Samstag, 23. April 2016

Ein Ring. Von Wien über Estland nach Deutschland


Der Ring hat und schreibt eine Geschichte. Er prägt die Menschen, die ihn tragen und wird von den Menschen geprägt, die ihn tragen. Das sieht man ihm aber nicht so ohne Weiteres an. In das gelbe Gold sind zwei große runde Brillanten eingelassen, die wie auf einem Thron eingemeißelt sitzen. Von dort schauen sie in die Welt, treu nebeneinander, Hand in Hand. Sie glitzern und funkeln, sie strahlen aus ihrer Quelle. Es ist ein königlicher Ring, der sich bescheiden präsentiert und sich wie unters Volk mischt. Das gelbe Gold umschmeichelt den Finger, den es umringt, die Brillanten ruhen in einem goldenen Bett, das ihnen Halt gibt – eine bewährte Einheit.

Der Ring glänzt an meinem Finger. Ich trage den kostbaren Ring seit einigen Wochen am Mittelfinger der linken Hand, ich habe ihn geschenkt bekommen. Der Ring wirkt an meiner Hand so, als wäre er für mich gemacht, als trüge ich ihn schon immer – kaum, dass er auffällt. Aber das ist für mich wahrlich nicht so. Ich schaue ihn an und lausche, was er mir zu erzählen hat, denn zu Ringen habe ich ein ambivalentes Verhältnis das von Bedeutungslosigkeit bis hin zu Übersteigerung reicht. Woher kommt der Ring, was hat erlebt, wo will er hin – und, was macht er mit mir?

Ich erfahre: Mehr als 25 Jahre hat er in einer Schatulle gelegen, in einem Schmuckkästchen. Nach dem Tod meiner Großmutter hat ihn meine Mutter mit den anderen Schmuckstücken aufbewahrt. Als einzige Tochter hat sie sich um den Nachlass gekümmert und Aufbewahrungsorte für all die Gegenstände bestimmt, die den Tod meiner Großmutter überdauert haben. Offensichtlich hatte sie nicht die Ambition, den Ring zu tragen. So wartete er neben anderem Gold auf eine neue Zeit.

Und ich erinnere mich. Ja. Meine Großmutter hat den Ring getragen. Immer. Das Bild steigt hoch, ich sehe ihre Hand noch vor mir. An ihre Hand gehört dieser Ring. Sie war eine stolze Frau, die sich nicht brechen ließ, obgleich der Zahn der Zeit kräftig an ihr gezerrt hat. Noch im 19. Jahrhundert geboren hat sie beide Weltkriege erlebt und erlitten. Sie war 50 Jahre alt, als der Bruch unabwendbar hinter ihr lag, als sie ein neues Leben in Deutschland begann.

Es wird irgendwann in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Meine Großmutter hatte wenig aus ihrer estnischen Heimat retten können. Abgesehen vom Schatz der Erinnerungen aber einige Fotos und Schmuckstücke. Nicht alles war verloren gegangen, gestohlen oder vertickt worden, um zu überleben. Der Schmuck der Mutter Emma war kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unter den drei Töchtern an ihrem Grab verteilt worden. Und meine Großmutter bekam, unter anderem, einen schweren Goldring mit einem Saphir und zwei Brillanten.

Diesen Ring hat sie später in Deutschland umarbeiten lassen. Die Nachkriegszeit bot sich nicht an, auffälligen Schmuck zu präsentieren. Und außerdem wollte sie auch gerne etwas für ihre Tochter haben. Und so wurden zwei Ringe daraus. Einer mit dem Saphir und einer mit den Brillanten. Die Geschichte des Saphirrings ist eine andere, von der ich zu wenig weiß, um sie hier zu erzählen, die des Brillantenrings aber fand für Jahrzehnte ihre Heimat an der Hand meiner Großmutter.

Als ich den Ring bekam, zu meinem 50. Geburtstag, wurde gewispert, dass er einst ein Geschenk des russischen Zaren für eine Fotografie gewesen sei – meine Vorfahren (Atelier Schulz) waren in Estland Fotografen. Der Mythos wurde gehegt und übersteigert, aber nicht verifiziert. Und ich schaute auf meine Hand mit dem Ring, der eine lange, aber doch vage Geschichte in sich trägt. Als ich dann bei einem Archivar in Dorpat/Tartu die Geschichte erzählte und nachfragte, ob er etwas Diesbezügliches herausfinden könnte, sandte er mir postwendend eine Anzeige aus der Zeitung (aus Dorpat/Estland) von 1893 zur Provenienz des Ringes:

„Wie wir hören, ist dem Inhaber des bekannten photographischen Ateliers C. Schulz hierselbst kürzlich eine sehr ehrende Auszeichnung von Wien her zu Theil geworden. Für von ihm für den Wiener Hof hergestellte Vergrößerungen hat Kaiser Franz Joseph ihm durch den Generaladjutanten Grafen Paar seinen Dank aussprechen und zugleich einen schweren goldenen Ring mit einem Saphir und 2 Brillanten übersenden lassen. – Wir erinnern daran, dass die Firma C. Schulz schon früher die von ihr hier am Embach-Ufer gepflegte photographische Kunst in der verwöhnten Kaiserstadt an der Donau zu Ehren gebracht hat, in dem im vorigen Jahre, wie I.B. berichtet, ein von ihr für den Kaiser von Oesterreich hergestelltes großes Portrait des Erzherzogs Carl Salvator in entsprechender Weise gewürdigt worden ist.“

(Zu finden: https://dspace.ut.ee/handle/10062/51099, Seite 123, dritte Spalte von links, etwas oberhalb der Mitte. Beilage zur Neuen Dörptschen Zeitung, Nr. 99, Sonnabend 1. (13.) Mai 1893, Seite 1.)

Ich bin baff und überrascht zugleich. Der Märchencharakter schwindet zu Gunsten eines klaren Bildes, die Quelle liegt geöffnet vor mir. Nicht also vom russischen Zaren Hof, sondern aus Wien, von Kaiser Franz Joseph – vor 123 Jahren! Was der Ring erlebt hat, bevor er von Wien nach Estland transportiert wurde, das weiß ich nicht. Vielleicht hat Sissi ihn getragen. Jetzt prangt er an meiner Hand und meine Geschichte mit ihm beginnt. Gut tut es zu wissen, wo die Wurzeln dieses kostbaren Stückes sind.

Der goldene Ring mit den zwei Brillanten, ein Band durch Jahrhunderte, von einer Geschichte in die andere, von Land zu Land, Finger zu Finger. Danke!