeholt, aber »Die Tasche«, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, dass Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen, wie die Kinderhand den Strumpf aus »Der Tasche« holte.
[1]

Diese kurze Erzählung kommt an, bei mir, sie eröffnet ein weites, ja sehr privates Feld und umschließt Individuum und Welt – als Prozessgeschehen. Sie berührt Ebenen und Aspekte, die sich wie die Strahlen eines Kaleidoskops in die Welt der Gefühle, Erinnerungen, Ahnungen, Wünsche und Gedanken verströmen. Ein Kind, die Kommode, der Strumpf, die Hand – das Erlebnis. Und: die Schlussfolgerung.

Das Erlebnis wird zum Ereignis, eine kindliche Alltagsbegebenheit verzaubert, nackt und respektvoll, die Erinnerung an Vergangenes erschafft Zukunft. Die Stumme Sprache, wie Benjamin sie in seinem frühen Aufsatz von 1916 beschreibt[2], wagt sich aus dem Strumpf hervor und wirkt. Das Innere des Strumpfes spricht.

Und indem ich mich in die Erzählung begebe, ihr nachgehe, entrollt sich der eingewickelte Strumpf in mir, meine Finger tasten das Verborgene, das Mitgebrachte wird zur Tasche, die mit Benjamins Worten gefüllt ist und meinen begegnet – die blaue Stille erwacht und rinnt in die Welt. Das Gespräch mit ihm ist tastend – delikat. Verstehst du, wovon ich mit meinen Fingerspitzen und den Augen-Blicken sprachlos und stumm erzähle? Lass uns weitersprechen, irgendwie. Erzähle, was entfaltet Benjamins Erzählung in dir?

[1] Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt, 1987, „Der Strumpf“, Seite 58.
[2] Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.

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