Freitag, 25. Juli 2014

Innere Freiräume. Lücken in der Zeit


Wenn ich von A nach B fahre, zum Beispiel mit dem Zug, dann geht es darum, meinen Körper zu transportieren. Meine eigene Tätigkeit besteht in diesem Fall darin, mich physisch auf die Beförderung einzulassen. Wenn ich die Strecke mit dem Auto zurücklege und selbst am Steuer sitze, habe ich weniger innere und äußere Freiheiten dabei, als wenn ich in der 2. Klasse der Deutschen Bahn sitze und einen Platz im ICE ergattert habe.

Äußerlich kann ich durch die Waggons schlendern, wenn die Gänge nicht überfüllt sind, mich ins Bordbistro begeben oder aufs Klo gehen. Innerlich habe ich aber noch mehr Freiheiten: Ich kann denken, lesen, träumen, schlafen, mich unterhalten, aus dem Fenster schauen, und, und, und.

Im Gegensatz zu meinen Körper, ist mein Geist immer frei und kann sich unbeschränkt in Raum und Zeit bewegen und diesen oder jenen inneren gedanklichen Ort oder Zusammenhang aufsuchen. Zuträglich oder abträglich für meine gedanklichen oder emotionalen Ausflüge ist selbstredend das Umfeld. In einem Fußballstadion lässt es sich weniger konzentriert denken oder frei träumen als in einer Bibliothek oder in einem Bett. Wenn ich mich von A nach B mit dem Zug fahren lasse, können Körper und Geist beieinander bleiben oder eben auseinanderfallen sowie bewusst auseinandertreten.

Bei jeder Tätigkeit, die uns die Möglichkeit gibt, Körper, Seele und Geist nicht an einem Ort, bei einer Sache beieinander zu halten, können wir interessante Erfahrungen machen. Wenn ich an der Straßenbahnhaltestelle stehe und auf die Bahn warte kann ich mich ärgern, dass sie immer noch nicht da ist, kann die herumstehenden Menschen betrachten und mir vorstellen, was sie wohl vorhaben, stumpf vor mich hin starren, mich Erinnerungen oder Phantasien hingeben oder mein Buch zur Hand nehmen. Äußerlich gebietet mir mein Wunsch mit der Bahn zu fahren einfach zu warten und innerlich kann ich mich frei entscheiden, wohin ich mich wende.

Nicht immer gelingt es mir, mein Innenleben frei zu gestalten. Manchmal geht alles wie von selbst, ich erinnere mich an den stressigen Vorgang bei der Arbeit, argumentiere innerlich aufgebracht gegen die Vorwürfe, die erhoben wurden, meine Gedanken springen hierhin und dorthin. Dadurch, dass ich äußerlich zur Ruhe komme - ich warte immer noch auf die Bahn - beginnt mein Innenleben die Regie zu übernehmen und zeigt mir die Schauplätze, die noch brach liegen und auf Verarbeitung warten.

Anders ist es, wenn ich in einem Seelenzustand bin, in dem ich mich frei in meinen Vorstellungen, Wünschen und Phantasien bewegen kann. Dann fällt mir etwas Neues oder fast Vergessenes ein (etwas "fällt" in mich ein), dann spinne ich den verloren geglaubten Gedanken weiter, lasse meine Gedanken zu einem Palast werden und richte ihn ein - Gold überwiegt dann darin und wundersame Worte, die in die Tiefen und Höhen der menschlichen Seele reichen und einen sanften Duft der Hinwendung verströmen. Mein inneres Lächeln kann Menschen, Ereignisse und Vorfreuden umschlingen.

Aber es ist auch möglich, den inneren Zug des Vergessens ohne Halt durch den nächsten Bahnhof fahren zu lassen, um nicht am Fundament zu rütteln sondern der sommerlichen Wärme eine Chance zu geben, Einlass in die menschliche Seele zu erhalten und angenehme Düfte wie auf einem Gewürzbasar wahrnehmbar zu machen. Ich bin frei mein Gedankenleben zu gestalten. Ganz anders verhält es sich in dieser Hinsicht mit meinen Gefühlen. Gefühle sind Gefühle sind Gefühle. Einfluss habe ich aber auf die Bedeutung, die ich ihnen zumesse, ich kann sie groß oder klein machen, ihnen eine Zukunft in mir eröffnen oder ihnen klar und unmissverständlich zu verstehen geben, dass sie nicht willkommen sind.

Lücken in der Zeit eröffnen gestaltbare Innenräume, die sie gerade im Außenraum nicht sind. Jeder Außenraum jedoch wird in letzter Konsequenz von einem menschlichen Innenraum erschaffen. Der Schnittpunkt zwischen Außen und Innen ist mal wieder das menschliche Herz, der Raum für Gefühle, von denen letztlich alles abhängt, was innen und außen passiert.

Montag, 14. Juli 2014

Motive. Mut für den nächsten Schritt


Du fragst nach dem nächsten Schritt. Du zögerst, weißt nicht so gut, wohin du deine Füße als nächstes setzen willst, wirst, musst. Dir ist bang vor dem Moment, an dem du an das Ende der Straße kommst, auf der du seit ein paar Jahren gehst. Diese Straße hat dich gehalten, sie hat dir die Richtung gewiesen, dir Halt geboten. Damals hast du die Abzweigung freudig genommen, jetzt stehst du am Ende der Straße. Vor dir liegt ein bunter Strauß von neuen Straßen, Wegen, Pfaden in die du einbiegen kannst - sie bieten sich alle an - allerdings fordern sie, dass du dich für sie entscheidest.

Sie fordern Bewusstsein, ein Ziel, sie wollen Gründe dafür, dass du sie nutzt, dass du auf ihnen gehen willst. Ob sie steinig sein werden, holprig oder gerade, eben und bequem lässt sich im Voraus nicht sagen. An einigen von ihnen werden Blumen, Büsche und Sträucher wachsen, da wird es etwas geben, was Schatten spendet, wenn die Sonne zu heiß brennt oder was den Regen abhält, wenn der Himmel sich ergießt. An manche grenzen weite Ebenen an, staubig und trocken, sie ermöglichen die Aussicht auf einen weiten Horizont. Andere führen durch einen Dschungel von Bäumen oder Häusern oder Fabriken oder Ruinen...

Die Frage ist nicht die nach dem Weg, nach der Beschaffenheit der Straße. Nein, die Frage muss an anderer Stelle beantwortet werden. Wesentliches kann von Unwesentlichem unterschieden werden. Die Frage des nächsten Schrittes hängt von den Motiven des jeweiligen Lebens ab.

Menschsein heißt, an Raum und Zeit gebunden zu sein. Geburtsdatum und -ort sind bekannt, Sterbedatum und -ort noch nicht. Dazwischen liegen Zeit und Raum, die sich gestalten lassen. Auf der Zeitachse vergehen Stunden um Stunden, Tage um Tage, Jahre um Jahre - unermüdlich. Je länger wir leben, umso weiter können wir zurück schauen: Gestern, vorgestern, letztes Jahr, vor zehn Jahren, in meiner Jugend und Kindheit... Erinnerungen machen unsere kleine, innere Welt zu dem Raum, in dem wir zu Hause sind, in dem wir Identität erleben.

Aber wir werden nicht nur von einem Blick in die Vergangenheit getragen, mit all den Begegnungen und Erlebnissen, die unser Bewusstsein erhalten kann, sondern auch von den vergessenen, untergetauchten, scheinbar verlorenen. Der Schatz des Erlebten ist geheimnisvoll und unergründlich. Und so ist es auch mit der Zukunft, mit dem, was aus der Zukunft auf uns zu kommt. In dieser Blickrichtung können es keine Erinnerungen sein, sondern es ist das Gewissen, das in uns spricht - mitunter mit Signalen, Zeichen oder Hinweisen, deren Bedeutung nicht sofort auf dem Tisch liegt.

Das Gewissen kommt aus der Zukunft, von der wir nicht wissen, wie groß, breit oder lang sie ist, auf uns zu. Es spricht leise zu uns, manchmal raunt es auch nur unbekannte Worte. In letzter Instanz ist es immer klar und eindeutig. Es kann scharf wie ein Messer sein und sanft wie eine Sahnetorte. Das Gewissen zeigt sich zwar mitunter kleinlich und millimetergenau, sein Wesen aber ist groß und weit und des Verzeihens fähig. Es schaut nicht auf Momente, sondern auf Konsequenzen und Folgen - es sieht die Dinge groß. Es umfasst Raum und Zeit und führt uns ohne Pardon in das, was vor uns liegt.

Ablenken lassen wir uns von unserer Bequemlichkeit, den Alltagsnöten und dem praktischen Leben. Das Alltagsleben fordert den peniblen Blick auf links und rechts, oben und unten im Netz der Gesellschaft, in den Kokon der eigenen Behaglichkeit. Steine im Weg, verschlossene Türen, offene Abgründe, Abstürze ohne Sicherungsseil... Das Alltagsleben steht vor der Tür, wenn wir fliehen wollen, kniet an unserem Bett, wenn wir schlafen wollen und hält sich auch vor großen Dichtern und Denkern nicht zurück.

Einzig die Motive eines Menschen, die Willensintentionen sich in dieses (und kein anderes!) Leben zu begeben, überdauern Raum, Zeit und Alltagsnöte. Gerade jetzt, gerade hier, mit diesen Menschen und jenen Umständen. Motive überdauern, auch wenn sie verdeckt werden. Das Movens führt und leitet und gibt dem Regisseur unseres Lebens hin und wieder Tipps und Hinweise - in seiner Sprache, von der wir nicht immer sagen können, dass wir sie nicht verstehen...

Wir haben die Chance zu lernen - und was gibt es mehr? - Spuren zu folgen, Erfahrungen zu machen, uns an Kreuzungen zu entscheiden. Wenn die Abdrücke im Schnee verschmelzen, dann sind die eigenen Schritte gefragt - denen vielleicht einmal jemand anderes folgen wird. So ist das Leben, wir sind nicht allein.

Der Weg entsteht unter unseren Füßen, wenn wir ihn gehen. Sei schlau, hab keine Angst. Entwirf dir ein Leben und handle danach. Finanzielle Fragen sind dabei nicht unerheblich, denn sie eröffnen oder verschließen Möglichkeiten. Hab Vertrauen und gehe mutig weiter. Wenn es die "falsche" Straße sein sollte, in die du einbiegst, wird dir dein Leben eine Rückmeldung geben. Dein Gewissen wird raunen, der Alltag wird sich in dieser oder jener Weise präsentieren, aber die Motive werden bleiben und ihren Tribut unerbittlich fordern.

Du bist Herr in deinem Haus und der "Bestimmer", wie es in Kindertagen hieß. Das Leben ist gnädig und bietet sich an - du wirst das Richtige tun, der nächste Schritt ist schon da, öffne die Augen und gehe mutig weiter.