Montag, 5. Mai 2014

Klänge und Farben. Zur Aufführung von Leçons de ténèbres - Tanz der Schatten aus der Dunkelheit


Ein langer Arbeitstag rundet sich. Da gab es Telefonate, Mails, Gespräche, Sitzungen, etwas vor- und nachzubereiten und vor allen Dingen nichts zu vergessen – die Jobliste für den nächsten Tag ist bereits prall gefüllt. Aber sie muss warten. Das was bereits getan wurde verschränkt sich mit dem, was noch zu tun ist, das kleine und das große Gestern berührt das Morgen, bei dem noch offen ist, ob es klein bleibt oder groß wird – ob es in die Geschichtsschreibung aufgenommen wird.

Die Kirche ist fast voll besetzt, als ich an dem lauen Frühlingsabend zur Aufführung einer multimedialen Performance komme: „Leçons de ténèbres - Tanz der Schatten aus der Dunkelheit“. Angekündigt ist ein Zusammenspiel zwischen Schattenbildern, Lichtinstallationen, Gesang, Percussion und Tanz zu Musik von Francois Couperin. Das Gesamtkunstwerk wird von Künstlern aus den Bereichen Malerei, Eurythmie und Musik aufgeführt.

Als das Publikum zu schweigen beginnt und der Raum sich für die Aufführung öffnet, führen die Klänge der Klage in das große Gestern. Es ist etwas geschehen, mittels Polyphonie wird daran erinnert, wird etwas ins Heute geholt. Starre und sich bewegende Schatten melden sich aus dem Zwischenreich und begehren auf. Farben und Formen übernehmen die Vermittlung zwischen der Musik und den grauen Schatten. Drei Figuren zeigen und bewegen sich. Sie nehmen Tuchfühlung miteinander auf und beziehen sich aufeinander – ohne Worte aber mit gestochen scharfen Gesten.

Als Zuschauer werde ich Zeuge eines geheimnisvollen Geschehens, das sich im Raum aufeinander bezieht. Die gesamte Kirche wird zum Schauplatz, das Publikum zum Mitwisser. Allerdings bleibt nur vage erahnbar, um was es geht. Die geschichtlichen Stichworte im Kopf verblassen, Gedanken werden zu Gefühlen. Die Strahlkraft der einzelnen Künstler schiebt sich in den Vordergrund. Der zweistimmige Gesang durchdringt mein Herz, Licht, Farbe und Formen bewegen sich auf die innere Bühne meiner Seele zu.

Ich bin umringt von Könnerschaft, von meisterhaften Leistungen einzelner Künstler, die sich zugunsten des Gesamtkunstwerks abwechseln, in Beziehung zueinander treten und sich wieder voneinander entfernen. Sie machen sich zum Medium und verbinden die Klage von gestern mit der Hoffnung des Morgen. Geschehenes Leid transformiert sich in traurige Schönheit, Schmerz in klirrenden Jubel – alles was da ist ist da, die Musik macht es erträglich.

Die Künstler präsentieren sich innerhalb des Gesamtkunstwerks als Individuen, die über sich hinauswachsen und die Größe der Kunst erlebbar machen. Ohne die grauen Schatten gibt es kein Licht, ohne die Stille keine Musik. Farben und Formen werden von den Gesichtern der Tänzer geleitet, sie weisen ihnen den Weg. Ein Segment des Weltgeschehens schlüpft in der kleinen Kirche wie aus dem Ei, lässt den Himmel erzürnen sowie zugleich erblühen. Silberne Tränen der Trauer erleuchten den Weg in die Unterwelt.

Auf die Welt außerhalb der Kirche hat sich die Abenddämmerung gelegt, Stille umkreist Bäume, Straßen und Autos. Ruhe umhüllt die Menschen, die aus der Kirche treten und die wunderbare Klage in ihrem Herzen tragen. Wenn Stille klingt, Schatten Farbe annehmen und Menschen sich zeigen, dann werden die kleinen Dinge groß und ein Moment zur Ewigkeit. Gestern und Morgen verschränken sich im Heute und Joblisten werden zu kleinen Wegmarken auf dem langen und unübersehbaren Lebensweg.

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