Also gut, sage ich mir, es führt kein Weg daran vorbei. Ich fahre. Unterwegs versuche ich Raum für die Leere zu schaffen, mich auf das Loch vorzubereiten, offen zu sein. Aber schon nach wenigen Minuten schalte ich das Radio ein, ich brauche Ablenkung, halte es nicht aus. Weder weiß ich, was auf mich zukommt, noch habe ich eine Antwort auf die Frage. Keine Antwort, die die Zeit angemessen umfängt, die ihr gebührend gerecht wird - die Erzählung enthält offene Blätter, für mich höchstens unsichtbar beschriebene Seiten.
Ich bin nicht die einzige auf der Straße und doch allein, aber der Wind evoziert Leichtigkeit. Der Himmel ist gnadenlos und frech einfach blau, der Herbst bäumt sich auf, schiebt sich vor alles andere. Glutrote, braune, gelbe, grüne, ocker-, sand-, beige- und erdfarbene Blätter, überall fliegen sie herum und spielen sich auf, als wären sie Seifenblasen und dürften feiern. Flammende, feurige Farben bäumen sich in der Natur auf bevor erneut das Ende kommt. Der Tod, die Transformation – die Wendung nach innen.
Es gibt nicht nur eine Wahrheit, nur eine Bedeutung, alles ist vielseitig, polyphon, der gesamte Farbkreis präsentiert sich, Wahrheiten lassen sich nur in Quentchen erhaschen und bilden ein enigmatisches Konvolut. Gerade die klaren Bilder verschleiern gerne ihre Provenienz. Von welcher Seite aus darf ich schauen, mich einbringen, auch wenn ich dabei meine Wunden zeige? Heute habe ich nicht so viel Mut in meinem Rucksack stecken, sondern suche, wie so oft, einen Festpunkt im Nichts.
In der Ferne tauchen die Berge auf. Föhn. In der klaren Luft liegt der Dunst der Zukunft an der Schwelle zum Himmel. Wie die Umrandung eines Bildes stehen die Berge am hinteren Rand meines Horizonts. Sie geben Halt. In verschiedenen Grautönen stehen sie voreinander und umarmen sich gegenseitig. Sommersonnengaben liegen in ihren Herzen – sie werden sich wärmen, wenn es kalt wird und die löchrige Zeit kommt.
Sie ist um Jahre gealtert, ich sehe es sofort, unsere Begegnung kann nicht mehr sein als ein Sternenmoment auf dem stillen Ozean der Zeit, der sich überdauert hat, der vorwärts und rückwärts schiebt, drängt und eine lähmende Unruhe erzeugt. Klar ist: Er ist gegangen UND er ist da. Und klar ist auch: sie ist geblieben UND gleichzeitig weg. Wie kann ich das verstehen, was ist damit zu machen, wie einzubinden in das blutende Herz der Übriggebliebenen? Ich bin ratlos.
Sie setzt sich auf seinen Sessel, auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hat, und nur er. Sie sucht seine Nähe, die nicht mehr da ist, versucht seine Perspektive einzunehmen, was sie nie konnte, beobachtet die Vögel durch das große Fenster und fragt sich, wie es ihm dabei ging – denke ich mir. Seine Zeitungen liegen um sie herum – das Abonnement hat sie nicht gekündigt, eher hätte sie sich versündigt. Ob das geht, mit den Augen eines anderen zu lesen? Kann geistige Sehnsucht warm sein, offen und tragend, so dass sie neuen Lebensmut erhält?
Wir tippen diese Frage an und jene aber es entspinnt sich kein Gespräch, die klingende Melodie erstirbt in Brüchen, stille Momente lasten, wenn sie schwer sind, Worte gefrieren. Ich gehe in den Garten, atme die frische Herbstluft, und sehe dann die letzte blühende Rose an dem Busch neben der Terrassentür. Sie ist voll und farbig und blüht und zeigt sich in all ihrer Pracht – sie duftet und singt und stützt und ich weiß, dass er es ist, der durch sie Grüße bringt, uns allen.
Ob sie das erreicht, versteht? Er war ein leuchtender Fels, ein Anker zwischen Himmel und Erde. Ihr feines Geschick hat ihn vor mancher Attacke bewahrt – aber nun ist sie übriggeblieben, ohne ihn und sie weiß nicht mehr, wer sie ist, was sie soll. Auf die Idee, eine Rose anzuschauen, obwohl es schon Herbst ist, ist sie noch nicht gekommen. Die Toten sind unverlierbar, die Lebenden jedoch können umso leichter verloren werden. Ich fahre zurück, es ist dunkel und still, der Herbstwind hat sich gelegt und die Nacht senkt sich müde auf mein Haupt – zwischen Himmel und Erde.
(Zum Titel: „Nur eine Rose als Stütze“ ist ein Gedichttitel von Hilde Domin. „Verlierbare Lebende und unverlierbare Tote“ sind Begriffe aus dem Gedicht: Die schwersten Wege, ebenfalls von Hilde Domin.)
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