Samstag, 14. September 2013
Dinge (I). Blechteller und ein Salzstreuer
Die gelben Teller leuchten. Das warme und satte Gelb strahlt noch immer. Und in meiner Erinnerung existieren die Teller und der Salzstreuer wie eh und je. Sie gehören zu mir, zu meinem Leben. Wo sie sich real befinden – oder ob es sie überhaupt materiell noch gibt, das vermag ich nicht zu sagen. Die gelben Teller sind aus Blech, aus gelb emailliertem Blech mit schmalem, schwarzen Abschlussrand, der die Welt des Tellers beschränkt. Für Essteller sind sie nicht groß, die Fläche erhebt sich am Rand und begrenzt sich selbst. Die erhobene Umrahmung beschützt das Essen, hält es zusammen und bewahrt es.
Der Salzstreuer ist aus Glas, viereckig, und hat eine gelbe, runde Blechhülle auf, durch die das Salz gestreut wird. Auch sie, gelb – so richtig gelb, mit kleinen Dellen, Datschen und Beulen versehen. Das weiße Salz teilt sich den gläsernen Innenraum mit einigen Reiskörnern – damit es nicht feucht und klebrig würde, wie man mir sagte. Immer wieder fragte ich mich, wie es den Reiskörnern wohl mit dem Salz geht, ich stellte mir das Leben, wenn man so von allen Seiten eingesalzen wird, ziemlich streng vor.
Jeden Tag aß ich von den gelben Blechtellern. Sie waren gleichzeitig normal und besonders, und sicherlich auf kaum einem anderen Mittagessentisch zu jener Zeit zu finden – vielleicht eher im Campingurlaub. Woher sie kamen weiß ich nicht, vielleicht von einem südfranzösischen Markt. Auf jeden Fall brachten sie die Sonne mit. Wenn ich in die Küche kam, leuchteten sie mir in ihrem satten Sonnengelb vom Tisch entgegen. Der Tisch bestand aus einer schwarzen und einer weißen rechteckigen Marmorplatte, die auf einem Stahlgestell lagen – einer recht kühlen Angelegenheit also.
Der gelbe Salzstreuer stand in der Mitte des Tisches und wanderte bei manchen Mahlzeiten von Teller zu Teller. Die gelbe Blechhülle näherte sich den gelben Tellern, berührte sie aber nie. Ich hatte das Gefühl, dass die Teller die Nähe des Salzstreuers brauchten, sie bekamen Nahrung von ihm. Für mich gehören sie zusammen, Teller und Salzstreuer. Schon auf Grund der leuchtenden Farbe. Darum kam es auch manchmal dazu, dass das Salz vermisst wurde.
Und es fand sich, wie meistens, eben nicht bei den Gewürzen, sondern im Geschirrregal. Dort thronten Schüsseln, Schälchen, Teller, Brettchen, Becher, Tassen, Gläser, die von beiden Seiten des Regals, das mitten in der Küche stand, darauf warteten, gebraucht zu werden. Und mitten in den verschiedenen Ansammlungen aus allerlei Farben und Materialien, meistens direkt in unmittelbarer Nähe zu dem Stapel der gelben Blechteller, stand das Salz. Es suchte die Geborgenheit der Farbe und fühlte sich dort wohler, als bei den Gewürzen – wie ich fand.
Wenn die gelben Blechteller aufeinander gestellt wurden, ergaben sie einen kompakten Stapel. Die Teller passten exakt aufeinander und ließen keine Zwischenräume. Ihr Gewicht war übrigens beträchtlich. Ganz im Gegenteil zu dem unscheinbaren Salzstreuer, der leicht wie die fliegenden Salzkörnchen war und locker und leicht von Hand zu Hand gelangte. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch wurde er benutzt – angeschaut, angefasst. Manchmal drei Mal täglich. Ein Ding eben, man nennt es wohl „Alltagsgegenstand“ – aber ein liebgewonnenes.
In meiner Innenwelt existieren die Dinge. Noch. Und ganz bestimmt. Nah und warm. In meiner Außenwelt nicht. Alle die Menschen, die damals mit uns gegessen haben, sind diesen Dingen auch begegnet. Welche Bedeutung sie für sie haben, weiß ich nicht, vielleicht gar keine. Heute sind die Teller meines Lebens weiß – und bedeutungslos. Die Salzstreuer ohne Reiskörner und austauschbar. Was ist es, was die alltäglichen Dinge der Kindheit so unangreifbar und bedeutsam machen?
"Dinge, die nicht bedeuten, gehören zu einem spezifisch Fremden, das modernen Gesellschaften eigen ist."( Dorothea Kimmich)
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