Sonntag, 30. Dezember 2012

Einladung. An den fernen Freund


Ich habe schon lange nichts mehr von dir gehört. Aber meine Gedanken suchen manchmal deine Nähe, wenn ich mich frage, was mein Part an der Sache ist. Und dann öffne ich mich für die Frage, wie du dich wohl fühlst, wo du bist, was du machst und vor allem, was du brauchst… Wie ist die ganze Sache in dir verblieben, die du damals mitgemacht hast. Was lebt, wo liegt die Zukunft offen, was ist zur Blume geworden, wo liegen Schmerz und Tod?

Fragen über Fragen, ich suche die Antwort im Meer des Lebens, fünfhundert Jahre später, zu spät? Es geht um die sanfte Stelle die Berührung scheut und Schutz herbeisehnt, einlädt und abwehrt zugleich. Ich kann nicht anders, als an Wunden zu denken und auf Wunder zu hoffen, dein Schmerz ist auch mein Schmerz – so wurde ich sozialisiert.

Deine Wunde hat dich schwach gemacht – so scheint es mir, aber ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist. Richtig und Falsch sind Vokabeln, die ihre klaren Konturen verloren haben, die Ränder der Worte sind fransig, offen, hilfsbedürftig. Wo ist die delikate Stelle, von der du neu beginnen willst, ja musst? Traust du dich nicht wieder aufzutauchen?

Ich kann es nur denken. Wenn Leben und Tod, Tag und Nacht, das Helle und das Dunkle kein Rad sind, die ineinander greifen und einander Schwung verleihen, dann bin ich verloren, denn dann gibt es keine Chance. Dann sind wir unwiderruflich gescheitert. (Übrigens ein modernes Wort heute – en vogue – die Menschen fürchten sich davor und tragen es darum wie Fesseln mit sich herum, alles und jeder scheitert, irgendwie.)

Ich kann es nur fühlen. Du bist für mich nicht allein zu denken. Nein, das geht gar nicht. Mein Wort ist „Schicksalsnetzwerk“. Ein komisches aber großes Wort, es könnte konstruktivistisch gedeutet werden, aber es braucht einen Festpunkt, jedes Individuum zählt. Es beinhaltet Sinn, das große Ganze und Arbeit. Ja, das Leben ist Arbeit – so wie das Sterben, das Loslassen und Schlafen auch. Alles, was über uns hinausgeht wird, wenn der Schnee schmilzt, wieder an die Oberfläche kommen.

Ich kann es nur wollen. Nein, das passt nicht. Ich will es. So muss es heißen. Ich will es, weil mir sonst das Segel auf dem kleinen Lebensboot fehlt. Ich brauche es, so einfach ist das. Auch Vergangenheit und Zukunft bedingen einander, gehen auseinander hervor, so what? Wo kein Sinn ist, braucht es Rosen – sonst wird er mühsam, der Gang über die alten Steine.

Ich weiß so wenig von dir. Aber du lässt mich nicht los. Ein paar Fakten. Bilder. Gedanken von Menschen. Viele Urteile, ja, die Menschen urteilen über dich, über die Zeit, die Geschehnisse, das Gesamtkunstwerk. Für die Menschen macht das Leben erst Sinn, wenn es einen Sinn gibt. Sie brauchen einen Sinn, Ziele, Hoffnungen. Und wenn es das nicht gibt, dann suchen, spüren und ahnen sie, bis sie meinen am Horizont ein Glimmen zu erkennen… Auch ich kann mich dessen nicht verwehren.

Immer wieder lande ich bei dir (oder du bei mir?). Punktgenau. An deinem Ort, in deiner Zeit. Heute bin ich mit dir aufgewacht (oder hast du mich geweckt?). Auch deine Gefährten bevölkern mein Herz, meine Gedanken, meine Träume. Ich möchte euch gerne an meinen Tisch einladen und hören, was ihr zu sagen habt. Die Tür ist offen. Auch wenn ich zeitlich und räumlich weit weg bin (wer weiß?), mit Dingen zu tun habe, die mir entschieden zurufen mein Alltag zu sein, der nichts mit euch zu tun habe, so gehörst du dazu, so gehören die Freunde dazu, ohne euch bin ich nichts, geht es nicht. Das sind entscheidende Glückserkenntnisse.

Wenn Bilder, Gedanken und Steine schweigen, dann versteckt sich der Kern, dann zögert er noch, die Luft des 21. Jahrhunderts zu atmen. Aber wir brauchen euch, bitte, sprecht! Benutzt eine Sprache, die wir verstehen, wir dummen Toren, die mühsam lernen müssen, auf ihr Herz zu hören. Ich bin bereit (und meine Freunde auch!), der Zeitpunkt könnte günstig sein – ferner Freund, wisse dich mit den Deinen eingeladen.

Montag, 24. Dezember 2012

Zu Weihnachten: Peter Handke über "Ruhe"

„Ich glaube an die Ruhe. Für mich ist die Ruhe das Höchste, das Intensivste am Menschen. Aus der Ruhe kommt alles. Die Ruhe ist dramatisch. Die Ruhe will aktiv werden. Die Ruhe strahlt. Das sagt man ja: Er strahlt Ruhe aus. Die schönste Strahlung ist die Ruhe. Ruhe ist Freude, ist Teilnahme, ist Erbarmen, ist Gott. Ich spreche von einem Ideal. Die Ruhe ist auch Lust.“
(Peter Handke in einem Interview in der SZ im Dezember 2012)

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern schöne Weihnachten und inspirierende Tage und Nächte. 
Herzlich, Sophie Pannitschka

Sonntag, 23. Dezember 2012

Zum vierten Advent: Rilke

Das ist der alte Menschheitstraum,
Als Auftrag stetig aufgegeben.
Dass wir die Ehrfurcht vor dem Leben
Als Maß begreifen über Zeit und Raum.
Das ist der Weihnacht tiefster Sinn:
Dass Liebe wieder mächtig werde
Und ihre Urkraft unserer Erde
Die Hoffnung leih´
Zum Neubeginn.    
                            
Rainer Maria Rilke

Samstag, 22. Dezember 2012

Klassentreffen. Sind wir geworden, was wir werden konnten?


Einladung zum Klassentreffen. Im 28. Jahr nach dem Abitur. Die meisten haben sich vor 40 Jahren kennenglernt… Was löst das aus? Fahre ich hin? Mache ich, trotz vieler Reisen, noch eine Extra-Schleife über meine alte Heimatstadt und lasse mich auf die Begegnung mit Menschen ein, mit denen ich viele Jahre verbracht habe, die ich aber schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen geschweige denn Kontakt habe?

Ich fahre. Treffe mich am Hauptbahnhof mit zwei alten Freunden und einer alten Lehrerin – die Stimmen am Telefon waren wiederzuerkennen. Und als wir uns sehen ist eins klar: wir wissen fast nichts mehr voneinander, sind uns tief vertraut und gehen damit offenherzig, vertrauensvoll und positiv aufeinander zu. Obwohl die Lebenswege verschachtelt und nicht unbedingt kompatibel sind, ist es wie nach Hause zu kommen.

Der schlanke, hellhäutige Typ im grauen Anzug raucht ununterbrochen. Seine tiefe Stimme und die wohlformulierten Sätze bilden den Gegensatz zu seiner offensichtlichen Nervosität. Auf dem Boden gelandet und im Himmel geblieben. Staunend stehe ich vor ihm, es ist, als ob wir gestern zuletzt miteinander geredet hätten. „Damals“ haben wir viel Zeit miteinander verbracht, philosophisch die Gestalt der Zeit erörtert, versucht, das Leben zu verstehen, haben geredet und geredet und geredet.

Und da ist der andere Typ. Groß und stattlich, ruhig und besonnen. Seine Brillengläser werden heute von einem teuren Gestell getragen. Anwalt sei er geworden, wie seine Frau, vier Kinder habe er, im Elb-Florenz habe man sich niedergelassen, die Midlifecrisis sei vorüber, die entscheidenden Fragen allerdings geblieben. Was haben wir damals fürs Abitur zusammen gebüffelt… Unsere Begegnung ist von Respekt und Wärme getragen. Zeit und Raum werden nicht reichen um wirklich ins Gespräch zu kommen.

Und sie. Die Lehrerin, nur zwölf Jahre älter als wir. Redet drauf los, wie damals. Offen, direkt, frech und doch irgendwie anständig, wohlerzogen. Lachende Augen, ergraute Haare, ihre zerbrechlichen Hände bilden den Gegensatz zu ihrer geformten und ausdrucksstarken Sprache. Wir waren ihre erste Klasse. Sie erzählt von ihren Erlebnissen und Ängsten – damals. Von unserem Wohlwollen, der tiefen Verbindung die wir über das Theaterspielen miteinander eingegangen sind, wir sind uns nah, herzlich nah.

Wie mag ich wohl für die anderen drei erscheinen, wie sehen sie mich, was kommt in ihnen auf?

Und dann kommen wir Vier in der Kneipe an. Und das Hallo hört gar nicht mehr auf. Wir erkennen einander, allerdings sind die Falten und Furchen im Gesicht neu und nicht zu übersehen. Gelebtes Leben. Mein Gott, ist viel Zeit vergangen… Ehen wurden geschlossen und wieder getrennt, eigene Kinder geboren, Kinder von Lebenspartnern dazu genommen, Lebensentwürfe geplant, verworfen, angepasst, berufliche Hürden genommen und immer weiter in der Achterbahn des Lebens gefahren…

Die, die da sind, sind gut drauf. So scheint es. Jeder zeigt sich erst einmal von seiner Schokoladenseite. Nach einer Runde, in der jeder für alle von sich erzählt, entstehen Zweiergespräche. Da kommen dann schon auch andere Themen auf. Verluste, Unsicherheiten, Beschränkungen, unerfüllte Wünsche… Nicht alle haben das Gefühl, dass sie ihr Leben in der Hand haben, aber die meisten machen irgendwie mit.

Wir waren auf der Waldorfschule. Und dort sollten wir zur Freiheit erzogen werden. Mittels einer Bildungsidee, die sich auf den Humanismus bezieht, erfahrungs- und handlungsorientiertem Unterricht und breiten Bildungsinhalten, die möglichst die ganze Welt umspannen sollten. Gegründet waren die Anstrengungen auf die Hoffnung, dass jedes Individuum einen Zugang zu den eigenen Ressourcen findet, um dann, irgendwann, im rechten Moment das Richtige zu tun. Im Klassenverband sollten soziale Fähigkeiten erworben werden, die weit über die persönlichen Möglichkeiten hinausgingen, scheinbare Grenzen sollten zu Schwellen mutieren, die überschritten werden können.

Und, ist das geglückt? Ich glaube, dass es ganz gut aussieht…

Wie aber blicken Lehrer auf ihre Schüler zurück, was waren ihre Motive, dass sie uns unterrichtet haben, was waren ihre Wünsche und Hoffnungen ihrer methodisch-didaktischen Anstrengungen, was waren ihre Ziele? Haben wir ihren Vorstellungen entsprochen, ist aus uns das geworden, was aus uns werden konnte?

Der Austausch war belebend - was haben wir gelacht! - uns gemeinsam erinnert, an Lehrer und ihre Gewohnheiten, an wiederkehrende Situationen, Klassenfahren und Praktika, Rollenzuweisungen und Überraschungen, gemeinsame Bühnenauftritte und schließlich die Abschlussprüfungen… Erstaunlich aber war, dass viele meiner Mitschüler ihre eigenen Kinder nicht auf eine Waldorfschule schicken… Was schlummert da für eine Sorge?

Es wäre gut, sich in einigen Jahren wieder zu treffen und die Fragen zu besprechen, die noch am Horizont geblieben sind.

Sonntag, 16. Dezember 2012

Zum dritten Advent: Die Luft riecht schon nach Schnee

Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter
Trägt langes Haar, ach der Winter, der winter der uns
Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt
Mit dem Windhundgespann. Eisblumen
Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und
Du Schünster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß
Ich sage das ist
Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel.

Sarah Kirsch

Zwei munter quatschende Frauen. Und plötzliche Stille



In der großen Erzählung, die Gelehrten nennen es gerne Narration, gibt es an einem Montagmorgen, ziemlich früh, etwas zu bemerken. Einen kleinen Vorfall zu beachten. Ich stehe am Bahnhof einer Kleinstadt. Es ist noch dunkel, die Bahnsteige sind spärlich beleuchtet, überall glitzert Schnee und ein paar arme Kreaturen, mich eingeschlossen, warten in der Kälte auf den Zug, der sie in die große weite Welt bringen soll. Dorthin, wo etwas geschieht – oder eben geschehen soll.

Das Ritual ist nicht neu. Ich gehe immer auf der rechten Seite die Treppe zum Bahnsteig hoch, weil dort das Ende des Zuges halten wird – was mir wiederum beim Umsteigen viele Schritte auf dem folgenden Bahnsteig ersparen wird. Ich kenne die Strecke. Erst stehe ich ein paar Minuten da, immer bin ich zu früh, dann beginne ich auf und ab zu laufen. Es ist eindeutig zu früh am Morgen und zu kalt. Den ersten Espresso erhalte ich erst im ICE, in den ich eine Stunde später steigen werde.

Mittlerweile erkenne ich ein paar Menschen – weil sich die frühe Wartesituation wöchentlich wiederholt. Da ist der junge Mann, der mit seiner Aktentasche immer in Bewegung ist und dabei raucht. Da ist der ältere Mann mit seinem Rucksack, der wie ein Wanderer aussieht und der offensichtlich jede Woche etwas vor hat. Und da sind die beiden Frauen und der Mann, der zu ihnen zu gehören scheint, jedoch immer in zweimetrigem Abstand hinter den beiden steht.

Die beiden Frauen reden immer ununterbrochen. Sie sind beide groß, haben ihre Haare von einem Friseur zurechtlegen lassen, tragen Jeans, dicke Jacken und flache Schuhe. Geschminkt sind sie nicht. Beide haben nur eine Handtasche bei sich. Immer. Sie fahren auch nur eine Station. Das weiß ich mittlerweile. Ich nehme an, dass sie in einer Fabrik arbeiten, die sich gleich beim Bahnhof der nächsten Station befindet, nur 8 Minuten Fahrt.

Wie gesagt, sie reden ununterbrochen miteinander. Ich kenne sie nicht anders. Was es zu so früher Stunde alles zu besprechen gibt weiß ich nicht. Wirklich nicht. Aber sie fallen auf – denn alle anderen sind still. Der Mann steht immer dabei, sagt nie etwas, und trottet am Zielbahnhof hinter ihnen her. Ich nehme an, dass auch er zur Frühschicht gehört.

Dem besagten Morgen ist offensichtlich etwas vorangegangen. Etwas, was mir definitiv entgangen ist. Denn: Als ich die Treppen hochsteige sehe ich die eine Frau schon dastehen. Das ist noch nie passiert. Und ich denke mir, dass die andere vielleicht krank ist oder nachkommt. Der Mann steht mit seiner Sportumhängetasche da. Wie immer. Etwas entfernt. Da mir aber kalt ist, beginne ich meine Wanderungen auf dem Bahnsteig.

Und da sehe ich die andere Frau am anderen Treppenaufgang stehen. Alleine. Die eine hier, die andere dort. Etwa 12 Meter voneinander entfernt. Sie reden nicht miteinander. Schauen sich nicht an. Nein, sie tun beide so, als wenn sie alleine auf der Welt wären. Was um Gottes Willen ist passiert? Zwischen den beiden? Welche Geschichte hat sich ereignet, dass sie sich nun nichts mehr zu sagen haben?

Ich bin erstaunt. Überrascht. Betroffen. Die beiden quatschenden Frauen gehörten zu dem morgendlichen Auf-den-Zug warten. Und jetzt ist die Welt plötzlich anders. Warum nur? Ich habe etwas verpasst. Was für eine Unstimmigkeit gab es? Eifersucht? Einen Streit? Übervorteilung der einen? Beleidigungen? Welche Geschichte hat sich ereignet, dass die beiden sich heute so harsch und entschieden still voneinander abwenden?

Sonntag, 9. Dezember 2012

Zum zweiten Advent: Briefwechsel

Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.

Ilse Aichinger

Samstag, 8. Dezember 2012

Fortsetzung von "Verborgene Geschichten, die sich im Kerzenlicht zeigen"


…und ich bin es, die vor der Tür steht. Irgendetwas in mir hat mir zugeraunt, dass ich in dieser kalten Sternennacht zu Anna gehen solle. Der Weg zu ihr ist beschwerlich, aber da ich ihn auch schon einmal im Licht des Tages hinter mich gebracht hatte, wusste ich so ungefähr, wie ich gehen musste. Welche Pfade, Wege, Straßen einzuschlagen wären – ich folgte dem Ruf, den sie mir auszuschicken schien und stapfte durch die finstere Stadt.

Auf den Straßen fehlten die Menschen. Hie und da ein Licht hinter verschlossenen Fenstern, Beleuchtungen in Schaufenstern, Blinkreklame. Alles schien auf den nächsten Morgen zu warten. Wenn die Telefone wieder klingeln durften, Geschäftszeiten eingehalten werden konnten, wenn der Alltag wieder die Oberhand gewinnen würde und das Leben seinen routinierten Gang nähme.

Und da stand ich nun. Eigentlich wusste ich gar nicht warum. Die Verlegenheit eroberte mich. Es war spät am Abend und wir kannten uns nur flüchtig. Warum hatte ich bei ihr geklingelt? Der verklingende Klingelton der Haustür war das einzige, was zu hören war – außer meinem Herzklopfen, was mein Inneres durchpulste. Auch sie schien überrascht zu sein als sie mich sah und ihre Augen schauten mich fragend an.

Anna schien kurz zu zögern, aber ich durfte eintreten. Für meine Erleichterung war es ein Leichtes, die Verlegenheit zu vertreiben und ich folgte ihr den Flur entlang zu ihrem Wohnzimmer. Und da sah ich es, warum sie gezögert hatte. Und, ich wusste unmittelbar, warum ich gekommen war.

Es waren die Geschichten. Das, was sich zwischen Menschen abspielt, zwischen mir und dir, das, was man Leben nennt. Anna hat einen guten Umgang mit ihren Geschichten, weil sie eine Säule in ihrem eigenen Leben ist. Das wusste ich. Und nun lagen sie alle da, die Ereignisse. Ich sah sie und staunte. Staunte, was es da alles zu sehen gab. Ich wusste, dass sie mich damit unweigerlich in ihre Geheimnisse einweihte, in ihre Innenwelt mitnahm, das Verborgene zeigte.

Anna: Du hast mich gesucht. Hier siehst du mich. Ich habe mich ausgebreitet.

Ich: Dein Leben ist reich und erfüllt.

Anna: Dankbarkeit, Demut und Ergebenheit. Ich habe viel geweint in diesem Jahr. Aber heute sehen alle Geschichten golden aus. Sie glänzen und lassen mich erwachen. Heute Abend kann ich darüber lächeln und die Keime entdecken, die mich in die Zukunft führen.

Ich: Wie schaffst du das? Da sind doch merkwürdige Dinge passiert. Sprechen die Gegenstände zu dir? Die kaputte Tasse, die du so gerne mochtest? Woher nimmst du die Hoffnung? Wie kannst du all das aushalten?

Anna: Du fragst viel. Zu viel. Setz dich. Fragen führen uns. Immer weiter. Sie halten uns in Bewegung. Aber du brauchst Ruhe. Du brauchst eine Antwort. Erzähle mir deine Geschichte. Wir werden etwas darin finden.

Ich: Ich habe keine Geschichten. Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll. Ich bin ganz voll und ganz leer. Es passiert so viel. Und gleichzeitig nichts. Ich bin verwirrt. Kann die Zeichen nicht deuten. Weiß nicht, wo anzufangen, wo hinzugehen…

Anna: Du bist hierhergekommen. Zu mir. Zu meinen Geschichten. Du suchst eine Geschichte. Deine Geschichte. Setz dich. Ich werde etwas Heißes zu trinken machen. Und dann darfst du erzählen.

Stille. Anna hantiert in der Küche. Ich verfluche den Umstand, dass ich hergekommen bin. Was nun? Ich soll erzählen? Keine Fragen stellen? Aber die Ruhe nimmt mich langsam ein, überkommt mich, sie beginnt zu wirken, ich kann mich nicht dagegen sträuben, sie nimmt mich an die Hand, wie eine sanfte Schlaftablette, ich schaue in Annas Geschichten hinein und nehme wahr, dass das geht.

Als ich aufschaue kommt Anna gerade wieder zur Tür herein. Der Ingwerduft macht mich wach. Und ich spüre die Glut der Geschichte in meinem Herzen, weiß, wie ich beginne zu erzählen…

Rose Ausländer: Unverlässlich

Wir
zwischen Himmel und Erde
beiden hörig

Abglanz
Echo

Wirklichkeit
unser unverlässliches
Märchen

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Joachim Ringelnatz: Schenken

Schenke groß oder klein,
Aber immer gediegen.
Wenn die Bedachten
Die Gaben wiegen,
Sei dein Gewissen rein.

Schenke herzlich und frei.
Schenke dabei,
Was in dir wohnt
An Meinung, Geschmack und Humor,
So daß die eigene Freude zuvor
Dich reichlich belohnt.

Schenke mit Geist ohne List.
Sei eingedenk,
Daß dein Geschenk
Du selbst bist.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Rainer Maria Rilke

Die hohen Tannen atmen heiser
im Winterschnee, und bauschiger
schmiegt sich sein Glanz um alle Reiser.
Die weißen Wege werden leiser,
die trauten Stuben lauschiger.

Da singt die Uhr, die Kinder zittern:
Im grünen Ofen kracht ein Scheit
und stürzt in lichten Lohgewittern,-
und draußen wächst im Flockenflittern
der weiße Tag zur Ewigkeit.

Dienstag, 4. Dezember 2012

Augustinus

O Mensch,
lerne tanzen,
sonst wissen die
Engel im Himmel
nichts mit dir
anzufangen.

Montag, 3. Dezember 2012

Else Lasker-Schüler: Gebet

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.

Und wandle immer in die Nacht...
Ich habe Liebe in die Welt gebracht -
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.

O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest;
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

Sonntag, 2. Dezember 2012

Zum ersten Advent

Ich sage Dir:
Es gibt keine göttliche Amnestie,
die Dir das Werden erspart.
Du möchtest sein:
Du wirst nur in Gott sein.
Er wird Dich in seine Scheune einbringen,
nachdem du langsam durch Deine Handlungen geworden
und geknechtet sein wirst;
denn der Mensch braucht lang
zum Geborenwerden.

Antoine de Saint-Exupery

Samstag, 1. Dezember 2012

Verborgene Geschichten, die sich im Kerzenlicht zeigen


Was geschieht mit den Geschichten, die noch nicht erzählt wurden? Mit den Erlebnissen, die nicht geteilt wurden? Mit dem, was Menschen passiert und was bislang niemand erfahren hat?

Anna sitzt am Fenster und schaut den Schneeflocken zu, wie sie die Welt bedecken. Wie sich Schneeflocke auf Schneeflocke legt und somit einen weißen Teppich über die Erde ausbreitet. Auf den Zweigen des Baumes liegen dicke weiße Polster, die sich dann auflösen, wenn Wind oder Wärme kommen, noch aber thronen sie wie ein Zuckerguss in der Krone der Kastanie. Manche Geschichten sind Muscheln in der Zeit und werden nun vom Schnee bedeckt.

Himmel und Erde unterscheiden sich heute durch Farbnuancen, weiß und weiß und noch einmal weiß. Das Leben hat sich nach innen verzogen. Die Erde ruht – verarbeitet den Herbst und den Sommer und bereitet sich auf das Frühjahr vor. Auf neue Geschichten. Der Winter lädt ein, die verborgenen Geschichten zu erzählen, die, die noch nicht erzählt wurden. Geschichten zwischen Menschen. Ereignisse, Erlebnisse. Anna denkt an Semai – sie kommt aus dem Land der Geschichten und wird nicht in das eingehen, was man Geschichte nennt...

In den Häusern brennt Licht, wenn es dunkel wird. Anna erinnert sich an den gestrigen Abend. Sie hat die Lichter gesehen. Viele Fenster waren erleuchtet. Aber die Menschen hat sie nicht gesehen. Vorhänge haben sie verdeckt. Manchmal auch Jalousien, die nur kleine Schlitze für das die Weite suchende Licht ließen. Auch hat sie leere Fenster gesehen. Sie ahnt, dass sich ganz verschiedene Szenen hinter den Fenstern, in den Häusern abspielen. Abgespielt haben. Abspielen werden. Manche Geschichten sind versteckt und manche sind schrecklich.

Anna legt ihre Geschichten des letzten Jahres auf den Tisch. Sie holt eine nach der anderen hervor. Es sind viele. In jeder kommt sie selber vor. Irgendwie. Es sind ihre Geschichten. Sie will sie sortieren. Ihnen Namen geben, wenn sie schon keinen Platz in der Welt gefunden haben, damit sie sie wiederfindet, irgendwann einmal. Zu dem Zeitpunkt, wenn eine Geschichte ans Licht drängt. Wenn sie erzählt werden will, wenn ihre Zeit gekommen ist. Anna versorgt ihre Geschichten – die gelebten und die nicht-erlebten, die goldenen und die grauen, die leichten und die schmerzhaften.

Ihre Geschichten brauchen unterschiedliche Plätze, sie wollen einen passenden Ort. Manche wollen auf Moos gebettet werden (woher bekommt sie das, überall liegt doch Schnee!), sie wollen weich liegen und sind auf den Geruch des Waldes angewiesen. Andere brauchen eine Hülle, sie wagen sich kaum ins Licht. Und da ist eine eckige und kantige Geschichte, die sich kaum berühren lässt und die Welt von sich abzuhalten versucht. Eine andere ist wässrig, braucht einen Rahmen, damit sie sich selbst nicht verloren geht. Und es gibt zarte und weiche Geschichten, wie Flaumfedern – wo haben sie ihren Ort, wo können sie überwintern?

Ob die Vergangenheit der größere Teil ihres Lebens als die Zukunft ist? Sie wissen es nicht. Sie liegen noch da, unverarbeitet, bereit ins Leben zu stapfen, sich einzumischen, sich neu zu gebären. Wer seinen Geschichten nicht folgt, verliert sein Herz… und das wissen sie. Darauf bauen sie. Geschichten suchen sich Menschen, Handlungsträger. Um gelebt zu werden brauchen sie menschliche Herzen, die sie weitergeben. Obwohl Geschichten und das tägliche Brot Gegensätze sind, denn keiner kann Poesie essen…

Einige Geschichten beginnen zu wispern, sie sind noch nicht fertig. Sie wollen nicht nur gesehen, sondern auch gehört werden – zumindest von Anna, die ja ihre Eigentümerin ist. Unterschiedliche Klänge erheben sich, etwas, das wie ein fernes Meeresrauschen klingt, wie zwei Herzen, die aneinander stoßen, etwas, wie klingende Steine, die wie an einem Wasserhahn hinunter rinnen. Am frühen Abend sind Geschichten kostbar. Hinter einer finsteren Nacht liegt der Tod.

Anna staunt, was sie alles vorfindet. Ist entzückt und beglückt, erschreckt und betroffen. Ein Kaleidoskop von Gefühlen durchdringt sie, sie braucht noch mehr Flächen, um ihre Geschichten abzulegen. Manche haben mehr Farben in sich als der Regenbogen, manche teilen Träume aus, Albträume oder Einsamkeit und manche sind kleine Goldstücke im Getriebe, letzte Rosen im Novembersturm, an denen silberne Tränen hängen.

Anna ist umringt von ihren Geschichten, in ihren Gefühlen auch ambivalent. Es ist Nacht geworden, ihre Fenster leuchten in die stille Dunkelheit hinaus. Und plötzlich klingelt es an der Tür. Da kommt jemand, da will jemand herein, und dabei ist sie doch gerade mit ihren verborgenen Geschichten beschäftigt, die nur sie kennt….

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Hiermit möchte ich meine Leserinnen und Leser herzlich dazu einladen, in der Adventszeit ihre verborgenen Geschichten auszupacken und zu erzählen. Kleine Ereignisse, besondere Momente, Träume, Wünsche, kleine Zwischenfälle, Episoden, Zeichen oder Begebenheiten. Gerne auf diesem Blog, umringt von bizarrem Licht, das die Adventszeit uns schenkt – und es brauchen nicht viele Worte zu sein.