Freitag, 28. August 2015

Von der Auswanderung zur Flucht - Baltendeutsche über drei Generationen


Im Osten Europas schienen die Arbeits- und Lebensbedingungen vielversprechend zu sein, so dass sich mein Ururgroßvater aus Süddeutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts entschloss in den östlichen Norden Europas auszuwandern. In Estland eröffnete er damals eines der ersten und prominentesten Fotoateliers, das über drei Generationen fortgeführt wurde. Mein Ururgroßvater wurde im „Ausland“ unmittelbar als Unternehmer geachtet und gehörte direkt der oberen Gesellschaftsschicht an. Er erwählte Dorpat in Estland zu seiner neuen Heimat und verband sich mit ihr tief.

Soweit ich das beurteilen kann muss das Leben dort angenehm gewesen sein. Die Deutschen machten damals in dem „deutschen“ Universitätsstädtchen etwa ein Drittel der Bevölkerung aus. Jeder sprach mehrere Sprachen: zu Hause unterhielt man sich auf Deutsch, mit den Gästen wurde Französisch gesprochen, mit dem Dienstpersonal sprach man Estnisch, in der Schule wurde auf Russisch unterrichtet. Als Deutscher lebte man gut bis sehr gut.

Carl Schulz stand einem erfolgreichen und florierenden Fotoatelier vor, neben dem Hauptgeschäft hatte das Atelier mehrere Dependancen in weiteren Städten, und noch heute finden sich Fotos von ihm, die zu formidablen und horrenden Preisen angeboten werden. Er hatte eine Familie mit acht Kindern – der älteste Sohn übernahm in geeignetem Alter selbstverständlich das Geschäft.

Als dieser zu früh starb, er erblindete und nahm sich das Leben, so dass er auf dem deutschen Friedhof beerdigt wurde, übernahm sein jüngerer Bruder das Atelier, mein Urgroßvater, Arthur Schulz, und lebte mit seiner Familie, sechs Kinder, weiterhin in Dorpat in der Gartenstraße 3. Das Atelier blühte seit Jahren. Der Erste Weltkrieg brachte allerdings einige Umstrukturierungen, das Land wurde nicht mehr von der russischen Zarenkrone regiert, sondern war für einige Jahre ein freier estnischer Staat geworden. Etwa die Hälfte der Deutschen ging fort, aber es blieben so viele, dass ein kulturell anspruchsvolles Leben weiterhin möglich war.

Meine Großmutter wurde bereits 1897 geboren. Ihr Selbstverständnis war bis ins hohe Alter das einer Baltendeutschen – sie lebte (die Hälfte ihre Lebens) in Estland auf deutsche Art und liebte ihre Heimat über alles. Ihr Studium machte sie in Berlin – so wie sie sowieso ständig auf Reisen war. Ein Jahr in der Schweiz zu verbringen war ganz normal. Zwischen Berlin und Dorpat ist sie immer wieder hin und her gefahren. Sie arbeitete bis 1939 als Fotografin weiter, ihr Vater war 1921 verstorben, dann rief Hitler die Baltendeutschen in die neueroberten Gebiete im „ehemaligen“ Polen. Die Wahlheimat musste aufgegeben werden, eine erzwungene Umsiedlung stand an…

…die nach den Kriegsjahren in eine Flucht mündete und alles endgültig zerstörte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 brachen deutsche Flüchtlingsströme Hals über Kopf auf, um aus den östlichen Gebieten weiter in den Westen zu ziehen. Während die Umsiedlung noch halbwegs geordnet stattfand, ging es nun nur noch um das Überleben – materieller Ballast konnte nur bedingt mitgenommen werden. Die dritte Generation der Fotografenfamilie in Estland musste endgültig alles hinter sich lassen und „in Restdeutschland“ neu beginnen.

So flüchtete meine Großmutter mit ihrer kleinen Tochter von Ost nach West – „zurück“ nach Deutschland, aus dem einst ihr Großvater ausgewandert war. Diese Flucht war alles andere als ein Spaziergang sondern begleitet von Angst, Bedrohung und gefährlichen Aktionen sowie dem materiellen Verlust jeglichen Besitzes. Die Baltendeutschen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Herkunftsland, dessen Sprache sie sprachen, dessen Kultur sie lebten und dessen Ideale sie in der Fremde gelebt hatten.

Fremd in der Heimat? Ganz Europa wurde bevölkerungstechnisch gesehen umgekrempelt und musste sich neu konstituieren – womit wir offensichtlich bis heute beschäftigt sind. Die Zeit der eigenen Aufarbeitung scheint auf Grund der aktuellen Lage dringend notwendig – denn nun sind es die Flüchtlingsströme aus dem Süden, die bei uns ankommen und dringend Hilfe benötigen. Das Wort „flüchten“ kommt ursprünglich von „davonspringen“ (aus der Jägersprache) und hat einen dramatischen Charakter der durch die mitschwingende „Lebensgefahr“ jeglichen Spielcharakter verloren hat.

Ich resümiere: Auch ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie. Obwohl ich nie geflohen bin und schon immer in meinem Heimatland lebe. Meine Staatsangehörigkeit ist deutsch. Und auch die meiner Eltern ist deutsch. Sie wurden allerdings nicht auf deutschem Boden geboren, sondern in europäischen Gebieten, die im letzten und vorletzten Jahrhundert von Deutschen seit Generationen besiedelt waren. Warum ist es so schwer den eigenen Ort zu finden – sitzt die Angst vor einer Flucht auch noch der Enkelgeneration so in den Knochen, dass sie mit ihren eigenen Fragen hinterherhinkt?

Samstag, 22. August 2015

Oskar Koneczny: Schreiben über den Tod hinaus


Ich sehe: Der schmale Mann mit der tiefen Stimme steht mit seiner Pfeife vor dem Eingang und raucht. Unter dem Wollpullover trägt er ein Hemd, um den Hals hat er ein Tüchlein gewickelt, den Kopf ziert eine Mütze. In einer Hand hält er seine Pfeife, die andere steckt er in die Hosentasche. Er wippt mit seinen Füssen. Sein aufmerksamer Blick wandert immer wieder zwischen dem Boden und der Ferne hin und her. Dann schaut er mich an und erhebt seine tiefe Stimme.

Ich erinnere mich: Ich bin ihm schon als Kind begegnet. Selten. Aber immer wieder. Damals bin ich vor ihm zurückgewichen. Ein großer, fremder, respektgebietender Mann mit tiefer Stimme, die aus einer anderen Welt zu kommen schien. Sein Platz am gemeinsamen Mittagstisch war die des Familienoberhaupts. Er fragte jeden, was es zu berichten gäbe und hörte einen Augenblick aufmerksam zu, bevor er das Haus für seine Arbeit wieder verließ.

Ich denke: Heute ist das anders. Er berichtet von seinem Leben und ich höre zu. Er erzählt von den verzweigten und vielfarbigen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die sein Schicksalsnetzwerk ausmachen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Weggefährten. Länder und Orte spielen eine Rolle sowie Arbeitsstätten und Projekte. Mehreres passiert gleichzeitig, auf allen Ebenen ist etwas los. Das Leben ist bewegt und sehr ereignisreich.

Ich lese: Auf seinen Füssen ist er weit gelaufen. Kindheit und Jugend sind von Krieg und Vertreibung geprägt, Verluste gibt es bereits von Kindesbeinen an zu beklagen, die aber in seinem Lebensbuch Erinnerung und Heimat über das grausame Ende hinaus finden. Die Vergangenheit liegt weit hinter ihm, das betont er immer wieder, Schritt für Schritt ist er aus ihr herausgetreten, hat den Fuß in die Gegenwart gesetzt und gehandelt. Fast immer war er mit Weggefährten unterwegs, hie und da gab es Kurskorrekturen oder nötige Änderungen.

Ich höre: Er erzählt und erlebt wieder. Es dauert. Der Begriff des Scheiterns kommt zögernd zu Tage, denn es geht auch um Brüche, Spannungen und biographische Wogen. Parzival steht ihm zur Seite. Er hadert, schweift mit dem wachen Blick in die Ferne und richtet das Wort wieder an mich. Niemanden will er schlecht machen. Sein Urteil zeugt von Weisheit und Güte. Nicht alle Ziele konnten erreicht werden, einiges ist auf der Strecke geblieben. Mit fast allen Ecken und Kanten kann er jetzt souverän umgehen, irgendwie. Manches, was er mit seinem scharfen Blick am Horizont erahnen konnte, blieb in der Weite, in der Ferne – hat sich dem Zukünftigen anheimgestellt und sich nicht der Gegenwart präsentiert.

Ich sehe: Dafür hat er seine Hände gebraucht. Chirurgische Eingriffe, Existenz rettende Maßnahmen, Lebensqualität steigernde Operationen, geplante und ungeplante, neue Wege hat er gesucht und beschritten, ganz konzentriert im Hier und Jetzt. Das Gestern und das Morgen interessieren in diesen Momenten nicht, alles kommt darauf an, jetzt das richtige zu tun – akute Hilfe in der Not. Wer, wenn nicht er, weiß, dass Verletzungen heilen – sie aber die richtige Behandlung brauchen. Nicht alle Narben seines eigenen Lebens sind zugewachsen, haben sich aber in das Lebensgefüge integriert. Irgendwie.

Ich denke: Alles wollte er aufschreiben. Weit hat er in vergangene und zukünftige Zeiten geblickt, damit nichts vergessen wird und dem biographischen Gefüge verloren geht. Stapel von Episoden liegen um mich herum. Briefe und Korrespondenzen, Artikel, Tabellen, Bücher und Filme. Alles türmt sich auf meinem Schreibtisch – da liegt ein ganzes Leben. Und immer wieder seine Frage: Welche Ordnung soll das ganze haben? Und die Ankündigung: Da kommt noch mehr! Dieses muss noch geschrieben werden und jenes. Und dann muss noch getippt werden. Der Mann der alten Schule schrieb alles mit der Hand. Fein säuberlich werden alte Papiere mit Büroklammern zusammen gehalten und angeheftete Zettel weisen auf die Zusammenhänge hin.

Ich fasse zusammen: Auch die Weihnachtsbriefe sollen noch Beachtung finden – die nicht aus seinem Blickwinkel geschrieben wurden, ihn aber betreffen. Manches kommt mit der Schneckenpost, anderes digital. Seine Lebenskarawane ist lang und hat viele Oasen besucht, die es nicht zu übergehen gilt. Die große Idee ist da. Aber noch sind nicht alle Erinnerungen niedergeschrieben. Und geordnet sind sie schon gar nicht. Gerade am Tag der geplanten Weiterarbeit hat der Tod dem gemeinsamen Unterfangen ein Ende gesetzt.

Ich frage: Was bedeutet es, dass dein Leben im Schnittpunkt einer Gegenwart beendet wurde, alles nun der Vergangenheit angehört und sich deine irdische Zukunft verschenkt hat? Der Tod hat dem Leben ein Ende gesetzt und eine neue Tür geöffnet. Deine Vergangenheit wird in die Gegenwart anderer aufgenommen, dein Leben als Erinnerung in unser Leben gelegt. Wir machen weiter mit dem, was du hinterlassen hast. Das Kommende wird sich neu konstituieren und das Andenken an dich wird eine Rolle darin spielen.

Ich resümiere: Wir, die Hinterbliebenen, werden das Erinnerungswerk fortführen – so gut wir es vermögen – und zu Ende bringen, was er vorhatte, damit es der Nachwelt zur Verfügung steht. Ich verneige mich in Dankbarkeit vor der Offenheit, die mir entgegengebracht wurde, dem Vertrauen, das mir geschenkt wurde und der Zuversicht, Ordnung in das viele beschriebene Papier zu bekommen, das die Schrift des Lebens, die Bio-graphie (‚Bios‘ – Leben, ‚Graphie‘ – Schrift) dieses besonderen Mannes uns hinterlassen hat.

Mittwoch, 19. August 2015

Anna und ihre Großmutter (II)


Der Vorhang öffnet sich und ihr Lebenspanorama liegt vor ihr. Vielleicht müsste sie besser sagen: umringt, ja durchzieht sie. Das Oben und das Unten, links und rechts, vorne und hinten haben ihre scharfen Ränder verloren, ihre zugewiesene Größe eingebüßt. Sie steht mitten in ihrem Leben und bewegt sich gleichzeitig im Leben ihrer Nächsten – schwerelos, stimmlos.

Sie sieht die Bilder ihrer Kindheit und Jugend genau so scharf, wie die ihres Erwachsenenalters oder ihres Alters, sie ist mittendrin und schaut sich zu – gerade noch hat sie Zeit mit Anna verbracht, die ihr tage- und wochenlang Gesellschaft geleistet hat. Allein durch ihre Aufmerksamkeit überwindet sie das, was man auf der Erde geographische Entfernungen genannt hat.

Alle Ereignisse sind da, jegliche Menschen, jeder Ort und jeder einzelne Moment der Zeit, die sie auf der Erde verbracht hat. Sie sieht und spürt alles gleichzeitig. Überwältigt gibt sie auf und ergibt sich - die irdischen Vokabeln taugen nicht mehr. Schauen heißt sehen und fühlen und wollen und verstehen… Sie muss sich in der neuen Dimension zurechtfinden. Die Zeitlichkeit verschiebt sich, Minuten werden zu Jahren, Unendlichkeit ist Jetzt.

Sie ist damit konfrontiert, was sie getan hat. Und was sie nicht getan hat. Eingreifen kann sie nicht. Ja, das ist es. Handeln ist nicht möglich. Aber sehen, verstehen, fühlen, denken, wollen… Taten liegen in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Gerade das Tun in der Gegenwart fehlt – das, woraus das irdische Leben besteht. Sie sieht sich auf dem Bahnhof stehen. Ja, sie steht gleichwohl auf dem Bahnhof. Gerade noch hat sie sich verabschiedet. Winkend, das rote Tuch in der Hand, Tränen über die Wange rinnend, den Blick gen Westen gewandt.

Bevor der Zug abfuhr hatten sie in der Gaststätte des hölzernen Bahnhofs zu Mittag gegessen und Pläne geschmiedet. Mutig und voller Lebensfreude hatten sie zusammen gesessen, die Füße hatten sich unter dem Tisch immer wieder berührt, und davon gesprochen, wie sie es machen würden. Er versprach ihr sich sofort zu melden. Postalisch. Oder, wenn es irgendwie ginge auch fernmündlich. Sie sollte sich tagsüber im Atelier aufhalten und die telefonischen Aufträge entgegen nehmen – damit er sich erreichen konnte, ohne dass…

Erst wenn das Haus in der Hauptstadt gefunden wäre, würden sie es offiziell machen. Noch wussten die Familien nichts. Sie hatten große Pläne, die Zukunft wäre ihre, wenn der Brief überbracht wäre. Sie hatten bereits über einen Namen gesprochen und über die Rolle, die sie spielen würde. Endlich, endlich war es so weit.

Aber was folgte waren Tage des Wartens, Wochen, Monate. Sie hörte nichts. Nie mehr. Es war still, es blieb still und sie wusste irgendwann, dass es immer still bleiben würde. Sie lief zwischen dem Telefon, der Poststation und dem Bahnhof hin und her – sie konnte die Ruhe nicht ertragen und wollte sich nicht in ihr Schicksal ergeben. Was sie nicht tat, war in den Zug zu steigen. Das war ein Fehler.

Wie durch einen Schleier sah sie plötzlich das Szenario, was geschehen wäre, wenn sie gefahren wäre. Ihr Leben mit ihm – vor seinem Tod. Aber sie ist nicht gefahren. Und so wurden die Würfel neu gemischt. Sie bog in ein Schicksal ein, das sie nie betreten wollte. Sie wusste es und konnte es nicht ändern. Im Schnittpunkt ihres Lebens war sie allein. Und blieb es. Und auch er blieb allein, sogar im Tod.

Wie konnte sie das wieder gut machen – der Schmerz nagt an ihrem Herzen. Sie bekommt kaum mehr Luft. Etwas Warmes, Weiches umhüllt sie, Sphärenklänge umschmeicheln ihr Sein. Sie braucht eine Pause. Das, was getan wurde, und das, was gerade nicht getan wurde hält sich die Waage – sie kann es nicht mehr ändern. Eine Seite im Buch ihres Lebens, das die Story vom Weg abgebracht hat. Mühselig war die Suche im Unterholz nach einem kleinen Pfad – den Highway mied sie fortan.

Alles, was ihr vorüberziehendes Leben zeigt, fordert Konsequenz. Sie schaut zu Anna, wie sie neben ihrem Bett sitzt und schickt ihr Herzensgrüße, obwohl nichts gesagt war, war es mehr, als das, was zu ertragen war, was Anna für sie getan hatte. Sie würde mit dem Geheimnis leben können. Der Blick aus dem Innern trifft sich selbst in dem großen, weiten und breiten Blick aus dem Außen.

Dienstag, 18. August 2015

Anna und ihre Großmutter (I)


Das Fatale in Annas Leben ist ihre unumwundene innere Ausrichtung auf andere Menschen. Sie merkt es nicht immer. Und wenn, dann ist sie sich meistens nicht klar darüber, was das für die anderen heißt – geschweige denn, wie sie selber damit umgehen könnte. Aber wer würde sich schon in solch einer glücklichen Lage schätzen? Den Anderen zu beschreiben, zu beurteilen oder gar zu verurteilen liegt näher. Das Antlitz eines Menschen ist eine offene Bühne. Daran kommt niemand vorbei. Man sieht zwar nicht hinter die Soffitten, auch nicht in die Untergründe oder in den Bühnenhimmel. Was aber auf der Bühne geschieht ist wie ein Spiegel, der alle Tore öffnet und das scheinbar Verborgene preisgibt.

Bühnen sind gefährlich. Menschsein ist gefährlich. Jemand könnte etwas sehen, was nicht gezeigt werden will. Jemand könnte einer Kleinigkeit ansichtig werden – wenn er denn schaut - von dem sein Besitzer nichts weiß. Aber umgekehrt ist es genauso. Also sitzen wir in einem Boot. Die eigenen Augen sind Okulare für das, was die anderen versuchen unter Verschluss zu halten. Der eigene Blick vermag das nicht auszuhalten. Das Schauen von außen und das Schauen von innen treffen sich – wenn sich zwei Menschen aufeinander einlassen. Das wussten wir doch schon. Oder?

Es gibt kein Oder. Anna weiß das. Es ist eine alte, weise Wahrheit. Und gerade diese Wahrheiten, sie sind meist klein und unscheinbar, stellen Ansprüche. Sie suchen Bewegung und Menschen, die bereit sind die Kathedrale zwischen sich zu erbauen und einander von den Dingen zu erzählen, die unscheinbar genannt werden.

Der Sommerwind rauscht durch die Bäume. Am Himmel ziehen kleine Wölkchen eilig nach Osten. Der hellblaue Himmel dahinter wirkt wie eine Wand aus Pappe. Das nachmittägliche Sonnenlicht erfasst das Grün der Blätter, die im Wind rauschen. Fast denkt Anna, dass sie am Meer säße. Jedoch steht sie am Fenster. Am Fenster im Zimmer ihrer Großmutter, die hinter ihr liegt und gerade verstorben ist. Anna weiß es, obwohl sie sich noch nicht umgedreht hat. In einem stillen Sturm hat sie sich aus dem Leben verabschiedet. Trotz der äußeren Geräusche hat Anna die leisen Atemzüge der alten Dame gehört. Jetzt ist es still. Ganz, ganz still.

Anna weiß, was zu tun ist. Aber sie wartet. Sie atmet und schließt die Augen. Dann dreht sie sich langsam um und schaut. Ein leiser Wind weht durch das Fenster, die Rosen sind umgefallen. Die Blütenblätter haben sich über den Tisch und den Boden verteilt. Der Mund der Großmutter steht ein wenig offen. Ihre Hände haben sich geöffnet. Ein Auge ist nicht ganz geschlossen. Sie sieht noch genauso aus wie vor einigen Minuten. Das hagere, faltige Gesicht glättet sich. Anna kann zuschauen. Die Rosenblätter fallen, aber das Gesicht der Großmutter blüht auf. Ihre Würde kehrt zurück. Endlich. 

Wahrheiten überdauern, genauso wie Geheimnisse. Nun ist Anna das neue Geheimnis, das Rätsel ihrer Herkunft. Die Großmutter hat alles, was sie wusste mit hinter den unsichtbaren Vorhang genommen, hinter dem sie verschwunden ist.

Die Ausrichtung auf andere Menschen bedeutet Interesse. Anteilnahme. Eine fragende, offene Haltung. Aber sie kann auch Abhängigkeit bedeuten, denn ihr Kern ist kein Kern sondern ein Loch. Sie kann bedeuten ausgeliefert zu sein. Anna weiß es. Manchmal geht sie mit ihrer Einsamkeit tanzen und verweigert den Blick nach außen. Sie ist dann wunderschön und ganz bei sich, das weiß sie. Schon oft wurde ihr das gesagt. Ihre silbrig glänzenden Tränen legen sich wie eine Kette aus Perlen um ihr Dekolletee. Und sie spürt ihren warmen Herzschlag. Und fühlt die Erhabenheit lebendig zu sein. Und Menschen um sich herum zu haben, die entscheidend für sie sind.

Anna faltet die Hände und dankt ihrer Großmutter. Der Tod offenbart alles und nichts. Die Großmutter schaut jetzt auf sich selber, wie andere zu Lebzeiten auf sie geschaut haben. Ihr Blick hat das Tor zu ihr selbst geöffnet. Die Wartezeit ist vorüber, der Vorhang öffnet sich. Die Verbundenheit zwischen den beiden wird bleiben, da sind sie sich sicher. Nun gilt es innere und äußere Bilder zu verbinden. Darüber zu reden, alles Weitere zu organisieren. Noch weiß es niemand. Das Rauschen des Windes ebbt ab, der Abendhimmel wölbt sich schützend über die Taten der Menschen. Am Himmel ist ein erster Stern zu sehen.