Sonntag, 6. Oktober 2013

Dinge (IV). Flügel und Abgründe


Ich war sieben Jahre alt und mitten im Zahnwechsel. Das war mein Glück – sonst wären Zähne zu Bruch gegangen. Ich hatte Rollschuhe bekommen. Rollschuhe, die man sich über die Schuhe schnallte. Vorne mit Gummilaschen und einer Schleife und um das Fußgelenk mit einem Lederband, das in regelmäßigen Abständen Löcher aufwies, damit der Stachel der Schnalle in genau jenes gedrückt werden konnte, das den Rollschuh fest an den Schuh drückte.

Die vorderen Gummilaschen und das lederne Band waren rot, die Schnürsenkel gelb, die Räder schwarz, das Gestell blechern. Die Rollschuhe waren neu, ich hatte sie von meiner Großmutter geschenkt bekommen und ich übte unermüdlich galant auf den zwei Mal vier Rädern zu fahren. Das war nicht einfach, ich fuchtelte ziemlich viel mit meinen Armen in der Luft herum, machte aber Spaß und gab mir das Gefühl, über mich hinauszuwachsen.

Vor unserem Hochhaus gab es einen breiten gepflasterten Weg, der zu einer abwärtsgerichteten Betontreppe führte. Sie mündete mit etwa dreißig Stufen auf den Parkplatz, auf dem all die Autos der Hausbewohner standen, und war ebenfalls gepflastert. Auf diesem Boden ließ es sich nicht wirklich gut fahren lies. Zwischen Parkplatz und Straße standen ein paar jämmerliche Büsche, auf einer schmal eingefassten und langgezogenen Erdfläche – dort endete unser Territorium, bis dahin durfte ich mich frei bewegen. Normalerweise.

Aber, mein kindliches Glück wollte es, dass sich die Ölkrise auf unser Land hernieder senkte. An mehreren Sonntagen im Herbst herrschte ein komplettes Autofahrverbot und somit erweiterte sich unser Bewegungsradius. Wir durften an so einem Tag auf der Straße Rollschuh fahren. Ihre Oberfläche bestand weder aus Kopfsteinpflaster, Betonplatten noch aus sonstigen unebenen Materialien, sondern aus glattem Asphalt. Wir machten es wie die Autos sonst, auf der einen Seite in die eine Richtung, auf der anderen in die andere und um die gebrochene Mittellinie übten wir das Slalomfahren.

Es war wunderbar – fast wie fliegen. Ich glaube, dass alle Kinder aus der Siedlung an diesem Tag das Rollschuhlaufen übten. Die mit neuen Augen betrachtete Straße um unsere Siedlung herum war zu einer Flugschneise avanciert, in die wir ein- und ausbogen, auf der wir schnell und langsam fuhren, Hand in Hand und allein, es war ein Fest. Und das: ohne Erwachsene. Die lehnten sich sonntagnachmittäglich auf den kinderfreien Sofas zurück, schrieben Diplomarbeiten oder diskutierten die bedrohliche Weltlage. Kurz, sie kümmerten sich nicht um uns.

Das Glück war bei mir, ich fühlte mich wie eine kleine Königin mit Flügeln. Aber auch das Unglück war nicht weit. Als es zurückging, nach Hause, über den Kopfsteinpflasterparkplatz, an unserem gelben R4 vorbei, die Betontreppe hoch. Aus irgendwelchen kühlen Gründen, ich weiß heute wirklich nicht mehr warum, bin ich nicht auf der rechten Seite, dort, wo ein Handlauf die Treppe hinaufführte, mit meinen Rollschuhen die Treppe hoch geklettert sondern links, ohne mich festhalten zu können.

Und irgendwie mittendrinn, auf dem Weg die Betonstufen zu erklimmen, rutschte ich aus, verlor das Gleichgewicht. Ich versuchte mich mit Händen und Knien zu halten. Aber ich stürzte mit der Oberlippe auf eine Stufenkante. Gerade dort, wo die vier oberen Schneidezähne fehlten. Auch Knie und Ellenbogen waren kräftig lädiert, aber Blut schoss aus meiner Lippe, knallrot und ohne Unterlass. Das brannte entsetzlich und schmeckte gleichzeitig süß.

Wie die Sache an diesem Abend ausgegangen ist, das weiß ich nicht mehr. Aber die Narbe fühle ich noch heute. Und manchmal, wenn ich versonnen und melancholisch bin, dann nehme ich die kleine Beule an meiner Oberlippe zwischen meine Zähne und denke daran, dass das Fliegen und das Abstürzen zusammengehören, so wie Glück und Unglück… Ich weiß gar nicht, ob ich je wieder Rollschuh gelaufen bin – schließlich dauerte die Ölkrise ja gar nicht lang.

1 Kommentar:

  1. Bei deinen Worten kommt mir meine Kindheit wieder in den Sinn. Auch ich hatte solche Rollschuhe und wir Kinder sind Nachmittage lang bei uns in der Gegend herumgefahren. IM Geschwindigkeitsrausch´. Es war herrlich, obwohl es öfters aufgeschlagene Knie nach sich zog. Leider hat bei uns die Ölkrise gefehlt, na ja man kann eben nicht alles haben.
    DAnke für deine Erzählung, und liebe Grüße, Elfriede.

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