Den Lebenslauf eines Menschen nennen wir Biographie. Die Geburt ist der Anfangspunkt, der Tod das Ende, das gilt für jeden von uns. Was aber ist es, was das Leben zu einer stimmigen, erfüllten, runden Biographie macht? „Bios“ bedeutet Leben, „Graphie“ Schreiben. Das Leben schreibt sich, es schreibt sich ein – in uns, in andere Menschen, in Kultur und Gesellschaft, in die Welt, die ganze Erde.
Schreiben bedeutet, dass etwas sichtbar gemacht und festgehalten wird, überdauert, und auch von Anderen gelesen werden kann – Schreiben ist eine freie Kulturtat. Im Fall der Biographie „geschieht es“ – das Leben schreibt sich, ob wir das wollen oder nicht, die Jahre vergehen, immer vorwärts, und das Leben schreibt und schreibt sich ein, in der ihr eigenen Sprache.
Lesen hingegen ist eine individuelle Hinwendung zum Geschriebenen. Das Leben lesen - wie lese ich mich und wie lese ich dich? Was gibt es überhaupt zu lesen, und was verstehe ich von dem, was ich lese, schreibe ich mein Leben in meiner Sprache, kann ich deine Sprache lesen? Das Leben zu lesen erfordert ein feines Bewusstsein.
Die äußere Biographie, der tabellarische Lebenslauf offenbart sich mitunter platt und naiv. Da gibt es Daten und Fakten zu Kenntnis zu nehmen: Lebensdaten, Wohnorte, Familienverhältnisse, Bildungswege, Arbeitsverhältnisse und vielleicht noch Auszeichnungen. Auf diese Art kann ein Lebenslauf auf einem DIN A4 Blatt dargestellt werden.
Aber es gibt auch die innere Biographie eines Menschen, da gibt es Freundschaften, Liebschaften oder gar Feindschaften, einschneidende persönliche Ereignisse, Reisen, Todesfälle, Begebenheiten aller Art, Brüche, Abgründe – all das gehört zu uns, zu unserer Biographie, all diese Schnittpunkte machen uns aus.
Als lebender Mensch stehe ich zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Himmel und Erde, als eigene Welt in der großen Welt, als Momentaufnahme im Zeitgeschehen. Ich lasse mich prägen und ich präge:
Mich prägen die Menschen um mich herum, meine Mitmenschen, die, mit denen ich auf der Erde lebe. Das sind Eltern, Freunde, Lebensgefährten, Kinder, Kollegen, Nachbarn. Auch von öffentlichen Menschen lasse ich mich prägen, von Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern. Und auch ich präge andere – je nachdem, was ich tue oder eben lasse, wie ich mich zeige oder gerade verberge, ob ich spreche oder schweige.
Mich prägt die Kultur, in die ich mich hineinbegeben habe, die Sprache, die mich umgibt, die Religion, in der ich aufwachse, die Schulen in die ich gehe, die Ausbildungs- und Tätigkeitsorte. Wenn ich am gesellschaftlichen Leben teilnehme muss ich mich in Asien anders verhalten als in Europa, im Islam anders als im Christentum, auf Deutsch anders als in Swahili.
Mich prägt die Erde, wie sie sich präsentiert, die Landschaft, in der ich mich bewege. Das Wetter ist auf Island anders als in Südeuropa, die Ausprägung der Jahreszeiten spielt eine Rolle, Berge, Wälder, Seen und Meere - oder eben die pulsierende Großstadt. Mich prägen Reisen in ferne Länder, dort zieht es mich hin und jenes Land stößt mich ab.
All diese Gegebenheiten sind prinzipiell für jeden da, die Welt, die Erde, das Leben bieten sich an. Wie aber kommt es, dass ich dieses mache und jenes lasse? Die Wirkungen von Mitmenschen, Kultur und Natur sind höchst individuell, sie machen die Unverwechselbarkeit aus, in die wir gestellt sind, wenn wir uns entschließen eine Weile auf der Erde zu leben – zu schreiben und zu lesen.
Das Konglomerat der Einflüsse ist gewaltig, manchmal reißt es uns in seinen Schlund, die Formen der individuellen Bedeutsamkeit sind unermesslich - nicht alles spiegelt sich gleich in unserem Antlitz. Wenn wir das Glück haben, dass unser Leben uns auf die Spur der inneren Freiheit führt, können wir (weitgehend) selbstbestimmt leben, eigene Entscheidungen treffen, das Leben schreiben, das uns zu schreiben obliegt. Man nennt das eine gelingende Biographie.
Aber wie entsteht sie, was trägt dazu bei und was verhindert sie? Welche Gegebenheiten habt ihr vorgefunden, welche Ziele euch gesteckt, was macht ihr mit und in euerm Leben? Mich interessieren besonders die Schnittpunkte – wie auch immer sie geartet sein mögen, ob sie zu Höhenflügen einladen oder in Abgründe stürzen lassen.
In der nächsten Zeit werde ich mich mit Biographien beschäftigen und das eine oder andere dazu beschreiben, damit Menschen gelesen werden können.
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