Walter Benjamin ist in dem Jahr gestorben, als meine Eltern geboren wurden. Ich habe ihn physisch also nie getroffen. Nein, ich „kenne“ ihn nicht. Trotzdem bin ich ihm begegnet. Irgendwie. Und zwar über das geschriebene Wort. Seine eigenen Texte. Und das, was andere über ihn geschrieben haben. Ich hatte seinen Namen noch nie gehört – glaube ich – und musste ein Hauptseminar an der Universität Tübingen belegen. Der Name „Walter Benjamin“ strahlte etwas aus. Irgendetwas. Also meldete ich mich an. Mittlerweile – die Begegnung liegt nun schon ein paar Jahre zurück – zählt er zu meinen Wegbegleitern. Er ist ein Gefährte geworden. Walter Benjamin gehört dazu. Zu meinem Leben. Irgendwie.
Walter Benjamin hat über 7000 Seiten Text hinterlassen. Und ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich verstanden hätte, was Walter Benjamin eigentlich sagen wollte, oder gar, dass ich sein ganzes Werk gelesen hätte. Er hat literarische und ästhetische Essays hinterlassen, wissenschaftliche Untersuchungen, kulturpolitische Aufsätze, Vorträge und Reden, Fragmente, Tagebücher, Glossen und Rezensionen. Abgesehen von Artikeln und Aufsätzen ist vieles von dem, was Walter Benjamin zu Beginn des letzten Jahrhunderts geschrieben hat, zu seinen Lebzeiten gar nicht veröffentlicht worden. Trotzdem gehört er heute zu den meist rezipierten und diskutierten Autoren in der intellektuellen Welt der Postmoderne. Benjamin ist richtig anwesend, er ist da. Seine Texte werden gelesen, besprochen, bewegt.
Er wurde 1892 in Berlin in ein deutsch-jüdisches Elternhaus hineingeboren. Nach der Schule studierte er Philosophie, Literatur und Geschichte. Bereits in Studentenzeiten begann er zu publizieren. Seine Promotion (1919) wurde anerkannt, seine später in Frankfurt eingereichte Habilitation nicht (1925). Von diesem Moment an definierte er sich als freier Schriftsteller. Notgedrungen. Er schrieb für Zeitungen und bereitete eigene Publikationen vor.
1933 ist er nach Paris emigriert. Tief verzweifelt nahm er sich 1940 in Port Bou das Leben, da die Grenzwächter ihm die Einreise nach Spanien verweigern. Durch seine Freunde, Gershom Scholem, Bert Brecht, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Max Horkheimer u.a. wird sein Werk bekannt. Und er „lebt“ weiter. Der Diskurs um sein Leben und Werk ist lebendig und im öffentlichen Leben heute präsenter denn je.
All das, was ich bis hierher beschrieben habe, sind äußere Tatsachen. Eben Lebensgegebenheiten. Sicherlich tragisch zu nennende – aber noch nicht etwas, das zeigt, was für mich das Besondere, das Berührende an Walter Benjamin ist. Wie ist das überhaupt vorstellbar? Da hat jemand gelebt, dem ich nie begegnet bin. Habe also nie gesehen, wie er spricht, läuft oder isst. Wie er ausgesehen hat, weiß ich nur von Fotos. Und auch seinen Freunden bin ich physisch nie begegnet. Die Begegnung fand also auf anderer Ebene statt. Auf der Ebene der Sprache – dem geschriebenen Wort. Und nur da. Ausschließlich. Wichtig zu erwähnen ist in diesem Kontext für mich, dass vieles von dem, was wir heute von ihm lesen können, zu seinen Lebzeiten gar nicht publiziert worden ist. Es sind Texte, von denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass Benjamin sie der Öffentlichkeit so übergeben hätte. Und auch an all die Briefe ist in diesem Zusammenhang zu denken. Wie steht Benjamin dazu, dass wir heute lesen dürfen, was er sich mit Gretel Adorno geschrieben hat, oder mit Gershom Scholem?
Es gibt also Fragen über Fragen. Ethische Fragen. Und eine Antwort darauf können nur die Nachgeborenen finden. Er nicht mehr. Aber das ist gar nicht das, was mich beschäftigt. Mir gehen Sätze nach. Aussagen. Beschreibungen Benjamins. Vieles, was er geschrieben hat ist ja sehr schwer zu verstehen. Und gar nicht so ohne weiteres übertragbar. Aber es hat sich so etwas wie eine Aura um seine Worte gebildet – ein Farbklang. Sie laden zum Nachdenken ein.
In seinem oft rezipierten Aufsatz: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt er, was die Aura für ihn ist, und welche Bedeutung er ihr beimisst. Er schreibt, dass die Aura: „…ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ sei. Was – um Gottes willen – hat man sich darunter genau vorzustellen? Und genau das ist der Punkt. Benjamin ist nicht zu definieren. Seine Aussagen sind nicht eindeutig zuzuordnen. Die Ränder von Bedeutungen sind weich. Angenehm unscharf.
Immer wieder überrascht er mit seinen Aussagen. Ein assimilierter Jude in der akademischen Welt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Metropole Berlin, der sich für Spiritualität interessiert, materialistische Ansätze verfolgt, kommunistische… ein wandernder Bürger zwischen den Welten. Eine Stimme, die sich vernehmen lässt, ohne dass sie einen stringenten Weg verfolgt. Benjamin passt in keine ideologische Schublade. Auch heute noch nicht. Trotzdem fasziniert seine Stimme die Gemüter.
Ich glaube, dass Benjamin als Mensch jemand war, der sich vom Geist der Zeit hat berühren lassen. Und was er getan hat, war den Geist der Zeit mit seinen Worten zu berühren. Damals war mächtig etwas los – es lag etwas in der Luft. Heutzutage wäre er mit Sicherheit ein Internetblogger. Benjamin hätte sich eingemischt, eingeklinkt. Er hätte sich auf dieser Ebene gezeigt. Und geschrieben. Viel geschrieben.
Walter Benjamin hat ein kleines Büchlein hinterlassen, die „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Darin hat er Episoden seiner eigenen Kindheit verarbeitet. Nicht aber sich selber dargestellt. Nein, etwas klassisch Autobiographisches hat er keineswegs veröffentlicht. Benjamin hat durch seinen Text die Dinge sprechen lassen – die damals zu ihm gesprochen haben.
Marcel Proust versucht in seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mittels Erinnerung die Vergangenheit wiederzufinden – und er findet sie, plötzlich, durch den Geschmack von Lindenblütentee und Madeleines. Man nennt das mémoire involontaire. Benjamin sucht im Zurücktasten in seine Kindheit, in die Vergangenheit etwas anderes. Es ist die Zukunft. Benjamin ist nach vorne gerichtet – und schenkt seine Erinnerungen der Nachwelt, damit diese Zukunft gestalten kann. Er erhebt seine Erinnerungen über sich selbst als Person hinaus.
Und gerade das ist es, was Benjamin heute so lebendig macht. Er ist – noch immer! - berührbar und er berührt. Durch Sprache. Und wir können noch heute mit ihm sprechen. Im Gespräch sein. Benjamin scheint eben auch „ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ zu sein.
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Verlag.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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