Sonntag, 22. April 2012

Im Herzen barfuß. Karma und Alltag

Welche Bedeutung haben persönliche Nöte für die Welt? Davon ausgehend, dass wir als Menschen in einem großen Schicksalsstrom stehen, der sich im Wechsel über Inkarnationen zwischen geistiger und irdischer Welt abspielt, bewegt sich die Frage, wie sich persönliches Schicksal vollzieht, und wann und wo wir es mit dem Menschheitsschicksal zu tun haben, das über die Individualität des Einzelnen hinausgeht.

Die Geschichte der Menschheit spielt sich auf der Erde ab. Sie wird von Menschen, also Millionen einzelner Individuen vollzogen und gräbt sich in die Erde ein. Die Erde bewahrt in ihren Erdschichten das menschliche Schicksal, den Vollzug gelebten Lebens, auf der physischen, seelischen und geistigen Ebene – wenn wir die Hinterlassenschaften angemessen zu deuten wissen.

Die Geschicke der Menschheit werden jedoch in der geistigen Welt gelenkt. Dort werden Taten und irdische Vorgänge mit Abstand betrachtet, denn die geistige Welt kann nicht handeln, sondern nur die Zusammenhänge koordinieren. Die scheinbar kleinen „Dinge des Lebens“ werden von einer geistigen Perspektive aus angeschaut und verarbeitet, beurteilt und weiter geführt. Die geistige Welt überblickt den großen Bogen zwischen persönlichem Schicksal und Menschheitsentwicklung. Sie verfolgt die Weite und die Größe und schickt manchmal einen Engel auf die Erde, wenn es für den begrenzten irdischen Geist (und damit auch die menschliche Seele) zu eng und zu dunkel wird.

Und weil der menschliche Geist unantastbar ist, wie es Bernard Lievegoed in seinem Buch „Über die Rettung der Seele“ sagt, haben es die Gegenmächte auf die menschliche Seele abgesehen. Die menschliche Seele ist das Schlachtfeld im Kampf zwischen guten und bösen Mächten. Ist Schauplatz des persönlichen wie des Menschheitskarmas. Wie und wo sollte sich sonst das Menschheitskarma zeigen?

Karmische Belange anderer Generationen, die weitergeführt werden wollen (oder müssen), weil sie noch nicht transformiert und damit „vollzogen“ sind, werden nicht über ein Spruchband von einem Hubschrauber durch den Himmel gezogen, damit sich der eine oder andere überlegt, ob er vielleicht eine der Aufgaben ergreifen will, sondern sie offenbaren sich in drängender Form unmittelbar in der Seele von Einzelnen qua Betroffenheit, Berührt sein, über Gefühle, Ängste oder Ahnungen.

Nur wenn es Menschen gibt, die sich für ihre Mitmenschen und die seelischen Varianzen öffnen und ihnen nachspüren, in dem sie über ihren eigenen Schmerz und damit über sich selber hinausgehen, weil sie wissen, dass ihre persönlichen Nöte allgemeinmenschliche Belange sind, die die Welt etwas angehen, kann das Gute, das Wahre und das Schöne (deren unmittelbaren Kräften die alten Griechen noch habhaft waren) irgendwie erreichbar bleiben.

Menschheitsgeschichte spielt sich vom irdischen Standpunkt aus betrachtet in der menschlichen Seele ab. Und diese Seele bebt zwischen irdischer Leiblichkeit und geistiger Ausrichtung. Aus diesem Grund ist es verständlich, warum es so unendlich wichtig ist, im Kindesalter für den seelischen Bereich eine grundlegende „Verlässlichkeit“ aufzubauen. „Verlässlichkeit“ in menschlichen Bezügen, in Beziehungen, Werten, Traditionen und dem jeweils spezifischen Blick auf die Welt.

Viele Menschen sind heute gerade in dieser Hinsicht einem großen inneren (und damit seelischen) Chaos ausgesetzt. Das kleine und so oft überstrapazierte Wort „innere Identität“ gehört heute zu den großen Playern auf der Bühne des Weltgeschehens – allgemeinmenschlich und persönlich. Sich selbst mit Stärken und Schwächen zu kennen und Mitmenschen, Gefährten, Freunden und Kollegen zu vertrauen, sind die großen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es scheint so, dass für viele Menschen gerade dieser Bereich eine glatte Felswand darstellt – finden menschliche Zerwürfnisse doch gerade an solchen Wänden statt.

Christus sitzt nicht in einer Pumpe. Nein, der seelische Herzbegriff geht über die naturwissenschaftliche Mechanik hinaus – er ist weiter, größer, erhabener. Christus als Herr des Karmas macht sich in meinem Herzen bemerkbar, wenn ich mich berühren lasse, wenn ich mich öffne und still werde, wenn ich beginne zu lauschen, Ahnungen nachzuspüren, Tränen zuzulassen, wenn ich „ergebnisoffen“ an einen Prozess herangehe, wenn ich mich barfuß, nackt und bloß zeige. Die Angst vor dem Unbekannten, dem Neuen und Großen lässt mich oft klein werden, zieht mich zusammen, verhindert den offenen Blick. Christus weitet, öffnet und wärmt Herzen – wenn ich ihn lasse.

Menschheitsgeschichte spielt sich in unserem täglichen Leben ab, im Alltag, in den kleinen Dingen zwischen mir und dir. Ohne die Nöte in unserer persönlichen Seele gäbe es kein Menschheitskarma (und kein Menschheitsdrama), gäbe es nicht den großen Wurf einer menschheitlichen Entwicklung. Handlungsträger ist im großen Drama zwischen Leben und Tod, zwischen Leib, Seele und Geist, guten und bösen Mächten, zwischen Himmel und Erde die menschliche Seele, der Bereich unseres Herzens, der sich den Gegebenheiten des Zwischenmenschlichen aussetzen muss, um daran zu erwachen, zu wachsen, um mitzugestalten – oder um einzuknicken, wenn es zu schwer wird.

 Zwischen Himmel und Erde sind wir als inkarnierte Menschen mit einem Herzen ausgestattet, in dem es sich nur barfuß gehen lässt. Denn barfuß sind wir gewöhnlich für die kleinen, feinen und delikaten Dinge und Zusammenhänge des Lebens empfänglich, für die es sich lohnt, die Mühen eines Erdenweg auf sich zu nehmen.

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