Sonntag, 20. Dezember 2015

Ein Brief. Der Wahrheit ins Gesicht blicken


Der Brief lag unschuldig im Briefkasten. Ich hatte schon darauf gewartet, ja, ich hatte ihn sogar angefordert. Aber dann zögerte ich. An dem dunklen Adventsabend, als ich die Post nach einem langen, kalt-feuchten Tag aus dem Briefkasten nahm. Ich sah ihn sofort. Absender: Bundesarchiv. Langsam lief ich die Einfahrt entlang, vom Briefkasten zur Haustür, schloß auf, trat ein und verschloss die Tür sorgfältig. Ich behielt Schuhe und Jacke an, legte meine Tasche und die anderen Briefe zur Seite und setzte mich an den Küchentisch, um den Brief zu öffnen.

Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Estland, sie gehört zu den Baltendeutschen. Meine Familie väterlicherseits kommt aus Tschechien, sie gehört zu den Sudetendeutschen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind beide Familien – was von ihnen übrig war: Mütter und Kinder – irgendwann und irgendwie in Süddeutschland gelandet. Dort haben sich dann einige Jahre später meine Eltern getroffen und mein eigener Lebensweg begann.

Als es in der Schule um den Geschichtsunterricht ging und ich vage erfassen konnte, was im Ersten und Zweiten Weltkrieg passiert ist, konzentrierte sich mein Interesse auf die Gräueltaten der Nazis. Was muss das damals für eine Schreckensherrschaft gewesen sein? Was für eine Parteiideologie? Wie konnten sich Menschen zusammentun und Angst und Schrecken verbreiten – ganz abgesehen von der menschenverachtenden Ideologie und dem Holocaust? Ich war entsetzt. Und sicher, dass meine Familie nichts damit zu tun hätte.

Dass ich jedoch auch nicht aus einer Familie von Widerstandskämpfern kam, wurde mir irgendwie auch klar. Das wäre natürlich klasse gewesen. Eine Nachfahrin von jemandem zu sein, der das eigene Leben eingesetzt hat um die Familie, die Deutschen, ja die Welt vom Hitlerregime zu befreien. Stolz zurück zu blicken und sich im Strom von mutigen Weltverbesserern zu wähnen. Nein, keine Widerstandskämpfer in meiner Familie, soweit ich das damals in Erfahrung bringen konnte.

Im Gegenteil, es war ja so, dass beide Familien am Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Opfern des Naziregimes gehörten. Sie wurden vertrieben, mussten ihre Heimat verlassen. Von einem Tag auf den anderen mussten sie fliehen, 1945, vor den neuen Machthabern. Mit dem Bollerwagen musste meine Großmutter mit ihren beiden Jungs um ihr Leben laufen, Tage-, Wochen-, ja Monatelang. Man konnte gerade überleben. Und hat jeglichen Besitz zurücklassen müssen. Nichts blieb als das nackte Leben. So war mein Bild.

Jahre später, ich war längst erwachsen, reiste ich sowohl nach Tschechien als auch nach Estland und suchte die verlorene Heimat meiner Großeltern. Großbürgerlich war es zugegangen, in beiden Fällen. Einst prächtige und herrschaftliche Häuser waren in erbarmungswürdigem Zustand zu betrachten. Die alten Fotografien ließen jedoch keinen Zweifel, wir hatten die richtigen Gemäuer gefunden.

In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben damals aussah, kam durchaus die Frage auf, wie sich die Großväter zu dem damals regierenden Regime verhalten hatten. Da sie aber beide keine aktiven Kriegsteilnehmer waren, sondern auch während des Krieges ihren Beruf ausübten, wurde das Bild gestärkt, dass sie harmlose, unschuldige Mitbürger in einer schwierigen Zeit waren. War das richtig, konnte man auf so herausgehobenen Posten kein aktives Verhältnis zu den Machthabern haben? Lange schob ich den Gedanken beiseite.

Aber die Frage meldete sich immer wieder. Und vor einigen Wochen schrieb ich dann eine kurze Mail an das Bundesarchiv, um anzufragen, ob meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits möglicherweise Mitglieder in der NSDAP waren. Und selbstverständlich erhoffte ich mir eine negative Antwort. Nun lag das Ergebnis, verschlossen in einem Briefumschlag auf meinem Küchentisch.

Ich öffnete den Brief. „…ermittelt wurden drei Mitgliederkarteikarten, die Ihnen anliegend in Kopie zugehen“. So. Da stand es. Schwarz auf weiß. Beide Großväter und eine Großmutter waren Mitglieder in der Partei. Das, was ich bislang denken konnte, zu denken bereit war, rutschte mir nun ins Herz. Sofort regten sich Gefühle. Mein Herz schlug. Mein Kopf relativierte akrobatisch. Ja, damals… Da musste man ja… Fast jeder war Mitglied… Es gab Zwänge… Wie hätten sie sonst auf solchen Posten arbeiten können… Alles längst vorbei… Jedoch: Schau der Wahrheit ins Gesicht!

Und ich sah der Wahrheit ins Gesicht. Und nicht nur das. Ich fühlte die Wahrheit auch mitten in mir. Als Kriegsenkel bin ich längst dafür sensibilisiert. Das Aufeinandertreffen von Ideal und Wirklichkeit ist es, das schwierige Gefühle entstehen lässt. Mit der Geschichte der Opfer-Familie ist es nun endgültig vorbei. Wenn auch (vielleicht?) keine aktive Täterschaft, so doch Mittäterschaft. An meinem Selbstverständnis als aufgeklärte Bürgerin des 21. Jahrhunderts rinnen familiär braune Kleckerflecken herunter.

Die entstandene Stille, ich saß noch immer mit Jacke und Schuhen am Küchentisch, gebar die Frage, ob es meinen Großeltern gegenüber vielleicht indiskret war, dass ich den Rechercheauftrag ans Bundesarchiv gegeben hatte. Wollte ich das Ergebnis wirklich wissen? Und, wie ist das nun für meine Großeltern? Denn zu Lebzeiten haben alle Beteiligten über diesen Teil ihrer Geschichte geschwiegen. Ganz fest geschwiegen. Aus Wut? Aus Scham? Aus Unverständnis politischer Strukturen, Naivität?

Sie sind alle schon lange tot. Und doch leben sie in mir, meine Großeltern – auch wenn ich die Großväter nie kennengelernt habe. Die folgende Nacht war ich meinen Großeltern sehr nah. Und am Morgen erwachte ich mit dem Gefühl der Entlastung, der Vergebung. Das kalte Licht der finsteren Wahrheit über den Jahren des Schreckens wird wärmer und das Gefühl der Befreiung von dem ungemütlichen und schäbigen Geheimnis macht sich breit. Auch dunkle Seiten gehören zum Leben. Meine Großeltern waren dabei, haben mitgemacht und mitgelitten. Strafe war das allemal. Nun kann vergeben und verziehen werden und die nächste Generation kann ihre Urteilskraft schärfen, um nicht ähnlichen Wahnbildern zu verfallen.

Den Brief des Bundesarchivs lege ich zu den vielen Rechercheergebnissen, zu den Fotos und Briefen, den Landkarten und Erinnerungen die ich von meinen Vorfahren habe. Auch diese Wahrheit gehört dazu.