Samstag, 27. November 2010

Steine sprechen eine stumme Sprache. Und wieder: Florenz

Auch der zweite Landeversuch missglückte. Mitten in einer finsteren Regenwolke begann das Flugzeug plötzlich und kraftvoll wieder nach oben zu ziehen. Der Pilot meldete sich entschuldigend und bekräftigte, dass keine Gefahr drohe, irgendwie würden sie schon auf festem Boden landen, die Gewitterwolke über Florenz sei augenblicklich aber so undurchdringlich, so dass er seine Fluggäste nun nach Pisa fliegen und dort sicher zu Boden bringen würde.

In Pisa strahlte die Sonne und es dauerte eine Weile bis Anna sich orientiert hatte. Auf den Bus zu warten schien ihr zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen, also suchte sie den Bahnhof und machte sich mit dem Zug auf den Weg nach Florenz. Mit vier Stunden Verspätung erreichte sie die Stadt am Arno und lief mit ihrem Koffer durch die Stadt. Den ersten Espresso ließ sie sich langsam auf der Zunge zergehen. Sie war angekommen. Ihr herrschaftliches Appartement lag direkt am Dom und dem Baptisterium in der Via Roma. Maria erwartete sie schon.

Nun war sie also da. Wieder einmal. In der alten Stadt. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig und ragt in die Gegenwart. Anna sah aus den Fenstern, jeder Blick bot ihr eine andere Perspektive auf die prächtigen Gebäude. Schon seit langem waren die Autos aus dem Zentrum verbannt worden und so lag der Platz still vor ihr. Hin und wieder wurde er von einem Taxi oder einem kleinen Lieferwagen durchkreuzt, die Stimmen der Menschen hörte sie bis in den 4. Stock kaum. Sonne und Wolken wechselten einander ab. Die Steine schwiegen und spiegelten durch ihre glänzende Nässe das Geschehen in der Vertikalen.

Mit Maria, einer stolzen Florentinerin, trank sie den zweiten italienischen Espresso, bevor sich beide auf den Weg machten. Aber wo wollte sie eigentlich hin? Die Luft war frisch, nach dem Regen, und überraschend warm. Die abendliche Dunkelheit legte sich sanft über die Stadt, die Ladenbesitzer entzündeten ihre Lichter. Die vielen kleinen Schaufenster leuchteten hell und einladend, Straßenmusik war an jeder Ecke zu hören. Hier gehört die Nacht zum Tag. Die Straßen bleiben bevölkert und das Leben geht weiter.

Die steinerne Stadt gibt Heimat. Sie steht still und ehrwürdig da, präsentiert sich als Mahnmal für all diejenigen, die hinschauen. Die Fassade der Kirche San Lorenzo ist seit fünfhundert Jahren unvollendet – und das bleibt sie wohl auch. Aber wohin richtet die Stadt ihre Aufmerksamkeit? Wovon spricht eine unfertige Fassade? Der Dom, von oben gesehen wie ein großes Schiff aussieht, steht still und erhaben da. Das Dante-Haus, das Kloster San Marco, der Palazzo Medici, Palazzo Vecchio und viele Gebäude mehr. Alle sind da und harren aus.

Das Leben war kurz - damals. Lorenzo wurde dreiundvierzig, Poliziano vierzig, Pico nur einunddreißig. Warum starben sie innerhalb von kürzester Zeit? All dies geht Anna durch den Kopf, sie fühlt sich beteiligt. Und sie erinnert sich, dass nur Marsilio Ficino die anderen überlebt hat, er wurde knapp sechsundsechzig Jahre alt. Die Lebensdauer betrug vor fünfhundert Jahren etwa die Hälfte unserer Lebenserwartung heute. Und doch hat man gerade damals mit einem langen Leben gerechnet, sich auf die Zukunft ausgerichtet. Häuser und Paläste wurden für Generationen gebaut. Für Jahrhunderte. Nein, damals war die Zeit nicht so kurzlebig wie heute, wo jeder, wenn überhaupt, nur noch die eigene Lebensdauer ins Visier nimmt.

Die Palazzi wären auch heute noch bewohnbar. Es ist bekannt, wer wo gewohnt hat, was damals an welchem Ort stattgefunden hat. Anna wandert mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die engen Gassen und über die prächtigen Plätze. Sie ist hier zuhause und doch fühlt sie sich einsam wie selten sonst im Leben. Touristen aus aller Welt laufen mit ihren blitzenden Fotoapparaten an ihr vorbei, überall wird an die glorreiche und wechselvolle Geschichte der Stadt erinnert. Man prahlt mit den alten Meistern: Michelangelo, Leonardo, Raffael und vielen, vielen mehr. Aber sie sind alle tot.

Damals waren die Gebäude belebt. Menschen gingen ein und aus, sie lebten, stritten, hofften und bebten darin. Dramen spielten sich ab, sogar Morde fanden statt. Vor zwei Jahren grub man Picos und Polizianos sterbliche Überreste aus, um zu untersuchen, ob die Gebeine etwas über ihre Todesursache verraten. Die Geschichte dauert also an, auch nach fünfhundert Jahren noch. Heute stehen die meisten Palazzi verlassen da. Sie stehen und stehen und warten und warten – und dürfen nur noch besichtigt werden. Aufsichtspersonal und Carabinieri scheinen in der Renaissance-Metropole sichere Posten abzugeben.

Anna durchstreift die Stadt mit einem Blick nach hinten. Damals. Das Verhältnis zwischen Stadt und Land scheint gut zu sein. Kein Baum und kein Tier sind weit und breit zu sehen in der steinernen Stadt – das wird wohl damals auch schon so gewesen sein. In der Markthalle aber, da wird die Pracht der Natur, Früchte und Gemüse in jeder Form, Fleisch, Fisch und Käse vor ihr ausgebreitet. Alles ist zu haben, was sich vorstellen lässt.

Der Humanismus hat damals Fuß gefasst. Marsilio Ficino hat Platon übersetzt – als erster. Als er dreiunddreißig Jahre alt wurde, war er mit dieser Aufgabe fertig. Die Texte haben fast zweitausend Jahre darauf gewartet. Eine lange Zeit. Anna versucht nach vorne zu schauen, über die Toten in ihren alten Gräbern hinaus. Was kommt aus der Zukunft auf sie zu? Auf Florenz zu? Und noch einmal: woran erinnert die Stadt, womit mahnt sie? Wo will sie hin?

Die Steine ertragen die Schritte der Menschen. Bis sie abgenutzt sein werden, wird es noch lange dauern. Auch das Wasser fließt noch, der Arno – und auch er wird weiterfließen. Anna hat das Gefühl in die Vergangenheit zurück gezogen zu werden. Es war eine intensive Zeit damals. Maria, ihre Freundin und geborene Florentinerin, weiß fast nichts davon. Sie lässt sich staunend in die Kirche Santa Maria Novella mitnehmen und hört gebannt zu, als Anna erklärt, wer welche Figur ist, die da an die Wand gemalt wurde. Wird es noch weitere eintausend fünfhundert Jahre dauern, bis wieder einer in Florenz aufsteht, um zu übersetzen, was die Altvorderen zu sagen hatten und damit in die Zukunft weist?

Anna ist (zu) früh gekommen. Sie nimmt das Schweigen aus der Stadt mit und trägt es still in sich. Die alten Freunde von damals sind nicht vergessen. Sie leben so lange auf der Herzinnenseite weiter, bis sie sich wieder nach außen kehren dürfen, bis die Steine sich öffnen und für diejenigen anfangen zu sprechen, die bereit sind darauf zu hören.

Sonntag, 21. November 2010

Zwischen Wörtern sitzen. An- und Abwesenheit

Sie lag noch im Bett, als sie aufwachte, was selten geschah. Meistens kam sie erst zu sich, nachdem sie sich auf leisen Sohlen, und immer wieder zögernd, an den Tag herangemacht hatte und in ihrem halbwachen Zustand mindestens eine Stunde keine Wörter zu benutzen brauchte. Als sie also an diesem ungewöhnlichen Morgen in ihrem Bett erwachte, wusste sie sich von Wörtern umringt. Sie fühlte eine gewisse Erwartung.

Welche der Worte würde sie im Laufe des Tages benutzen, für ihre Anliegen einspannen? Wie oft, in welchem Kontext und mit welcher Melodie? Die Worte präsentierten sich vor ihr. Boten sich herausfordernd an. Das eine machte sich lang und groß, ein anderes strahlte Wichtigkeit aus, es blinkte abwechselnd rot und gelb auf. Andere saßen ganz hinten an der Bettkante und drohten fast herunterzufallen.

Sie war überfordert. Hatte noch keine Orientierung über das, was sie von dem Tag erwartete und worauf sie sich zubewegen würde. Was wollten all die Worte von ihr? Punkt und Umkreis blieben noch unscharf. Und mit Schärfe konnte sie nichts anfangen. Heute nicht. Sie ließ ihre Worte im Bett und stand allein und ohne sie auf. Ein leises Murren hörte sie hinter sich, als sie ins Bad verschwand.

Ein Tag ohne Worte. Da hatte sie sich auf etwas eingelassen. Sie stand vor dem Kühlschrank. Und wusste nicht, was sie wollte. Deshalb machte sie sich einen Kaffee. Danach ging sie in den Garten um eine Zigarette zu rauchen. Die Katze saß unter dem Gebüsch und starrte auf eine singende Amsel, oben auf dem Ast des Apfelbaumes – Gott und die Welt schien sie dabei vergessen zu haben. Die Protagonistin dieses Textes spürt eine gewisse Leere. Trotz der Fülle der Natur. Kaffee und Zigarette schlugen ihr auf den Magen – und kein tröstendes Wort ist zur Hand.

Stille umfing sie, als sie an ihrem Schreibtisch saß. Sie las sich den Artikel noch einmal durch, den der Kollege gestern mit wichtigem Blick eingereicht hatte. Sie konnte an seinen Worten nichts finden. Weder das angekündigte „Anrührende“, noch die Offenbarung. Aber sie hatte heute keine Worte zur Verfügung. Und in diesem Moment war ihr auch noch das Bewusstsein darüber verloren gegangen, wo sie sie gelassen hatte. Sie wusste mit dem Text nichts anzufangen und konnte nicht antworten. Also legte sie den Artikel beiseite und ließ ihren PC hochfahren.

Und schon hämmerte der Verlust der Worte auf sie ein. Sie geriet in ein immer wilderes Chaos von Gefühlen und Emotionen. Als sie selbst die Schriftzüge auf ihrem Bildschirm nicht mehr in ein sinnvolles Gefüge bringen konnte, gab sie auf. Ohne Worte zu denken schien nicht möglich zu sein. Außerdem wollte sie einen Blogtext schreiben. Und der bestand bekanntlich aus Worten.

Ein postmoderner Tag ohne Worte war in der Metropole ein verlorener Tag. Und sie realisierte, welche Dummheit sie begangen hatte. Wie hatte sie ihre Worte einfach sitzen lassen können? Möglicherweise tummelten sie sich immer noch in ihrem Bett, oder sie waren herunter gefallen, lagen im Staub unter ihrem Bett… Sie rannte durch ihre Wohnung, die Treppe hinauf und öffnete klopfenden Herzens ihre Schlafzimmertür.

Was sie sah, ließ sie erstarren. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass Worte ein unzivilisiertes Eigenleben führen, wenn sie nicht im Dienste eines Menschen stehen, der sie ordnet, vorschickt, zurückhält oder anbietet. Sie nahm sich unmittelbar vor, besser auf ihre Worte zu achten, sie besser zu versorgen. Deshalb setzte sie sich in die Mitte ihres Bettes, in die Mitte ihrer Worte und bat sie, ihr zuzuhören. Und sie schenkte ihren Worten ihre Worte um wieder Worte zur Verfügung zu haben.

Samstag, 13. November 2010

Santorini. Mein Beginn - damals

Jelle, du hast auf deinem Weblog (www.jellevandermeulen.blogspot.com) eine Debatte eröffnet. Über die Elias-Initiativgemeinschaft. Und über Adventura. Und da ich an den beiden Vorhaben beteiligt war, und jetzt so viele Erinnerungen wach werden, möchte ich von davon erzählen. Wie es war. Mein Einstieg. Damals.

Ich war jung - sehr jung. Und hatte drei kleine Kinder - echt kleine. In jenen Jahren - damals. 1993 sprach ich an irgendeinem Abend mit einer Freundin über neue Bücher in der anthroposophischen Szene und sie zeigte mir, schon im Flur stehend, noch ein dunkelrotes Büchlein. Dazu sagte sie: „Das ist das Neueste jetzt, gerade herausgekommen. Sehr bedeutsam. Von dem alten Holländer, der eben gestorben ist. Lievegoed heißt er. Den kennst du wahrscheinlich nicht. Und das Buch interessiert dich vermutlich auch nicht. Ist nichts für dich.“

Aber ich nahm es mit. Das Buch. Und verschlang es am nächsten Nachmittag. Noch heute sehe ich mich in meinem damaligen Wohnzimmer auf einem alten Sessel sitzen und lesen. Ich vergaß (fast) alles um mich herum. Die Kinder spielten. Ich machte ihnen kurz etwas zu essen. Sie spielten weiter - ich las weiter. Ich las das Buch in einem Rutsch. Und ich war sehr berührt. In meinem Inneren bewegte sich etwas, da war etwas angekommen.

Sieben Jahre hatte ich mich gänzlich meiner Familie gewidmet. Gelernt, wie man Weihnachten feiern kann, mich damit beschäftigt was Kinder wollen und brauchen, habe ständig auf irgendwelchen Spielplätzen gesessen oder in Wildgehegen gestanden, wo es galt scheuen Rehen Vogelmire hinzuhalten. Den halben Tag verbrachte ich in der Küche, die zweite Hälfte hatte ich Kinder auf dem Schoß, im Arm, fütterte, wickelte. Abends wurde genäht, gestrickt, Marmelade gekocht… All das eben, was Vollzeit-Mütter so tun können.

Das Buch „Über die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed bezog mich als Leserin ein. Ich war kein Zuschauer mehr, sondern Mit-Akteur. Mitten in meinem Wohnzimmer. Mit meinen kleinen Kindern um mich herum. Ich wurde beteiligt, nein, ich war schon immer beteiligt. Nicht weniger als im Weltganzen. Der Inhalt des Buches eröffnete mir einen neuen Blick. Auf mich und mein eigenes Leben, auf meine Mitmenschen und das Weltgeschehen. Sinn wurde spürbar, von der Vergangenheit, durch die Gegenwart und bis in die Zukunft hinein.

Ein paar Monate gingen ins Land. Mittlerweile zog ich um, aufs Land. Und wusste innerlich überhaupt nicht mehr, wo mein Platz auf dieser Welt eigentlich war. In der Zeitschrift info3 sah ich eine Anzeige. „Seminar auf Santorini, Griechenland. „Über die Rettung der Seele“ mit Jelle van der Meulen.“ In meiner Situation war es völlig absurd, für eine Woche nach Griechenland zu fliegen. Und ich versuchte die Sache zu vergessen.

Einige Wochen später sah ich eine zweite Anzeige. Das Seminar sollte wiederholt werden. Es hatte so viel Anklang gefunden. Und wir hatten gerade eine Steuerrückzahlung erhalten. Ich meldete mich an. Direkt. Völlig verrückt. Und ich flog. Nach Santorini. Ich war gespannt. Und erwartete ein klassisch-anthroposophisches Seminar. Zu den Sitzungen nahm ich meinen Text mit. Aber den brauchten wir nicht. Und meine Furcht, nicht mitreden zu können löste sich in Luft auf.

Nein. Da wurde ganz anders gearbeitet, als ich das aus anthroposophischen Kreisen kannte. Wir sprachen miteinander. Die Menschen, die da waren, schauten sich in die Augen. Und es ging um die dunklen Seiten des Lebens. Um eigene Erfahrungen. Um Enttäuschungen, Schmerzen, Wunden – es ging um das Böse. Aber auch um Wünsche und Hoffnungen. Darum, wie wir im Leben stehen. Gebannt hörte ich zu. Noch heute sehe ich uns dort sitzen. Äußerlich habe ich mich sehr zurückgehalten. Aber innerlich entzündete sich ein Licht in mir.

Kurze Zeit später, als der Verein gegründet war (die Elias-Initiativgemeinschaft), stieß ich unumwunden mit in die Mitte des Kreises. Stellte mich zur Verfügung. Wollte mitarbeiten. Und wurde gefragt, ob ich in der Redaktion des Rundbriefes mitarbeiten könne, und vielleicht das Layout und den Versand übernehmen würde. Noch nie hatte ich dergleichen getan. Und ich stieg ein. Der Computer fügte sich mir. Die zu schreibenden Worte ließen ein wenig länger auf sich warten.

Es entstand eine Zusammenarbeit zwischen Flensburg und Lyon, Amsterdam und Kassel. Telekommunikation macht vieles möglich. Zusätzlich zu den Tausenden von Kilometern, die wir alle auf Deutschlands Autobahnen verbracht haben. Der Elias-Initiativgemeinschaft und Adventura, mit all den Menschen, die damals mitgemacht haben, verdanke ich meinen Einstieg ins gesellschaftliche Leben, ohne mich selbst dabei zu verlieren.

Viel ist in all den Jahren passiert. Ich habe die komplette Geschichte der Elias-Initiativgemeinschaft und Adventuras mitgemacht. Sie bietet Stoff für mehrere Romane. Und ich bin noch immer dabei. Irgendwie. Und irgendwo. Verletzungen sind entstanden, Wunden haben gebrannt und Köpfe geraucht. Vieles war möglich. Und irgendwann wurde vieles unmöglich. Ein Schweigen entstand, Stille breitete sich aus. Gescheitert sind die Vorhaben beide. Irgendwie. Und das war sehr schmerzvoll. Missen möchte ich sie in meinem Leben aber nicht. Niemals.

Der Impuls des Buches „Über die Rettung der Seele“ lebt. Die wichtigsten Freundschaften in meinem Leben sind damals entstanden, durch die Menschen, die ich bei Elias und Adventura getroffen habe, die mitgemacht haben. In meinem Leben bot sich nach dem Elias- und Adventura-Scherbenhaufen NALM an. Dort arbeite ich seitdem weiter. Am Aufbau einer Kultur des Herzens.

Sonntag, 7. November 2010

Verspätete Replik. Heimat in einem Grab?

Die Nachricht trifft. Mich. Nicht auf rationaler Ebene. Nein. Verstehen kann ich das alles. Sondern in meinem Herzen. Sie löst einen Schmerz aus. Es ist ein lockeres Mail – so wie sie haufenweise tagtäglich verschickt werden. Das Mail beinhaltet die einfache Nachricht, dass das Grab meiner Großeltern aufgelöst wird. Man mietet ein Grab für zwanzig oder man kauft es für vierzig Jahre - auch wenn ich diese Logik nicht verstehe - und das Grab meiner Großmutter habe nun zwanzig Jahre bestanden. Also laufe der Mietvertrag ab. Den Grabstein könne man abholen. (Und dann? Was mache ich denn um Gottes Willen mit einem Grabstein? Ihn mir in den Garten stellen – ohne das Grab?) Ich bin verwirrt.

Meine Großmutter hat fast neunzig Jahre gelebt, sie ist eine jener Frauen, die das ganze Drama des 20. Jahrhunderts mitgemacht haben. Und sie kam aus Böhmen. (Wer kennt diesen Landstrich?) Sie war Deutsche im heutigen Tschechien. Die Geschichte ist verworren und kompliziert. Das Leben meiner Großmutter begann noch unter der k.u.k. Monarchie. Damals war das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen etwa sechs zu vier. Sie gehörte zur Oberschicht. Und ich nehme an, dass sie bei der Gründung der Tschechischen Republik 1918 zugestimmt hat, dass es darin eine abgeschlossene Republik der Deutschböhmen geben sollte.

Sie war fast vierzig Jahre alt, als im ersten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs ihr erster Sohn geboren wurde. Davor hat sie an der Seite ihres Mannes ein angenehmes großbürgerliches Leben geführt. Selbstverständlich hat sie nicht gearbeitet. Nein, sie hat Tennis gespielt und ist ausgeritten. Ich weiß nicht viel über diese Zeit. In meiner Hochhaussiedlung in der ich aufwuchs sah das Leben anders aus. Aber wenn sie mir von ihrem früheren Leben in meiner Kindheit erzählt hat, was sie nicht oft tat, dann entstand in mir ein fernes-warmes-undeutlich-stimmiges Bild.

Ihr Mann durfte in den ersten Kriegsjahren bleiben, denn er war Direktor eines Elektrizitätswerkes – und das war kriegsrelevant. Mitten im Krieg wurde den beiden ein zweiter Sohn geboren. Wie ich mir die genauen Umstände vorstellen soll, weiß ich eigentlich nicht. Was ich aber weiß ist, dass meine Großmutter am Kriegsende mit ihren beiden Söhnen vertrieben wurde. Sie musste vor den Tschechen fliehen, denn die waren auf die Deutschen nicht mehr gut zu sprechen. Mein Großvater war inhaftiert worden. Nie mehr kehrte die Familie in ihre Heimat zurück.

Wenige Jahre nach dem Krieg starb mein Großvater und meine Großmutter musste mit ihren beiden Jungen, fern von der Heimat, irgendwie durchkommen, ein neues Leben beginnen. Erst fünfzehn Jahre nach der Flucht gab es einen neuen Ort, der sich langsam „Zuhause“ nennen ließ. Wiederum einige Jahre später kam ich auf die Welt und lernte meine Großmutter dort kennen. Sie war eine kleine, zarte Frau. Ich erinnere ihre knochigen, warmen Hände, sehe sie noch vor mir, deren Gelenke im Alter deutlich hervorgetreten waren.

Sie trug Hosen, selten Kleider. Und sie rauchte. Bis ins hohe Alter. Ihre Zigaretten, Lord Extra, legte sie immer in den Kühlschrank. Sie meinte, dass sie dort frischer blieben. In ihrem Wohnzimmer hingen Fotos. Eins von ihrem Mann, meinem Großvater also, und eins von zwei Jungen in Lederhosen, meinem Vater und meinem Onkel. Alle drei Bilder waren mir fremd. Immer wenn ich meine Großmutter besuchte, und das geschah in den Ferien öfters, fuhren wir auch zum Bergfriedhof.

Dort lag ihr Mann begraben, er war mehrere Male umgebettet worden. Mein Großvater also, aber ich kannte ihn nicht. Überhaupt kannte ich damals keine Toten. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, dass da mal jemand gewesen sein sollte, der jetzt nicht mehr da war. Ich konnte das denken, aber nicht fühlen. Was ich aber fühlte, das war die Wärme und die Nähe, die meine Großmutter ausstrahlte, wenn wir zum Friedhof fuhren, und das berührte mich. Immer war ich gerne dabei. Wir pflegten das Grab, brachten Blumen.

Als ich erwachsen war und bereits zwei Kinder hatte, starb meine Großmutter. Sie war meine erste richtige Tote. Ich fuhr zu „ihr“, wenige Stunden nach ihrem Tod, und saß an ihrem Bett. Sie war sehr alt geworden. Und lag so friedlich da. Ihren Körper, die irdische Hülle, abgestreift, auf der Erde liegengelassen, und innerlich davon geflogen. Ja, so erlebte ich sie. Der Tod beeindruckte mich und schenkte mir eine große Ruhe. Er war, als Kontrast zu den Geburten meiner Kinder; in mein Leben getreten und erhielt einen würdigen Platz. Anfang und Ende gehören zusammen.

Und wir fuhren zum Bergfriedhof. Wieder einmal. Den Ort kannte ich schon. Und begruben die Asche meiner Großmutter. Und seitdem bin ich viele Male dort gewesen. Es ist ein schöner Friedhof, still und voller ehrwürdig alter Bäume, deren Blätter im sanften Wind zu rascheln beginnen. Lang nach ihrem Tod habe ich in ihrer Stadt studiert, das war schon ein Kindheitstraum gewesen, und jeden Tag fuhr ich an ihrem alten-neuen Zuhause vorbei. Nach meiner letzten Prüfung habe ich eine rote Rose auf ihr Grab gelegt, denn sie war mir in all den Jahren immer nah.

Auch wenn sie selber keine Heimat mehr hatte, zu den sogenannten Vertriebenen gehörte, so hat sie mir doch Heimat gegeben. In ihrem Leben und in ihrem Tod. Ich werde den Ort vermissen, so er denn tatsächlich aufgelöst wird. Kann es denn wahr sein, dass sie jetzt noch einmal gehen muss, aus ihrem Grab, weil ein „Mietvertrag“ abläuft?


Nachtrag:
Die Familie hat getagt. Das Grab bleibt erhalten. Für die nächsten vierzig Jahre. Bald werde ich wieder einmal zum Bergfriedhof fahren. Um einen Moment Heimat zu spüren. Bei und mit meiner heimatlosen Großmutter, die nun ihre letzte Heimat behalten darf. Darüber freue ich mich sehr.