Heute früh war ich auf dem Markt. Dort bin ich einigen Marktfrauen „begegnet“. Ich bestellte mein Obst und Gemüse, erhielt es, bezahlte es, bedankte mich und ging davon. Ich war an drei oder vier verschiedenen Ständen. Im Nachhinein weiß ich kaum mehr, wer mich eigentlich bedient hat. Mein Markteinkauf war ein funktionales Geschehen. Ich wollte schnell wieder nach Hause – um einen Blog-Text zu schreiben – und habe mich auf die menschlichen Begegnungen nur marginal eingelassen.
Zuhause am Laptop, mit einer Tasse gutem Espresso, entscheide ich mich, etwas über Begegnung zu schreiben – darüber, was ich heute früh auf dem Markt verpasst habe.
Heutzutage wird in vielen gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen Menschen zusammenarbeiten, d.h. sich „über den Weg laufen“ und etwas miteinander zu tun haben, weil sie zusammen arbeiten, wie z.B. in Universitäten, Schulen, Kindergärten, Betrieben, Kultureinrichtungen, Firmen etc. danach gerufen, dass es mehr zwischenmenschliche Begegnung geben müsse, damit die gegenseitigen Verabredungen, die spezifischen Interaktionen und die jeweiligen Abläufe „besser funktionieren“. Um miteinander zu arbeiten oder zu leben, miteinander auszukommen und „etwas auf die Beine zu stellen“ braucht es Begegnung.
Begegnung, ist also das große Wort, das im sozialen, zwischenmenschlichen Leben Heilung verspricht. Gegen Einsamkeit, gegen Funktionalisierungen, gegen zermürbende Diskussionen, gegen Unverständnis, Streit und einen riesigen Berg an Verordnungen, Verträgen, Gesetzen und Verabredungen – die alle einmal aus guten Gründen (von Menschen!) erschaffen wurden. Gerade der menschlichen Willkür wollte man entgegenwirken. „Verträge“ gibt es für den Fall, in dem man sich nicht mehr „verträgt“.
(Der Bundespräsident prüft mit seinem Stab zurzeit, ob er dem Gesuch, einen Bundesbankmitarbeiter vorzeitig aus dem Amt zu entlassen, entsprechen kann. Dabei wird eine Begegnung – ein in die Augen schauen, ein Zuhören, ein Verstehen und ein im Gespräch-miteinander-sein und sich Austauschen – ausdrücklich vermieden, dabei geht es nur noch um die Rechtsgrundlage, Verträge und Gesetze also. Nachsatz: Einen Tag später ist zu hören, dass der Betroffene, falls das Verfahren tatsächlich eingeleitet wird, dringend um eine Anhörung bittet.)
All die Papiere und Verabredungen sind genau dafür entstanden, dass man sich nicht mehr begegnen muss. Denn eine Begegnung birgt natürlich auch eine Gefahr. Schon im (deutschen) Wort steckt der „Gegner“. Was ist also Begegnung, nach der wir uns auf der einen Seite sehnen und auf der anderen Seite Angst davor haben?
Wenn ich auf mein Leben schaue, dann sehe ich viele Menschen, denen ich auf angenehme oder unangenehme Weise begegnet bin. Ich schaue auf Begegnungen, die wieder verblasst sind, und auf Begegnungen, die einen reichen und blühenden Platz in meinem Leben haben. Und ich vermute gleichzeitig, dass ich an vielen oder vielem vorbeigegangen bin. Denn auch Gedanken, Impulsen, Landschaften, Städten und vielem mehr kann man begegnen – oder eben „nicht begegnen“.
Begegnung findet auf horizontaler und vertikaler Ebene statt, Begegnung beinhaltet einen ganzen Kosmos an Möglichkeiten. Etwas gesehen, jemanden getroffen zu haben, bedeutet nicht unbedingt, dass eine „echte“ Begegnung stattgefunden hat, etwas Wesentliches geschehen ist. Auf der anderen Seite setzt jede Freundschaft – auch jede Feindschaft – eine Begegnung voraus. Ohne Begegnung passiert - menschlich gesehen - nichts.
Was macht „echte“ Begegnung aus? Mir scheint es dafür wichtig zu sein, dass die Betroffenen überhaupt zu einer Begegnung bereit sind. Das bedeutet, dass sie in dem Moment ein Verhältnis zu sich selber haben, sich so akzeptieren, wie sie in dem Moment sind, um bei sich selbst zu sein. Des Weiteren braucht es eine Akzeptanz des Anderen. Und das ist schon gar nicht unbedingt so einfach. Nehme ich mein Gegenüber mit all seinen Vorzügen, Talenten, Wünschen, Hoffnungen, Schwächen und blinden Flecken wirklich an, sage ich JA zu ihm?
Die jeweilige Akzeptanz (von mir selber und dem Anderen) scheint mir eine Voraussetzung zu sein. Damit es aber zu einem Begegnungsmoment kommen kann, ist ein offener Raum nötig. Ein Moment, in dem etwas entstehen kann. Ohne Vorurteil, ohne Zielvorgabe, ohne Druck. Ein ungeschützter Moment, der frei und offen ist – in dem etwas Unvorhergesehenes entstehen und geschehen kann.
Und diesem Moment weichen viele Menschen aus – weil er eben unvorhersehbar, nicht steuerbar ist. Es ist der Moment, in dem der Freund zum Feind werden kann, der Feind zum Freund – um zwei heftige Extreme zu nennen. Denn kann man natürlich auch einem Gegner begegnen – nicht unbedeutend ist die Tatsache, dass sich zum Beispiel in einem mittelalterlichen Turnier, in einem ritterlichen Kampf die beiden Kontrahenten „echt“ begegnen.
Aber das Wunder ist an dieser Stelle genauso möglich. Das Gefühl des Verstanden-Werdens kann entstehen, ein neuer Impuls kann sich zeigen, eine neue Sicht auf den Anderen wird möglich, ein Geistesblitz kann eintreten, Dankbarkeit und Liebe können sich verbreiten – Begegnung kann bereichern und erfüllen. Begegnung ist ein Mysterium.
Begegnung ist ein Moment, in dem Veränderung möglich ist. Meine eigene und die des Anderen. Die holländische Sprache drückt den Begegnungs-Vorgang meines Erachtens passender aus. Begegnung heißt dort „ontmoeten - es muss nicht“ – aber es ist immer schön, wenn es passiert.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenOk, ok - ein aufmerksamer holländischer Leser meldet sich liebevoll per Mail: ontmoeten habe vom Wort her überhaupt nichts mit "nicht-müssen" zu tun... Leider! Wäre ja schön, aber...
AntwortenLöschenWir begeben uns auf eine kleine Sprachreise: das etymologische Wörterbuch wird in beiden Sprachen gezückt, aber das ist gar nicht so ergiebig.
Deutlicher zeigt das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, woher die Wurzeln kommen: "entmuoten" bedeutet, "mit eingelegter Lanze angreifen"...
"muoten" heißt "weg wollen", "angreifen", "Anspruch erheben auf", "aufbegehen gegen", aber auch "wünschen, wollen, erhoffen"...
Die Holländer sind also in der Begegnung doch nicht "sanfer" als die Deutschen.
Behalten wir also die mögliche Gefahr bei einer Begegnung im Auge und "wünschen, wollen und erhoffen" dabei, dass es glimpflich abgehen möge!
Danke! Sophie
... und die 'Begegnung' scheint ja einen 'Gegner' zu brauchen, jemanden der/die mir entgegen steht - auch nicht in Deinem Sinne. Griechisch 'synantao' wäre schon netter, das heisst nur mit jemanden sich befinden. Überhaupt fehlt mir in dem Text ein wenig die kulturell relative Komponente; die Formalisierung und Entfernung menschlicher Begegnung ist ja nicht überall zu finden. Schliesslich ist sie ja auch eine Wahl, wie Du so schön sagst - Du willst vom Markt nur die Produkte, schnell, schnell. Wir wählen oft diese Negation der Begegnung, wohl weil es in unserem Leben nicht anders geht (in einem kleinen Dorf wäre das anders).
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