Sonntag, 4. Oktober 2015

Die stumme Sprache eines Friedhofs. Auf der Suche nach Gräbern in Dorpat


Ich war am Morgen auf dem Friedhof gewesen. Hatte mich am Abend vorher durchgefragt und die Zeichen offensichtlich richtig gedeutet, denn ich war dort gelandet, wo es eine unendliche Menge von deutschen Namen zu lesen gab. Es ist der große, alte, evangelische Friedhof, auf dem die Deutschen beerdigt liegen. Am Rande der Altstadt sah ich morgens schon vom Ufer des Embachs eine Stelle, an der sehr viele große alte Bäume beieinander stehen. Fast sah es von weitem wie ein kleiner Wald in der Stadt aus. Dorthin fahre ich. Den Mietwagen stelle ich auf dem Parkplatz des Supermarkts ab. Direkt daneben ist der Eingang zum Friedhof. Alte und neue Zeit wohnen nebeneinander, Tür an Tür. Ich tauche ein in ein unendliches Meer aus Grün, wieder einmal. Grüne Stille. Und ich spüre: alte Stille. Die Sonne blitzt zwischen den Blättern hindurch. Die großen und mächtigen Bäume bilden die Festpunkte in dem Areal der Toten. Die Geräusche der Stadt verklingen, ich höre eine Amsel.

Meine Schritte aber sind kaum zu hören. Moos schmiegt sich um jeden der Pflastersteine, dazwischen Gras – die Erde ist fruchtbar. Ich tauche in eine andere Welt ein. Hier liegt die Vergangenheit, sie ruht. Ich laufe zwischen Himmel und Erde durch das Reich der Pflanzen. Gras, Farn, Büsche und Bäume, sehr hohe Bäume – sie decken die Vergangenheit zu. Die schmalen Wege zwischen den Gräbern wirken wie Adern. Gräber, darunter die Toten, darüber Grabsteine, Grabkreuze, Grabmale stehend, sitzend, liegend – umgefallen, überwuchert, moosbewachsen. Die Welt des Vergessens und die des Erinnerns treffen aufeinander. Es sieht so aus, als ob die deutschen Gräber alle noch da sind, aber eben nicht gepflegt wurden. Von wem auch? Die Deutschen wurden 1939/40 verjagt, weil Hitler und Stalin ihre eigenen Pläne hatten, die Öffnung des eisernen Vorhangs liegt noch nicht so weit zurück – alles braucht Zeit, die Toten haben sie. Generationen haben einander überlebt, die Zeit elastisch überdauert. Der Friedhof macht gerade das sichtbar. Die Todesdaten der deutschen Gräber reichen bis ins Jahr 1940 – erst eine ganze Generation später können die Fäden wieder aufgenommen werden.

Ich laufe durch die große Anlage. Überall deutsche Namen – dort, wo ich sie lesen kann. Bibelzitate, Daten, Fakten, Wünsche, Hoffnungen… Im Tod sieht das Leben anders aus. Für Sterbende, Verstorbene und Lebende. Hilde Domin sagt es in einem ihrer gewaltigen Gedichte: die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten. Ja, hier sind sie versammelt – die unverlierbaren Toten. Alle sind sie da. Aber was weiß ich von ihnen? Wer sind sie? Freunde meiner Vorfahren, Nachbarn, Geschäftspartner, ja vielleicht sogar Konkurrenten oder Feinde? Ich lese Namen um Namen – deutsche Namen aus einer alten Zeit. Aber ich finde keinen Grabstein mit dem Namen Schulz. Ich müsste anfangen das Moos abzukratzen, Steine umzudrehen, aufzustellen… Dennoch bin ich sicher, dass meine Familie hier anwesend ist. Ihre Gräber müssen hier sein. Irgendwo. Jedenfalls will ich es so. Anders kann ich es nicht denken. Ich setze mich auf eine Bank und lasse meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf.

Ich stelle mir vor, wie meine Großmutter schon als Kind immer wieder auf diesen Friedhof geführt wurde. Zum Sonntagsausflug. Von der anderen Seite der Stadt, über den Embach. Wahrscheinlich noch mit der Kutsche. Die Toten leben weiter, wenn wir uns ihrer erinnern. Ich kenne all die Menschen aus den Erzählungen meiner Großmutter, irgendetwas wispern sie. Ich höre ihre nie gehörten, stummen Stimmen, wenn ich mir die Namen bewusst mache. Da war die kleine Schwester meiner Großmutter, Gertrud. Sie ist als Kind gestorben, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag. Scharlach hat sie dahingerafft. Es gab noch kein Antibiotikum. Meine Großmutter hat sie gar nicht gekannt, sie wurde erst zwei Jahre nach ihrem Tod geboren. Und dennoch erzählte sie mir von ihr. Immer und immer wieder. Die kleine Gertrud. Irgendwo muss ihr Grab sein. Und das ihrer Eltern. Meiner Urgroßeltern. Arthur und Emma Schulz.

Im Friedhofsbüro frage ich nach den Gräbern von Familie Schulz. Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe, aber ich möchte sie finden. Die Dame hinter dem Tresen sucht ihr digitales Verzeichnis durch. Sie will Vornamen, Jahreszahlen. Wir klären, wie der Name geschrieben wird. Nichts. Nein, sie findet nichts. Entschuldigend erwähnt sie aber, dass nicht alle Gräber verzeichnet seien – zu viel sei der wuchernden Natur anheimgefallen. Und dann sagt sie noch etwas von EU-Geldern, die vielleicht kommen würden und davon, dass ich nicht die einzige sei, die alte Gräber suche. Und dass sie schon viel geschafft hätten und dass Estland noch viel vor sich habe. Ich bedanke und verabschiede mich. Und ich laufe weiter über den alten Friedhof. Nichts zu finden. Es ist doch alles schon so lange her. Trotzdem habe ich das Gefühl inmitten eines Geschehens, irgendwo hineingeraten zu sein. Ich bin wach und schläfrig zugleich. Die vielen alten Gräber erwecken einen Raum in mir, den ich selber noch nicht kenne.

Hinter den wenigen Angaben auf den Steinen verbergen sich ganze Biographien – Höhen und Tiefen, persönliche Geschicke, Zeitereignisse, politische Gegebenheiten mit Kriegen, Gesetzen und Beschlüssen, die sich im Schicksal des Einzelnen niederschlagen – zusammengefasst in einen Namen sowie ein Geburts- und Sterbedatum. Mehr ist es nicht. Aber: Jeder Verstorbene war in ein Familien- und Beziehungsgeflecht eingebunden, über Nachwuchs und Seitenlinien generieren sich lange Erbbänder, die die Geschichte weitertragen und entwickeln. Was habe ich mit meinen Vorfahren zu tun, sind nicht meine heutigen Freundschaften und Verbindungen viel wichtiger? Es heißt, dass sich transgenerationale Vererbung über fünf Generationen zurückverfolgen lässt sowie, dass die Intentionen und Motive eines Lebens fünf Generationen in die Zukunft hinein von Bedeutung sein können.