Sonntag, 10. Februar 2013

Die Dinge groß sehen (III): Biographisch gerinnende Ermutigung


In der Waldorfschulpraxis nennt man es Kinderbesprechung. Wenn es gut läuft, setzen sich die Lehrer in ihren Konferenzen immer wieder zusammen und besprechen einzelne Kinder mit je spezifischer Fragestellung und Perspektive. Anlass dafür ist die Verantwortung, die die Schule der Entwicklung der Kinder gegenüber einnimmt. Unerheblich ist dabei, ob das Kind durch Sichtbarkeit, Lautstärke und besondere Auffälligkeiten hervortritt, oder gerade umgekehrt, ob es eher unsichtbar, still und unauffällig ist.

Jedem Kind gebührt in seiner Schullaufbahn (mindestens) eine Kinderbesprechung. Das Zusammenkommen der Beteiligten ist ein heilsames Geschehen, das dazu verhilft, ein Kind in seiner Entwicklung, seinen Fortschritten und Hindernissen wahrzunehmen, es von verschiedenen Seiten anzuschauen und möglicherweise unterstützende Maßnahmen in dieser oder jener Richtung einzuleiten. Der Kreis der Lehrer, Erzieher und manchmal auch der Eltern wird dabei in die Lage versetzt, das Schicksal des Kindes zu unterstützen.

Die Leitfrage in der Kinderbesprechung ist: Woher kommt das Kind (was bringt es mit) und wohin will das Kind (wohin will es) und was können wir dazu beitragen? Aber auch wenn das Kind erwachsen geworden ist und nicht mehr auf eine Waldorfschule geht – was ja der eine oder andere auch gar nicht getan hat – bleiben die Fragen aktuell und treten auf diese oder jene Weise in der Biographie auf. Wie gehen wir damit im Erwachsenenalter um?

Die Fortführung von Kinderbesprechungen sind meines Erachtens sogenannte Taubegruppen, wie sie bei Adventura entwickelt wurden. Jetzt steht nicht mehr ein Kind im Mittelpunkt, das übrigens bei den Besprechungen gar nicht dabei ist, sondern der Erwachsene, der Fragen an sein Leben hat. Er wählt sich einen Kreis von Menschen, mit denen er bereit ist auf sein Leben zu schauen und seine Fragen anzugehen – er ist der Mittelpunkt des Kreises.

Unsere Biographie stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Initialzündung für eine Taubegruppe ist eine Frage, ein Problem, ist ein Moment, in dem wir aus der Alltagsroutine austreten, innehalten, vielleicht nicht mehr weiter wissen und nach neuen Inspirationen verlangen. Dass wir das nicht immer alleine hinkriegen ist schon eine alte Weisheit. Dass wir das aber in einer Gruppe von Menschen bewusst angehen können ist neu.

Die Wahl der Menschen, die in einer Taubegruppe mitarbeiten bestimmt der Betreffende. Lehrer, Erzieher und Eltern haben ausgedient, nun werden Menschen gewählt, die auf Augenhöhe einen Beitrag zu leisten im Stande sind. Möglicherweise werden auch fachspezifische Fähigkeiten gebraucht. Voraussetzung ist aber, sich auf den Fragenden, Innehaltenden einzulassen, ihn neu kennen zu lernen und die Aufmerksamkeit auf ein Nachspüren zu richten: wo kommt er her, wo will er hin und was kann die Gruppe in diesem Moment dazu beitragen, dass die Steine, die das Schicksal in den Weg gelegt hat, verstanden oder erlöst werden?

Kleine Taubegruppen (drei bis sieben Menschen) sind im Stande die (manchmal vagen) Fragen des Betreffenden polyfon anzugehen, sie künstlerisch zu begleiten und den oft nicht so einfach zu ergreifenden Hindernissen die auf den Ebenen des Denkens, Fühlens und Wollens auftreten, mutig zu begegnen. Die Arbeit in einer Taubegruppe ist ein delikates Geschehen, das um Takt und Einfühlungsvermögen aber auch um Klarheit und Bestimmtheit fragt.

Taubegruppen konstituieren sich selbst, vereinbaren Umgangsformen, treffen Verabredungen in Zeit und Raum und werden wieder aufgelöst, wenn der Schicksalsweg des Betreffenden wieder in eine gangbare Spur gefunden hat. Was entsteht, wenn wir die Kinderbetrachtungen im Erwachsenenalter in Taubegruppen transformieren, ist biographisch gerinnende Ermutigung.

1 Kommentar:

  1. Liebe Sophie, ja, das war damals eine intensive Geschichte mit den Taube-Gruppen! Rein äußerlich sieht es bei mir so aus, dass diese Arbeit gestoppt ist, ich weiß eigentlich nicht so gut aus welchen Gründen. Aber innerlich stelle ich mir noch immer die Frage: Wie könnte die Arbeit so beschrieben werden, dass ihre Bedeutung sichtbar wird? Du hast mit deiner Beitrag daran beigetragen! Danke! Jelle van der Meulen


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