Mittwoch, 14. Februar 2018

Schwarzwälder-Kirsch-Torte und Bücher

Lieber Coen, heute ist dein irdischer Geburtstag. Wärest du noch bei uns geblieben, hätten wir deinen 96. gefeiert. Mit Schwarzwälder-Kirsch-Torte – hätte dir das Freude gemacht? Ich habe dieses Mal auf jeden Fall ein Geburtstagsgeschenk für dich. Zwei Jahre habe ich daran gearbeitet. Der Verlag hatte mich damals angesprochen, weil dein erstes Buch längst vergriffen war. Die Anfrage lautete, ob ich bereit wäre, das Buch zu überarbeiten, zu aktualisieren. Das habe ich gemacht. Jetzt ist es da, ab morgen wird es im Buchhandel verkauft.

Als die Frage damals kam, wusste ich sofort, dass ich das machen kann, ja, dass ich das machen werde und sagte unmittelbar zu, obgleich ich gar keine Zeit hatte. Als ich dann aber die alten Dateien zugeschickt bekam, kamen die Zweifel. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Wie sollte das gehen? Es ist ja dein Buch! Ob du überhaupt damit einverstanden seist? Und was sollte ich tun: Kapitel streichen oder hinzufügen? Neu schreiben? Umändern? So viele meiner eigenen Erfahrungen im Kontext der Thematik gingen mir durch den Kopf. Wo sollte ich trennen, ja wie überhaupt anfangen?

Damals habe ich das Gespräch mit dir gesucht. Und im Text gefunden. Irgendwann habe ich einfach begonnen. Die ganze Erstauflage des Buches war auf meinem Computer. Ich begann zu lesen. Und zu schreiben. Es ist dein Buch geblieben. Und das sollte es auch. Die Struktur und die Kapitel habe ich erhalten. Ich habe aktualisiert, hinzugefügt und sprachlich angepasst, sodass ich zur Mitautorin geworden bin. Manche Spitze habe ich gerundet, manche Andeutungen präzisiert und konkretisiert. In jedem Satz von dir, in dem ich gearbeitet habe, habe ich die Tür nach oben offen gehalten. Und du hast dich gemeldet.

Es ist ein Gespräch entstanden. Angefangen hat es damit, dass du etwas gesagt hast und ich etwas gemacht habe. Und dann gab es Momente, in denen ich gesprochen habe und du geschwiegen hast. Ja es gab Zeiträume, in denen ein richtiges Miteinander stattgefunden hat, auf Augenhöhe, ein beschwingtes Hin und Her. Und manchmal haben wir auch beide geschwiegen, lange. Und dann hast du zugehört und in die Welt gelauscht, die du verlassen hast. Und in der es Bücher braucht, die Menschen lesen können.

Engel, so heißt es, können keine Bücher lesen. So werden auch die Toten wenig Interesse an den schwarzen Buchstaben in den Pappdeckeln haben. Die Gedanken, Gefühle und vor allem Willensintentionen aber, die Menschen ergreifen können, wenn sie etwas lesen, werden für euch höchst relevant sein. Denn sie bestimmen unseren Blick in die Welt, unser soziales Handeln, unsere Tätigkeiten, sie werden zu dem, was in Herzen lebt und personalisiert durch die Welt läuft.

Die Thematik der Lernprozesse des Erwachsenen hat in meinem Leben einen großen Raum eingenommen. Tagtäglich gehe ich damit um, privat, beruflich, immer schaue ich auf Entwicklungsprozesse. Bei verpatzten Chancen, sogenannten Fehlern, Unterlassungssünden oder sonstigen Unannehmlichkeiten suche ich die Öffnung, die es erstaunlicherweise immer gibt, die ins Weite, Offene, Neue führt. Ich öffne die Tür zu dem Raum, der uns, wenn es gut geht, wesentlich werden lässt, der Gründe und Möglichkeiten offenbart.

Die Arbeit, die du in Bezug auf die Transformation der Lebensprozesse in die unterschiedlichen Lernprozesse geleistet hast, ist von unschätzbarem Wert. Mein Leben wäre ein anderes – ein ärmeres – wenn wir uns nicht begegnet wären, ich diesen Impuls nicht hätte aufgreifen können. Es war mir eine Ehre die Früchte deiner Arbeit weiter lesbar zu machen, für uns Menschen auf Erden, die wir auf Bücher angewiesen sind. In großer Dankbarkeit: Herzlichen Glückwunsch und liebe Grüße himmelwärts!

Sonntag, 3. Juli 2016

Noch immer. Aufgaben einer Kriegsenkelin


Bücher, Kopien, Unterlagen und Notizen liegen um mich herum und stapeln sich. Ich will Ordnung schaffen und die Themen sortieren und zunächst getrennt betrachten. Die Frage, an welchen Stellen sie sich berühren wird folgen. Ich will Wege, Motive und daraus entstandene Konsequenzen einzeln anschauen und versuchen zu verstehen. Wo sind Lücken, welche Fragen brennen auf Antwort, welche wollen gehütet und einbalsamiert werden?

Ich brauche ein Konzept, etwas, um mich daran festzuhalten. Es gibt einen Schnittpunkt, das weiß ich. Der Weg aus Böhmen und der Weg aus Estland treffen aufeinander. In der Mitte des letzten Jahrhunderts, an einer Universität, in Süddeutschland, in Gestalt der nächsten Generation. Das ist der Ausgangspunkt – Anfang, Ende, Umschlagmoment.

Generationen geben einander die Hand, sie gehen auseinander hervor – begleiten sich und verstehen einander selten. Gilt es doch Motive, Glaubenssätze, Wünsche und Hoffnungen sowie Vorsätze und Entschlüsse individuell umzusetzen und zu zeigen, dass sich die Welt weiterdreht, dass Entwicklung möglich und Freiheit nötig ist. Jede Generation hat eigene Gesetze, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Nichts ist, wie es einmal war, immer wieder muss das Rad neu erfunden werden. Soziokulturelle und politisch-globale Gegebenheiten aus der Vergangenheit wollen über menschliche Schicksale transformiert in die Zukunft implementiert werden – damit es besser wird.

Das sind theoretische Worte, Überlegungen und Hoffnungen, die sich darauf gründen einen Sinn zu finden, Stolpersteine als Heilmittel anzuerkennen. Immerhin ist ein Ergebnis der Kreuzung die nachfolgende Generation – neues Glück, es geht weiter. Es handelt sich in letzter Instanz um meine eigene Geschichte, als Teil einer großen Erzählung, die die Menschen sich auf der Erde zusammenreimen und weitererzählen, im großen Netz der mitmenschlichen Anteilnahme. Was habe ich, um Gottes Willen, mit dieser Vergangenheit zu tun – reicht es nicht, wenn ich nach vorne schaue und meine Ideen der Zukunft zur Verfügung stelle?

Es ist mehr als zehn Jahre her, seit ich das erste Buch über Kriegskinder gelesen habe. Ich wusste sofort, dass ich damit etwas zu tun habe. Mittlerweile ist das Thema gesellschaftlich angekommen. Bücher türmen sich in Schaufensterauslagen. Die Fragen richten sich nicht mehr nur noch auf die Folgen einer Kriegskindheit, sondern auch auf die Auswirkungen auf die nachfolgende Friedensgeneration, die Kriegsenkel. Obgleich das Thema des Dritten Reiches, mit seiner Naziideologie und den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges, in Deutschland auf akademischer Ebene vorbildlich aufgearbeitet wurde, bleibt die Frage, was davon im Leben eines jeden Einzelnen zu finden ist.

Was ist aus den traumatischen Erlebnissen unserer Großeltern geworden? Welche Auswirkungen hatten Bombennächte, die Flucht, herannahende feindliche Soldatentrupps, der Verlust von Besitz und Heimat, Verwandten und Freunden? Gesellschaftlich war politisch und ideologisch ab 1945 eine Neuorientierung nötig. Werte änderten sich über Nacht. Was war richtig, was falsch? Welche Folgen hat eine Kindheit im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland? Welche persönlichen Grundmuster entstehen? Was haben die Kinder des Friedens mit dem Krieg ihrer Vorväter zu tun? Und, hat auch noch die nachfolgende Generation daran zu leiden?

Mehr, als jemals zu befürchten war.

Das Thema liegt offen auf dem Tisch, die Fragen sind allesamt bekannt. Die Auseinandersetzung damit und die möglichen Antworten muss sich jedoch jeder selber erarbeiten. Und das ist leichter gesagt als getan. Da gibt es keine gesellschaftliche Generalamnesie. Jede Verknüpfung, jede Geschichte ist einzigartig, individuell und mit den unglaublichsten und schillerndsten Aspekten gespickt, so dass die Brille, durch die die Entwicklung eines Menschen angesehen wird, diejenige des Namens des Individuums ist. Die Welt dreht sich, alles ist einer ständigen Veränderung unterlegen, aber der Name des Einzelnen bleibt. In ihm offenbart sich die Kreuzung zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlicher Ordnung, ein Name steht für Persönlichkeit – und die will errungen werden.

Bekannt ist der Wunsch nach einer heilen Welt in der Kriegskinder-Generation. Anknüpfen an die Erinnerung der zerstörten Heimat, neu anfangen, fleißig sein, aufbauen, so tun, als ob nichts wäre – die zerstörten Jahre einfach überspringen. Was aber liegt dem Motiv der Kriegskinder zu Grunde, die akzeptierten, dass die Welt kaputt ist? Dass Gott tot ist, dass Werte und Normen endgültig überholt sind und nur im erneuten Klassenkampf die Revolution der gesellschaftlichen Neuordnung zu suchen ist?

Kinder, die in diese Familien hineingeboren wurden, Kriegsenkel mit 68er Eltern, wuchsen auf einem explosiven Trümmerfeld auf, das keinen Schutzraum einer heilen Welt besaß und auf dem für keinen Großvater Platz war, Rosen in seinem Garten zu pflegen.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Stumme Zeugen. Das Haus an der Schwarzen Desse


Du hast geschwiegen. Zwei Fotos hinter Glas hingen in deinem Wohnzimmer. Vielleicht war es auch im Schlafzimmer. Auf einem der Schwarz-weiß-Bilder war das Portrait eines ernsten, schmalen Mannes zu sehen. Sein Blick ist mir in Erinnerung geblieben. Traurig, sanft, bescheiden und voller innerer Klarheit. Auf dem anderen Bild sind zwei Kindergesichter zu sehen. Die beiden nebeneinanderstehenden Jungs tragen weiße Hemden, zu sehen sind auch die verzierten, ledernen Hosenträger. Auch sie blicken ernst in die Kamera.

Die Bilder markieren den Bruch des Vorher und Nachher. Sie zeugen von der Vergangenheit. Von etwas, das ganz anders als unsere gemeinsame Gegenwart gewesen ist, in der deine Aufmerksamkeit und Hinwendung gänzlich dem gewidmet war, was sich im Hier und Jetzt ergreifen ließ. Aber die beiden Bilder kamen aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, ja, aus einer Welt, die so gar nichts mehr mit der zu tun hatte, in die wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworfen waren. Sie spiegeln den Abgrund zwischen den Zeiten wider – der sich vor meiner Geburt vollzog.

Wie kann es sein, dass eure Geschichte kein Thema für uns war, warum hast du nichts erzählt? „Willy“. Ja, ich erinnere mich, mit welch klangloser Stimme du diesen Namen ausgesprochen hast. Ich wusste, dass der ernst blickende Mann an der Wand Willy war, dein Mann. Der Vater deiner Söhne. Aber ich kannte ihn nicht. Er war längst verschwunden, weg, tot. Er tauchte bei uns nicht auf, in meinem Leben gab es ihn nicht, es gab nur dich und den fremden Mann auf dem Foto. Willy war ein Unbekannter, der von der Wand ins Zimmer sah – und schwieg. Ist er auch für dich ein unnahbarer Mann geworden, hattest du nicht die Kraft, ihn über die Grenze zu tragen – oder hat er das nicht zugelassen?

Ihr wart bereits 15 Jahre verheiratet, bevor die Kinder kamen und lebtet in dem Haus an der Schwarzen Desse. Die Kinder wurden in die Naziherrschaft hereingeboren, der Anschluss an das Deutsche Reich war bereits vollzogen. Was hat das alles bedeutet? Du warst nicht mehr jung, nein, eine Spätgebärende – und die Zeit war rau und neu und hart und zukunftsorientiert. Aber für Deutsche sah es zunächst so aus, als hätte das Schicksal euch begünstigt. Hattet ihr diese Hoffnung? Gefahr lag in der Luft, dass es zur Katastrophe kommen würde, versuchtet ihr euch auszureden - vielleicht. Es hieß durchhalten, zwischen den Fronten. Dein Standpunkt ist mir nicht klar. Überlebt haben die Katastrophe nur du und die Söhne.

Den ersten Bruch mit dem Land, in dem ihr lebtet hat er mitgemacht. Ja, er war der Regisseur hinter den Kulissen und hat dafür gesorgt, dass ihr in Sicherheit kommt – so wurde mir erzählt. Er selber musste sich damals zunächst verstecken, wurde aber dann gefasst und schließlich tauchte er, Jahre später, kaum widerzuerkennen, bei euch auf. Dann hieß es Geld verdienen. Die Hoffnung auf ein erneutes gemeinsames Leben schwand nicht, sondern gab euch Kraft die Durststrecke auszuhalten. Aber der Tod war schneller. Willy verschwand für immer.

Den zweiten Bruch hat er nicht mehr erlebt. Es hieß noch einmal alles hinter euch zu lassen, der Zukunft entgegen ins Neue, Unbekannte zu fliehen, die Vergangenheit in den tiefen Schlund des Vergessens zu katapultieren. Und wieder: nach vorne schauen, von vorne beginnen. Um euer Leben ging es, das Foto war dabei, die Urne wurde umgebettet – alles andere war unwichtig.

In der Zeit, die wir zusammen hatten, hast du kaum etwas erzählt und ich habe nicht gefragt. Jetzt schaue ich auf die Fotos und öffne Google-Maps. Euer Haus kann ich mir digital ansehen, es steht noch immer – zwischen Fluss und Bahnhof, neben dem einstigen Elektrizitätswerk. Seine alte Pracht ist noch sichtbar, obwohl es total heruntergekommen ist, ein verlebtes, schweigendes Haus. Es zeigt den Riß in der Zeit, die Brutalität der Geschichte. Es war einmal…

Was aber genau war, dass weiß ich nicht. Die Fotos, damals in deiner westdeutschen Wohnung, das Haus auf Google-Maps heute, die Erinnerung an dich und die schmale Faktenlage ist alles, was ich habe. Welche Geheimnisse verbergen sich? War es nicht richtig, was ihr tatet? Was ihr hattet? Was ihr wolltet – in den politisch extremen Zeiten? Es kann nicht sein, dass es über Zweidrittel deines Lebens kaum etwas zu sagen gibt. Die Versatzstücke suchen Verbindung, die Leerstellen Inhalt, die stummen Bilder suchen Worte.

Die Schwarze Desse fließt noch immer an dem Haus vorbei, in dem die Fotos gemacht wurden, alte Bäume säumen das Gelände, sie sind Zeugen des Vergangenen – aber auch sie sprechen eine Sprache, die mir nur rudimentär geläufig ist. Ein eisernes Schweigen liegt über der Zeit, in der sich Geschichten verbergen, die nicht erzählt wurden, Schicksale von Menschen, die unbekannt geblieben sind.

Samstag, 23. April 2016

Ein Ring. Von Wien über Estland nach Deutschland


Der Ring hat und schreibt eine Geschichte. Er prägt die Menschen, die ihn tragen und wird von den Menschen geprägt, die ihn tragen. Das sieht man ihm aber nicht so ohne Weiteres an. In das gelbe Gold sind zwei große runde Brillanten eingelassen, die wie auf einem Thron eingemeißelt sitzen. Von dort schauen sie in die Welt, treu nebeneinander, Hand in Hand. Sie glitzern und funkeln, sie strahlen aus ihrer Quelle. Es ist ein königlicher Ring, der sich bescheiden präsentiert und sich wie unters Volk mischt. Das gelbe Gold umschmeichelt den Finger, den es umringt, die Brillanten ruhen in einem goldenen Bett, das ihnen Halt gibt – eine bewährte Einheit.

Der Ring glänzt an meinem Finger. Ich trage den kostbaren Ring seit einigen Wochen am Mittelfinger der linken Hand, ich habe ihn geschenkt bekommen. Der Ring wirkt an meiner Hand so, als wäre er für mich gemacht, als trüge ich ihn schon immer – kaum, dass er auffällt. Aber das ist für mich wahrlich nicht so. Ich schaue ihn an und lausche, was er mir zu erzählen hat, denn zu Ringen habe ich ein ambivalentes Verhältnis das von Bedeutungslosigkeit bis hin zu Übersteigerung reicht. Woher kommt der Ring, was hat erlebt, wo will er hin – und, was macht er mit mir?

Ich erfahre: Mehr als 25 Jahre hat er in einer Schatulle gelegen, in einem Schmuckkästchen. Nach dem Tod meiner Großmutter hat ihn meine Mutter mit den anderen Schmuckstücken aufbewahrt. Als einzige Tochter hat sie sich um den Nachlass gekümmert und Aufbewahrungsorte für all die Gegenstände bestimmt, die den Tod meiner Großmutter überdauert haben. Offensichtlich hatte sie nicht die Ambition, den Ring zu tragen. So wartete er neben anderem Gold auf eine neue Zeit.

Und ich erinnere mich. Ja. Meine Großmutter hat den Ring getragen. Immer. Das Bild steigt hoch, ich sehe ihre Hand noch vor mir. An ihre Hand gehört dieser Ring. Sie war eine stolze Frau, die sich nicht brechen ließ, obgleich der Zahn der Zeit kräftig an ihr gezerrt hat. Noch im 19. Jahrhundert geboren hat sie beide Weltkriege erlebt und erlitten. Sie war 50 Jahre alt, als der Bruch unabwendbar hinter ihr lag, als sie ein neues Leben in Deutschland begann.

Es wird irgendwann in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Meine Großmutter hatte wenig aus ihrer estnischen Heimat retten können. Abgesehen vom Schatz der Erinnerungen aber einige Fotos und Schmuckstücke. Nicht alles war verloren gegangen, gestohlen oder vertickt worden, um zu überleben. Der Schmuck der Mutter Emma war kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unter den drei Töchtern an ihrem Grab verteilt worden. Und meine Großmutter bekam, unter anderem, einen schweren Goldring mit einem Saphir und zwei Brillanten.

Diesen Ring hat sie später in Deutschland umarbeiten lassen. Die Nachkriegszeit bot sich nicht an, auffälligen Schmuck zu präsentieren. Und außerdem wollte sie auch gerne etwas für ihre Tochter haben. Und so wurden zwei Ringe daraus. Einer mit dem Saphir und einer mit den Brillanten. Die Geschichte des Saphirrings ist eine andere, von der ich zu wenig weiß, um sie hier zu erzählen, die des Brillantenrings aber fand für Jahrzehnte ihre Heimat an der Hand meiner Großmutter.

Als ich den Ring bekam, zu meinem 50. Geburtstag, wurde gewispert, dass er einst ein Geschenk des russischen Zaren für eine Fotografie gewesen sei – meine Vorfahren (Atelier Schulz) waren in Estland Fotografen. Der Mythos wurde gehegt und übersteigert, aber nicht verifiziert. Und ich schaute auf meine Hand mit dem Ring, der eine lange, aber doch vage Geschichte in sich trägt. Als ich dann bei einem Archivar in Dorpat/Tartu die Geschichte erzählte und nachfragte, ob er etwas Diesbezügliches herausfinden könnte, sandte er mir postwendend eine Anzeige aus der Zeitung (aus Dorpat/Estland) von 1893 zur Provenienz des Ringes:

„Wie wir hören, ist dem Inhaber des bekannten photographischen Ateliers C. Schulz hierselbst kürzlich eine sehr ehrende Auszeichnung von Wien her zu Theil geworden. Für von ihm für den Wiener Hof hergestellte Vergrößerungen hat Kaiser Franz Joseph ihm durch den Generaladjutanten Grafen Paar seinen Dank aussprechen und zugleich einen schweren goldenen Ring mit einem Saphir und 2 Brillanten übersenden lassen. – Wir erinnern daran, dass die Firma C. Schulz schon früher die von ihr hier am Embach-Ufer gepflegte photographische Kunst in der verwöhnten Kaiserstadt an der Donau zu Ehren gebracht hat, in dem im vorigen Jahre, wie I.B. berichtet, ein von ihr für den Kaiser von Oesterreich hergestelltes großes Portrait des Erzherzogs Carl Salvator in entsprechender Weise gewürdigt worden ist.“

(Zu finden: https://dspace.ut.ee/handle/10062/51099, Seite 123, dritte Spalte von links, etwas oberhalb der Mitte. Beilage zur Neuen Dörptschen Zeitung, Nr. 99, Sonnabend 1. (13.) Mai 1893, Seite 1.)

Ich bin baff und überrascht zugleich. Der Märchencharakter schwindet zu Gunsten eines klaren Bildes, die Quelle liegt geöffnet vor mir. Nicht also vom russischen Zaren Hof, sondern aus Wien, von Kaiser Franz Joseph – vor 123 Jahren! Was der Ring erlebt hat, bevor er von Wien nach Estland transportiert wurde, das weiß ich nicht. Vielleicht hat Sissi ihn getragen. Jetzt prangt er an meiner Hand und meine Geschichte mit ihm beginnt. Gut tut es zu wissen, wo die Wurzeln dieses kostbaren Stückes sind.

Der goldene Ring mit den zwei Brillanten, ein Band durch Jahrhunderte, von einer Geschichte in die andere, von Land zu Land, Finger zu Finger. Danke!