Montag, 20. Oktober 2014

Das Leben und ich. Wer berät wen?


Seit 1722 gibt der Verlag Gräfe und Unzer Ratgeberliteratur heraus, wie im Impressum zu lesen ist. Das schon im Altgermanischen nachgewiesene Wort ‚Rat‘ – „Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind“ hat mit ‚Rede‘ zu tun, mit „Rechenschaft ablegen“. Und gerade diese beiden Dinge sind es, aus denen sich ein Lebenslauf speist. Der Lebensunterhalt eines Lebenslaufes rekurriert sich aus Wünschen, Vorsätzen und Entschlüssen, mit denen ein Individuum innerhalb seiner Biographie jongliert und worüber es einst Rechenschaft abzulegen hat.

Das Menü, die 'Mittel' des Lebens bestehen aus Ereignissen: aus Begegnungen mit Menschen und daraus resultierenden Konsequenzen; aus Entscheidungen: ich lebe in dieser oder jener Stadt, mache diese oder jene Bildungs- und damit Karrierereise; und aus Gegebenheiten: zum Beispiel politischen und gesellschaftlichen Strukturen, in die ich mich qua Geburt hineinbegebe und für die ich als erwachsener Mensch Verantwortung übernehme.

Jeder Mensch hat einen Lebenslauf, ausnahmslos, Tag für Tag schreibt er sich weiter. Der Rote Faden liegt hinter und vor uns. Wie sich aber das Innere eines Individuums zum Äußeren der Welt verhält, ist höchst individuell und manchmal auch rätselhaft (auch das Wort ‚raten‘ steckt im ‚Rat‘).

Susanne Hofmeister stellt in ihrem Biographie-Ratgeber, das als Arbeitsbuch genutzt werden kann, allgemeingültige Entwicklungsschritte dar, die sie durch konkrete Fragen an den eigenen Lebenslauf kontrastiert. Gehen, sprechen und denken erlernt jeder Mensch zu Beginn seines Lebens. Ob aber eine Familiengründung im 4., 5. oder 6. Jahrsiebt – oder eben gar nicht – stattfindet, ist dem individuellen Verlauf geschuldet. Entwicklungsgesetzmäßigkeiten und -freiheiten – die individuelle Gestaltung – stehen sich gegenüber und beäugen sich, mal kritisch, mal liebevoll. Im Wechselspiel zwischen Lektüre und eigenem Werdegang bleibt es nicht aus, dass sich der Leser nicht immer im Text wiederfindet – wohl aber Anknüpfungspunkte sieht.

Die Autorin, sie ist Ärztin und Biographieberaterin, bringt sich selbst in die Fragestellung des Buches ein, indem sie Momente aus ihrem eigenen Leben sichtbar macht. Beispielhaft werden auch Erzählungen ihrer Klienten dargestellt – sie bilden den Schnittpunkt zwischen Theorie und Praxis. Ein konkreter Fragebogen sowie Malaufgaben zu jedem Jahrsiebt brechen die Thematik auf die gelebte und zu lebende Biographie herunter.

Das lebenslange Pingpongspiel sich vom eigenen Leben beraten zu lassen oder das Leben zu beraten wird bleiben. Denjenigen, die Fragen an die Spur ihres Lebens haben sei das Buch warm empfohlen. Es lädt dazu ein die eigenen Schritte nachzuzeichnen und den verborgenen Sinn (den rätselhaften Schatz!) zu heben und zu entschlüsseln. Geht es letztendlich doch darum, dass jeder SEIN Leben führt und sich damit identifiziert. Es ist nie zu früh sich mittels einer 'Rede' vor sich selbst 'Rechenschaft abzulegen' – aber auch nie zu spät.

Susanne Hofmeister
Wo stehe ich und wo geht’s jetzt hin?
Wie sie den Roten Faden im Leben finden
Gräfe und Unzer Verlag, 2014

Montag, 13. Oktober 2014

Berühren und berührt werden. Zu Hartmut Rosa: "Zwischen Resonanz und Entfremdung. Was kann heute Heimat sein?"


Zwischen erwartungsvoller Stille und angeregten Unterhaltungen füllt sich der Saal im Bonndorfer Schloss. Als nahezu alle Plätze belegt sind schließt sich die Tür. Die beiden Herren, die das Gespräch auf der Bühne führen werden, gehen nach vorne - einer auf der linken Seite und einer auf der rechten Seite. Kulturreferent Jürgen Glocker stellt den Gast vor: Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena und in unmittelbarer Nachbarschaft in Grafenhausen lebend, wird seine Resonanzthese zur Frage nach Heimat präsentieren.

Es ist still im Saal. Das Publikum richtet seine Aufmerksamkeit nach vorne. Und plötzlich beginnt Hartmut Rosa zu sprechen. Er antwortet auf die Fragen, die ihm gestellt werden. In einer ungeheuren Schnelligkeit und Wendigkeit ist er der deutschen Sprache mächtig. Seine Worte sprudeln wie ein Wasserfall - klar und deutlich, prägnant gewählt und messerscharf formuliert. Hier weiß jemand, wie virtuos Sprache sein kann. Die Atmosphäre im Saal ist gleichsam still und erregt, schnell und gemessen und vor allem von einer ungeheuren Intensität erfüllt - sie resoniert.

Was kann uns heute Heimat sein? Wie wollen wir leben? Hartmut Rosa eröffnet seine These mit einem interessanten Gedanken, er fragt, ob wir mit der Dingwelt um uns herum verbunden sind, ob die Dinge zu uns sprechen. Gibt es eine erlebbare Verbindung zwischen mir und den mich umgebenden Dingen? Nehme ich wahr, was um mich herum steht, liegt, sich bewegt? Natur, Kultur, Technik und Wirtschaft - alles ruft nach Beziehung. Die menschliche Aufmerksamkeit als Achse zwischen Welt und Individuum. Heimat entsteht dort, wo Beziehung gelebt wird.

So definiert Rosa seinen Heimatbegriff als ein Prozessgeschehen zwischen Individuum und Welt. Heimat ist der Weltausschnitt, zu dem wir eine Beziehung haben, mit dem wir uns in einem gemeinsamen Kontext befinden, wo die Dinge mir etwas sagen, wo Gegenstände zu mir sprechen, wo sich Bedeutung konstituiert. Die Sehnsucht nach Heimat ist das Bedürfnis nach Antwort, nach einem Ort oder Platz in der Welt, der mit mir spricht, der mir antwortet.

Hartmut Rosa weist auf eine doppelseitige Berührung hin, eine lebendige Verbindung zwischen Subjekt und Objekt. Er lädt dazu ein die Welt hervorzubringen und den Weltausschnitt zu einem heimatlichen avancieren zu lassen, der zu mir passt, der in mir resoniert. Es geht ihm um eine Resonanzbeziehung, um Anverwandlungsprozesse und die Frage, ob ich die (stummen) Dinge (wieder) zum Sprechen bringen kann (wie die Kinder).

Im Zeitalter der digitalen Welt-Verfügbarkeit (einer Kultur des gesenkten Blicks) geht es ihm darum, die Welt in Reichweite zu halten oder zu bringen, sich innerhalb einer Steigerungsgesellschaft einen Weltausschnitt anzueignen - Orte zu reklamieren, deren Sprache ich verstehe. Rosa geht es um eine resonante Weltbeziehung des Menschen im 21. Jahrhundert, der durch ein postmodernes Nomadentum und ständige Erreichbarkeit geprägt ist.

Wenn die digitale Ortlosigkeit die Verfügbarkeit der Welt schweigen und erstarren lässt, wird der Mensch heimatlos und leer. Der moderne Zeitgenosse, so Rosa, ist getrieben vom Verlangen nach Resonanz. Wenn der Mensch eine Beziehung nicht nur zu Menschen sondern auch zu Dingen aufbaut, entsteht "Augenkontakt", der die Interaktion zwischen Individuum und Welt lebendig werden lässt. Von Nöten ist die körperliche Anwesenheit, damit das Resonanzgeschehen (berühren und berührt werden) zur leiblichen Erfahrung wird.

Fast zwei Stunden reden die beiden Herren miteinander, den Schlussakkord bereichern Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum - ein intensiver Abend mit kristallklaren Gedanken und warmen erkenntniserweiternden Blickwinkeln geht zu Ende. Die Veranstaltung in Bonndorf hat etwas in meine Reichweite gebracht, das mich auf das aufmerksam macht, was zu mir spricht. Heimat als interaktives und sich wandelndes Resonanzgeschehen, ein neuer Blick, der in die Zukunft reicht.

Sonntag, 5. Oktober 2014

Gedanken aus der Stille. Zum Verhältnis von Schreibenden und Lesenden


Der Morgen ist mit sanfter Stille überzogen, wie ein Geburtstagskuchen mit Schokolade und Marzipanrosetten. Draußen liegt klammer Nebel auf Blättern und Wegen. Leuchtende Tautropfen überall. Selbst das Spinnennetz ist von schwerer Feuchtigkeit durchdrungen und funkelt damit in die Welt. Das Licht verbreitet sich nur schüchtern und zaghaft. Die Welt ist in nasse Watte gehüllt, damit die roten Hagebutten gesehen werden.

Drinnen brennt im Ofen das erste Feuer, Wärme durchzieht die Räume und lädt dazu ein sich der Stille zu ergeben. Wenn alles äußere in den vier Wänden schweigt, CD-Player, Küchengeräte, Menschen und Telefone, dann können die stilleren, stummen Dinge anfangen zu erzählen. Auch in ihnen wohnen Geschichten, Wünsche und Hoffnungen die ihre Daseinsberechtigung haben.

Die Rose, ein prächtiges und doch zierliches Exemplar bringt Grüße aus der anderen Welt. Sie steht im irdischen Garten eines Verstorbenen, der von Lebenden weiter gepflegt wird. Sie hat mein Herz erreicht. Dort zeigt sie einmal mehr, mit ihrem angenehmen Duft, den zarten Blättern und der deutlichen Farbe, was es heißt wortlos zu kommunizieren. Sie spendet Trost und sagt: Es gibt das Wahre, das Schöne und das Gute.

Der Laptop stellt sich geduldig zu Verfügung, auch er ein ruhiger Geselle - aber ganz anders geartet: tot. Bei der richtigen Tastenkombination ist er bereit alles für mich zu tun, ein Befehlsempfänger ohne Widerrede. Jede Order nimmt er auf, er urteilt nicht. Nein, kalt und gefühllos macht er alles, was ich von ihm fordere. Eine Errungenschaft Ahrimans, der geknechtet wird und knechtet. Seine Geschichte bleibt fahl und dennoch ermöglicht er alles.

Das Internet hat sich zwischen die Menschen geschoben. Warme Worte erscheinen auf kalten Flächen. Die Wege zwischen Herz und Herz können mit der Straßenbahn, zu Fuß oder über das Internet beschritten werden. Das Gefühl der Nähe nur virtuell? Fluch und Segen - und immer die Frage nach Sein oder Schein. Obwohl hinter jedem Wort im Internet ein Mensch steht, ist es gerade das, was nicht erlebbar ist.

Die Stille an diesem Morgen gebiert Worte die einen Landeplatz suchen, die ankommen wollen. Vom Schreiben über das Lesen in ein Gespräch. Wo sind die Leser, die in einen Diskurs mit dem Text treten? Die sich anerkennend oder ablehnend zeigen, die in einen Dialog treten und damit den Monolog aus seiner Isolation befreien. Mitschwingen: geben und nehmen, sprechen und schweigen und vor allem: miteinander tanzen.

Das innere Feuer verglüht (Rosen verwelken sinnlos und Laptops stehen unbenutzt da), wenn Schreibende nicht wissen, wo und vor allem wie ihre Texte landen, ankommen, vorbeifliegen, anecken oder ins Abseits geraten. Jedes geschriebene Wort, das nicht gelesen wird, ist ein verlorenes Wort und verdammt ist es dann, wenn nichts damit passiert (die Welt nicht einen neuen Anlauf nimmt). Denn, Schreibende brauchen die Resonanz von Lesern. Brauchen die Leser auch Schreibende?

Ich suche Anknüpfungspunkte für ein Gespräch, um neue Wege und Formen als Schreibende zu finden.