Coenraad van Houten ist gestorben. Seine Lebensspanne umfasst die Zeit vom 14.02.1922 bis zum Morgen des 28.03.2013 - Gründonnerstag. Am Ostersonntag wurde er beerdigt. Wenn ich nach innen schaue und mich frage, was er für mich bedeutet, so fällt mir sofort eine allgemeine Beschreibung über den Menschen von Hannah Arendt ein, die Coen für mich in besonderer Weise verkörpert hat.
„Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.“
[1]
Coen war ein Wunder, der seine Aufmerksamkeit auf das Neue gerichtet hat, ständig neu angefangen und initiiert hat. Er war jemand, der Initiative ergriffen hat. Der sich ergebnisoffen in Prozesse begeben konnte. Und: er war ein großer und stattlicher Holländer, der in der Welt zu Hause war, zwischen drei Sprachen leicht wie ein Reh hin und her wechseln konnte, gegen Ende seiner regulären Arbeitszeit noch einen ganz neuen Griff machte und die anthroposophisch orientierte Erwachsenenbildung schuf.
Nachdem ihm während der langen Jahre beim NPI in Holland, einer Organisation, die sich um Betriebe und Institutionen kümmert, klar geworden ist, dass die gemeinsame Arbeit innerhalb einer Organisation im Wesentlichen von den Beteiligten abhängt, hat er sich von der institutionellen Beratung abgewendet und sich den Fragen, den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Individuums, sprich dem Schicksal des Einzelnen zugewendet.
Wie lernen Erwachsene? Wie gehen nachhaltige Lernprozesse vor sich? Wie arrangiert das Leben Lernmomente und wie lassen sie sich ergreifen? Wie lässt sich der karmische Hintergrund eines Menschen für die Zukunft fruchtbar machen? Coenraad van Houten war ein innerer Schüler Rudolf Steiners, seine äußeren Lehrer waren Willem Zeylmans van Emmichoven und Bernard Lievegoed – die er alle drei sehr ernst genommen hat.
Das Herzstück seiner Arbeit der letzten zwanzig Jahre war die Entwicklung eines Weges, um vom persönlichen Schicksal zu lernen, die Lebensprozesse zu Lernprozessen auf den verschiedenen Ebenen zu transformieren. Er integrierte dabei die Tag- und die Nachtseite, Vergangenheit und Zukunft und zeigte Möglichkeiten auf, wie sich das Individuelle im Schicksalsnetzwerk entwickeln, ja verwirklichen kann. Immer ging es ihm darum, dass der heutige Mensch seine Freiheit ergreift, dass er mit dem Potential seiner Freiheit einen eigenständigen Umgang zu pflegen lernt.
Nicht nur in der konkreten Arbeit bekommt man es dabei mit Hindernissen, Widerständen und Blockaden zu tun, sondern auch die Bewegung um die Arbeit von Coenraad van Houten herum, NALM (New Adult Lerning Movement), erfährt Widerstände. Geht es doch darum, die theoretischen Darstellungen Rudolf Steiners über Karmafragen tastend in die Praxis zu holen, vorsichtig sichtbar und erlebbar zu machen, um Schicksalsknoten anfänglich zu verwandeln und nachhaltige Lernmomente zu ermöglichen.
Auch Coenraad von Houten hatte dunkle Seiten, er konnte störrisch und mürrisch sein, und in all seiner Beweglichkeit hatte er Momente, in denen er sich auf etwas oder jemanden fixiert hat, in denen er es nicht aushielt, dass das Neue sich nur langsam zeigt, dann war er ungeduldig und ungerecht und hatte Angst davor, dass dunkle Kräfte die Macht ergreifen. Nur schwer konnte er die Arbeit loslassen.
Ich persönlich hatte im Laufe der vielen Jahre einige Zusammenstöße mit ihm, die rückblickend unglaublich bereichernd und horizonterweiternd waren, ich verdanke ihm viel meiner eigenen Entwicklung. Er war ein großer Anthroposoph, der den Ansatz Rudolf Steiners tief in sich aufgenommen hat und seinen Teil zu einer Weiterentwicklung in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums in der heutigen Zeit beigetragen hat.
Nun geht er in der geistigen Welt dem Neuen, noch Unbekannten, der Zukunft entgegen. Er blickt zurück, verarbeitet und wird dann aufs Neue beginnen. Seine Arbeit wird hier auf der Erde weitergeführt werden – wenn sich genügend Menschen finden, die bereit sind, das Alte hinter sich zu lassen, das Neue zu ergreifen und Verantwortung für die Initiative zu übernehmen, die immer und immer wieder neu geboren werden will.
[1] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, 1996, Seite 215f.
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AntwortenLöschenLiebe, liebe Sophie!
AntwortenLöschenDu hast ein Stueck geschrieben dass mich tief beeindruckt hast! Du zeigst dich hier wie einen echten 'Menschenkenner' und auch als eine echten Schriftstellerin. Mir wuerde es nicht wundern dass du manches 'neues Feuer' fuer die Zukunft entzuenden wirst. Du weisst das ich nie richtig teilgenommen habe an Nalm oder an dem Leben von Coenraas von Houten: jetzt aber verstehe ich warum du dies wohl getan hast!
Herzlichst,
Babs
Liebe Sophie, dein Nachruf von Coen hat mich sehr im Herzen berührt. Das was ich auch für ihn fühle, hast du gut getroffen. Oft denke ich an ihn und an sein mutiges Wesen. Auch wenn er in der letzten Zeit immer abwesender wurde, haben mich die Gespräche mit ihm immer noch sehr bereichert.
AntwortenLöschenDein Archelino
Als Coen schon recht alt war, hat ihn einmal eine Krise beinahe getötet. Wenige haben verstanden warum. Von dieser Zeit handelt folgendes Gedicht:
AntwortenLöschenMÜDER HIMMEL
Schon beugt dich
die Abendröte
Nacht beäugt dich
doch noch klingt dein Ton
Will singen von
der Erden Nöte
und jenen Scharen
die so himmelweit fahren
und Speise uns bringen
Sie sollen erlösen
uns von dem Bösen
jeden auf eigene Weise
Wenn der Röte
du dich neigst
deine tiefe Müdigkeit zeigst
Und alles Reden
wird wie ein Beten
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AntwortenLöschenLiebe Sophie!
AntwortenLöschenVielen Dank für Deinen Blog über Coen. Ers berührt mich sehr, was Du schreibst.
Coen war und ist mein Lehrer. Er hat mir im wahrsten Sinne „Welten“ eröffnet und mich dabei unentwegt aufgefordert, weiter zu gehen, neu zu werden, das „Unmögliche“ zu versuchen. Coen hat mich gelehrt, Seelenfelder zu beackern.
In Coen erlebte ich, was Anthroposophie heute sein möchte, sein kann: im Alltag gelebt, nicht Wissens-Anthroposophie, sondern Schicksalspraxis, übe, übe, übe ...
Und das in aller Widersprüchlichkeit: herzlichste Zusammenarbeit und bitterste Konflikte. Dazu schrieb mir Coen einmal:
„I ask you to please, not worry too much about the things that have happened because they are in my view lovely opportunities to understand how the counter forces get hold of us. It happened to me, too, and I found a lot of mistakes.“
In aller persönlichen Widersprüchlichkeit innere karmische Verbundenheit zu entdecken, aus der heraus sich Zukunft „befreit“ entwickeln kann, das ist das, was ich als Vermächtnis von Coen erlebe.
Alles Liebe
Hans
Coens Schwester Brigitta Sophia Wegerif … R.I.P. https://www.stuttgart-gedenkt.de/Traueranzeige/brigittasophia-wegerif
AntwortenLöschenGruß von Hans-Jürgen (Puk)