Sonntag, 29. Juni 2014

Transgenerationale Weitergabe: Drei geschwächte Generationen


Zu Überlebensstrategien von Kriegskindern, -enkeln und -urenkeln
  • Kriegskinder (geboren zwischen 1935-45) - gefangen im Denken
Kriegskinder waren im Zweiten Weltkrieg Kinder. Sie waren klein oder wurden in den Krieg hineingeboren. Gesellschaftliche Strukturen und Mitmenschen, also das gesamte Umfeld, waren vom Krieg und seinen unmittelbaren Folgen bestimmt. Jede Familie war davon betroffen. Väter, Onkel, Großväter, manchmal auch Brüder, waren an der Front, mussten Kriegsdienst leisten oder lebten in der Angst eingezogen zu werden - ganz abgesehen von denen, die sich verstecken oder fliehen mussten. Bombenangriffe, Flüchtlingsströme, Angst und Schrecken regierte das Alltagsleben - "Normalität" gab es nicht, viele mussten ihre Heimat verlassen.

Die Kinder, die genug Kraft und "Glück" hatten, haben das Leben damals genommen wie es war, als Abenteuer. Die Vergangenheit wurde zu einer verblühenden Erzählung, die Zukunft blieb vage aber erhofft und die Gegenwart wurde groß und dick wie eine Seifenblase - manchmal ist sie geplatzt. In den Kriegsjahren bestand die Existenz aus einer Überlebenskunst - jeden Tag aufs Neue.

Daraus abzuleiten ist, dass Kriegskinder ihren Gefühlshaushalt auf Sparflamme gehalten haben. Rationale Entscheidungen (der Elterngeneration) hatten Vorrang. Kriegskinder wurden zwangsläufig darin geschult, ihrem Denken einen größeren Wert beizumessen als ihren Gefühlen (um von ihrem eigenen Willen gar nicht zu sprechen). Das große Wunschkonzert bezog sich auf eine Zukunft, in der Sicherheit und Stabilität Vorrang haben. Die Stärke des Durchhaltens steht der Schwäche Gefühle klein zu halten gegenüber.
  • Kriegsenkel (geboren zwischen 1960-70) - gefangen im Gefühl
Die Kriegsenkelgeneration ist diejenige, deren Eltern Kriegskinder sind. Kriegsenkel wurden in Friedenszeiten geboren und kennen eine kriegerische Welt nur aus Erzählungen. Wirtschaftliches Wachstum und eine Neuausrichtung von gesellschaftlichen Strukturen hat ihre Kindheit bestimmt. Nicht wenige von ihnen sind in Neubausiedlungen aufgewachsen, haben ihre ersten jugendlichen Ausflüge in betonierte Innenstädte gemacht - entfernt von der Natur und traditionellen, kulturellen Werten.

Kriegsenkel wissen alles und es geht ihnen gut. Sie haben Zugang zu höherer Bildung und die Aussicht auf eine glänzende berufliche Zukunft. Der äußeren Sicherheit steht aber eine innere Unsicherheit gegenüber. Ihre Gefühlswelt ist reich und nicht unbedingt beschreibbar, sie steht auf tönernen Füssen. Da gibt es Ängste und Sorgen, das Gefühl nicht anerkannt zu werden und bohrende Fragen. Weder ist ein Grundvertrauen noch ein Heimatgefühl vorhanden, zwischenmenschlich sind sie auf ständige Vergewisserung angewiesen.

Kriegsenkel leben in ihren Gefühlen und wissen nicht, worauf sie sich gründen können, wo sie zu Hause sind. Die Sorgen ihrer Eltern um eine Rentenversicherung erreichen sie nur marginal, denn auch sie sind mit ihrem (emotionalen) Alltag so beschäftigt, dass kaum Platz für etwas anderes bleibt. Sie kämpfen um ihr seelisches Überleben und wissen nicht, wo sie hingehören - ihrer blendenden Karriere in Friedenszeiten stehen unsichtbare Schranken im Weg.
  • Kriegsurenkel (geboren zwischen 1985-95) - gefangen im Willen
Die heutige junge Generation zwischen zwanzig und dreißig sind die Kinder der Kriegsenkel. Sie haben es nicht mehr mit physischen oder seelischen Verwirrungen und Fragen sondern mit geistigen zu tun. Das Leben ist in seinen Zusammenhängen und Abhängigkeiten undurchschaubar geworden. Ethische und religiöse Fragen lenken das Weltgeschehen, obgleich der aufgeklärte Materialismus (Wissenschaftlichkeit) und demokratische Strukturen ihre Vormacht für besiegelt halten.

Kriegsurenkel haben es mit der Frage zu tun, was sie wollen. Sie können denken und sie können fühlen, aber sie können das nicht zusammen bringen. Emotionale Dramen gehören genauso zu ihrem Alltag wie die Veröffentlichung von privaten Erlebnissen auf Facebook - was für Kriegskinder und -enkel unvorstellbar ist. Sie tragen die Reste des großen (physischen und emotionalen) Scheiterns, das Erbe der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata mit sich herum und wehren sich vehement dagegen.

Sie wollen alles: freies Denken, offene Gefühle und mutige Willensintentionen - wobei ihnen die eigenen Schritte schwer fallen. Sie stehen auf der Bremse und geben gleichzeitig Gas. Jeder hat das Abitur, jeder kann studieren - aber die Werte und Vorstellungen der Eltern- und Großelterngeneration tragen nicht. Sie wollen nicht in alte Fallen stürzen sondern neue Formen und Wege aufbauen. Sie schauen nicht in die Vergangenheit, die verlorene Heimat oder in die Gegenwart, die gesellschaftlichen Möglichkeiten, sondern in die Zukunft, sie gehen einen Weg, der unter ihren Füssen entsteht - ohne dass sie wissen, wohin der Weg sie führt.
  •  Und was sie vereint
Alle drei Generationen haben Stärken und Schwächen, Freiheiten und Gefangenschaften. Die, die denken können brauchen ein Haus. Die, die fühlen können brauchen Freunde und die, die wollen können, brauchen Ideale. Zur Überwindung der spezifischen Einseitigkeiten gehört es, neben einem offenen Geschichtsbewusstsein, sich selbst erst zu nehmen, sich im Laufe des Lebens gut kennen zu lernen und den Mut zu haben "bekanntes" Terrain zu verlassen.

Die urteilsfreie Selbstwahrnehmung und eine frei gewählte Schulung können dazu führen, die inneren Ketten zu sprengen und das Kaleidoskop der physischen, seelischen und geistigen Möglichkeiten zu erweitern. Ein respektvoller Dialog zwischen den Generationen (was in dieser Hinsicht eine echte Herausforderung ist) kann zur Heilung beitragen.

Erst die nächste Generation wird von den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts so weit befreit sein, dass sich ihr Denken, Fühlen und Wollen nicht mehr aus den Albträumen der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Zerstörung rekrutiert, sondern dass sie frei und weit und offen entscheiden kann, was sie denkt, fühlt und will. Zukunft hat Herkunft. Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts braucht (mindestens) drei Generationen, um nachhaltig verarbeitet und transformiert zu werden.

Samstag, 28. Juni 2014

Totengedenken: Coenraad van Houten


* 14.02.1922 in Weesp, Holland
† 28.03.2013 in Überlingen, Deutschland

Noch zehn Tage vor seinem Tod steht Coenraad van Houten vor mir, sein Blick gleitet an mir vorbei aus dem Fenster, in die Weite. Seine Hände zittern ein wenig, er deutet in die Ferne und sagt: „Das Neue kommt, es bricht durch, wir brauchen Menschen, die das wahrnehmen, das Neue will geboren werden.“ Und dann setzen wir uns und er bittet mich zu erzählen, was in meiner Welt passiert. Er hält den Blick nicht mehr durchgängig, zwischendurch gleitet er ab, fängt sich am Horizont und Coen macht Bemerkungen, die aus einer übergeordneten Perspektive stammen.

Wir sprechen Deutsch miteinander, aber nach Momenten der inneren Einkehr kommt es immer wieder vor, dass er Niederländisch oder Englisch spricht und dann plötzlich fragend inne hält, um sich zu vergewissern, woher ich komme und in welcher Sprache wir miteinander sprechen – obwohl wir uns schon so lange kennen. Seine alten Hände, die seine Mitteilungen mit Gesten begleiten, wissen manchmal besser, was gesagt werden will und wofür er Worte sucht. Coen tastet sich mit seinen Fingerspitzen durch die Sprache, in der er sich ausdrücken will.

Seine letzten Jahre hat der vielgereiste Weltbürger in Deutschland am Bodensee verbracht. Langsam senkte sich eine äußere Ruhe und innere Großzügigkeit über ihn, die lange auf sich hat warten lassen. Bis zum Schluss, als seine starken Ätherkräfte ihn nach einundneunzig Jahren verließen, hat er daran gearbeitet Wege zu bereiten, auf dem das Individuum einen unverstellten Blick auf die eigenen Beschränkungen und Potentiale zu werfen lernt, er hat untersucht, wie das persönliche Karma im Alltag wirkt und welche Lern- und Gestaltungsmöglichkeiten sich daraus ergeben.

Diese Leistungen, die weit über ihn hinausgehen werden, hat er in den letzten einundzwanzig Jahren entwickelt. Seine Leitfrage war: Wenn in den ersten drei Jahrsiebten, nach der physischen Geburt, der Geburt des Äther- und Astralleibes sowie des Ich, der Mensch ganz geboren ist, was geschieht dann mit den Kräften die frei werden? Kann der erwachsene Mensch sie zum bewussten Lernen verwenden? Die sieben Lebensprozesse begleiten uns unser ganzes Leben, sie haben sich mit etwa einundzwanzig Jahren so eingespielt, dass sie transformiert für bewusste Lernprozesse zur Verfügung stehen können. So seine These, die sich schnell bewahrheitete.

Coenraad van Houten hat die sieben Lernprozesse aus den sieben Lebensprozessen abgeleitet und damit die Erwachsenenbildung aus anthroposophischer Perspektive ergriffen und erweitert. Aber dabei ist es nicht geblieben, neben den Lernprozessen, die mittlerweile überall in der Erwachsenenbildung Eingang gefunden haben, ist Coen mit seinem Team einen Schritt tiefer gegangen. Fähigkeiten, die wir uns bewusst aneignen wollen, sind mithilfe der Lernprozesse handhabbar, Potenziale und Hindernisse aber, die verborgen in uns liegen, brauchen andere Werkzeuge, um ans Licht zu kommen, damit sie eingesetzt bzw. überwunden werden können.

Wenn die sieben Lernprozesse in einem weiteren Schritt auf Schicksalsereignisse im eigenen Leben übertragen werden, treten sieben Schicksalslernprozesse zu Tage. Der Blick in die Vergangenheit der eigenen Biographie vertieft sich dabei so, dass durch den Kreuzungspunkt hindurch Kräfte für die Handhabung der Zukunft frei werden. Ist es denn nicht unser Alltag, in dem sich Probleme, Konflikte, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zeigen? Warum passiert mir eigentlich dieses und jenes immer wieder? Das soziale Netz als Ort der persönlichen Schulung hat Coen mit der Entwicklung der sieben Schicksalslernprozesse besonders hervorgehoben.

Und er ging noch einen Schritt weiter, denn auch für die Geistige Forschung stehen die sieben Lebensprozesse Pate. Diesen Weg konnte er am Ende seines Lebens noch in einem letzten Buch beschreiben, die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsformen müssen aber nun Mitarbeiter und Hinterbliebene übernehmen. Hier steht noch Arbeit an.

Coenraad van Houten war ein lebenslustiger fröhlicher Holländer, der sich trotz seiner Leibesfülle tanzend bewegen konnte. Die Dinge neu, groß und anders sehen, sich nicht in gewohnten Bahnen bewegen, sondern unerprobte Wege wagen, sich selber ernst nehmen und gleichzeitig mutig mit dem eigenen Doppelgänger jonglieren – das war Coen. Er wollte nicht vor der Wand stehen bleiben, sondern hat stets unkonventionelle und unerwartete Wendungen gesucht. Er hat die künstlerische Arbeit in die Schulungskurse integriert, selbstlose Wahrnehmung und selbstständige Urteilsbildung als tägliche Übungen eingeführt und ließ nicht locker, am Morgen einen sogenannten ‚Nachtfang‘ zu etablieren, um das Tag- mit dem Nachtlernen zu verbinden.

Mit unendlich vielen Menschen hat er auf der ganzen Welt gearbeitet, immer ging es darum, der Freiheit zu ihrem Recht zu verhelfen und in einen Einklang mit den Impulsen aus der geistigen Welt zu kommen. In diesen Prozessen blieb es nicht aus, dass er sich selber im Weg stehen konnte. Kein Licht ohne Schatten. Auch Coen hat mit seinem karmischen Doppelgänger gerungen, manche Begegnungen im Zwischenmenschlichen wurden davon kräftig überschattet. Aber er konnte auch über sich selber lachen und seine Schwächen humoristisch nehmen. So hat er sich selbst, als ich ihn in einer Vorstellungsrunde in einem Seminar kennenlernte, als „zahnloser Tiger“ präsentiert.

In den einundzwanzig Jahren, die er in England das Centre for Social Development mit Kollegen aufgebaut und geleitet hat, fanden unzählige Schulungskurse in Anthroposophie statt. Damals kam durch einen Impuls von Bernard Lievegoed die Biographiearbeit auf, mit der Coen begann, die Individualität des Einzelnen in eine Beziehung zur jeweiligen Schicksalssituation zu stellen. Er bildete Gudrun Burkhard aus, die im Verlauf die weitere Entwicklung der Biographiearbeit übernahm, während er sich, wie bereits geschildert, der Karmaarbeit zuwendete.

In diesen Jahren trat die Kanadierin Shirley Routledge in England in sein Leben, die, nach dem Tod von Coens Ehefrau Djobs (Johanna Engel), mit der er seit 1948 verheiratet war und drei Söhne hat, an seiner Seite blieb, seine treueste Mitarbeiterin und später seine zweite Frau wurde. Coen war in den Jahren in England innerlich mit einem erneuerten Selbstverständnis als Lehrer beschäftigt. Was ist zeitgemäß, in welcher Form begegnen sich Lernende und Lehrende, wie wird Wissen weitergereicht? Welche innere Haltung braucht ein Erwachsenenbildner, wenn die Lernenden ihren Lernprozess eigenverantwortlich übernehmen?

Schon früh war Coen klar, dass es für ihn darum ging ein Lehrer zu sein, ohne ein Lehrer zu sein - dass er für die Zukunft arbeitet, die weit über seine eigene Lebensdauer hinausgehen würde, dass er Anregungen gab. Es galt Techniken, Methoden und Wege zu entwickeln, die den Willen des Einzelnen erwecken, die Zugang zum jeweiligen Kreativitätspotential eröffnen. Sein Leitmotiv war dabei stets, den ganzen Menschen zu erreichen, der seine Wurzeln in der materiellen Erde und seinem Alltagsleben hat und dessen Flügel bis in den Himmel der geistigen Motive und in eine Spiritualität reichen, die Anthroposophie genannt wird.

Die genannten Lernimpulse, die er in seiner zweiten Lebenshälfte gestalten und weiterführen konnte, hat er vor seiner Lebensmitte entdeckt und vorbereitet, um sie dann vornehmlich in England und Deutschland mit vielen Kollegen zu bearbeiten (zum Beispiel mit dem Netzwerk NALM – New Adult Learning Movement). Das Werk Rudolf Steiners hat ihn zeitlebens begleitet. Vor dem berufsbiographischen Wendepunkt hat er sowohl die Geschäftswelt kennengelernt, seine Familie gegründet als auch die Anthroposophie gründlich studiert. In seinen privaten Studien hat er sich fortwährend besonders mit dem Grundsteinspruch beschäftigt und verbunden.

Seine eigenen großen Lehrer waren neben Rudolf Steiner Bernard Lievegoed im NPI in Zeist und Willen Zeylmanns van Emmichhoven in der Anthroposophischen Gesellschaft, ebenfalls in Holland. Doch schon in seiner Kindheit wurden Zeichen gesetzt: Coen war Schüler an der Waldorfschule in Den Haag. Auf die Schulzeit folgte ein kurzes Chemiestudium. Dann meldete er sich im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger in die Holländische Armee. Als er nach Indonesien kam, erlebte er menschliche Wunder und Tragödien, die ihn tief prägten. Nach Kriegsende war er in Hongkong im Schiffsbau tätig, reiste durch die ganze Welt und kehrte mit einunddreißig Jahren in die Niederlande zurück wo er erst in der heimischen Van-Houten-Kakao-Produktion tätig war, ein Studium in Sozialpädagogik absolvierte und dann ins NPI wechselte.

Noch als alter Mann hat er aber immer wieder, mit seinen leuchtenden kleinen Augen, von seiner Begegnung mit Ita Wegmann erzählt. Er muss noch ein Vorschuljunge gewesen sein, und er erinnert sich an eine große in Schwarz gehaltene Dame, die in seinem Elternhaus zu Besuch war und der er als kleiner Junge die Hand gegeben hat. Sie war es auch, die ihm in späteren Jahren einmal erschien und ihm wie zuzuraunen schien: 'Führe nicht mehr, ermögliche… Auch wenn sich Gut und Böse nicht mehr eindeutig getrennt voneinander präsentieren, sondern durcheinanderlaufen, so versuche das Unmögliche möglich zu machen, das Neue bricht durch und die geistige Welt braucht die Zusammenarbeit mit den Lebenden...'

Trotz seines an Erfahrungen und Möglichkeiten reichen Lebens, den vielen Gelegenheiten die Welt kennen zu lernen und dem Geschenk mit Menschen auf der ganzen Welt zu arbeiten, blieb Coen innerlich ein einsamer Mann. Äußerlich konnte er poltern, innerlich war er unbeholfen. Er hat nach Gefährten Ausschau gehalten. Er suchte Menschen, die auf gleicher Ebene mit ihm arbeiten und konnte es dann nicht ertragen, wenn sie da waren – manches Mal mündeten die Begegnungen in einen Scherbenhaufen, denn sich auf Augenhöhe zu begegnen, bedeutet auch immer Gefahr. Und so war auch seine Zusammenarbeit mit der Dornacher Führungsriege zum einen von inhaltlichen Gesprächen und zum anderen von Divergenzen geprägt.

Coens Stimme wurde am Ende seines Lebens brüchiger und die Worte standen ihm nicht immer zu Gebote, aber in seinen Handbewegungen, seinen Gesten und Bewegungen war bis zum Schluss zu lesen, dass er das Althergebrachte zu überwinden trachtete und mit Hilfe der Anthroposophie die Zeichen der geistigen Welt zu lesen bereit war. Dafür hat Coen sich hier zur Verfügung gestellt, und, dessen bin ich gewiss, wird es auch von der anderen Seite aus tun. Entsprechend dem ersten Lebensprozess hat er am Morgen des Gründonnerstags 2013 im Beisein seiner Frau aufgehört zu atmen. Ich habe in Coenraad van Houten einen Lehrer gesucht und einen Freund gefunden – über seinen Tod hinaus.

(Dieser Nachruf wurde zuerst in der Johanninummer 2014 der Vieteljahresschrift "Anthroposophie" veröffentlicht.)

Freitag, 27. Juni 2014

Ménage-à-trois: Teil II

Es stand nur ihr Namensschild an der Tür. An ihrem Geburtstag wachte sie inmitten eines verwirrenden Traumes morgens auf, wie eh und je. Sie würde den Tag für sich verbringen, allein, denn sie kannte in der flirrenden Stadt niemanden – außer ihrem Sohn, von dem sie nichts wusste. Es war nichts zu erwarten, stattdessen war es grau und regnete, sie sah den Regentropfen zu, wie sie an ihrem Fenster hinunter liefen. Vor ihr stand ein Strauß roter Tulpen, Rosen gab es noch nicht. Sie stellte den Anrufbeantworter an, setzte sich mit ihrem Espresso an den Tisch und begann zu schreiben, Klaviermusik im Hintergrund.

Weit entfernt setzt sich ihre älteste Tochter Clara in den Zug. Sie hatte seit Monaten weder etwas von ihren Geschwistern noch sonst jemandem der Familie gehört, trotzdem war sie sicher, dass es klappen würde, dass ihre Lebensbahnen sich wieder einmal kreuzten – Handynummern überdauerten. Der Vormittag war bereits im Begriff sich zu verneigen und sie wusste, dass damit die Hürde genommen war, es kostete sie Mut, aber der Nachmittag würde unweigerlich kommen. Sie fuhr durch das helle und warme Sonnenlicht des Südens und legte ihre Beine auf den gegenüberliegenden Sitz. Sie trank das lauwarme Wasser aus der verknitterten Flasche und sah aus dem Fenster. Sie fuhr vorwärts, mitten in ihr Leben – dem sie so lange fern geblieben war. Gleichzeitig ließ sie sich in den Bann der vorbeigleitenden Landschaft ziehen. Der Zug kannte sein Ziel, immer der Nase nach.

Emilie hingegen, ihre Schwester, stand am offenen Garagentor der Autowerkstatt und klimperte nervös mit ihrem Schlüsselbund. Sie war müde und fror in ihrem dünnen Pullover. Konnte das Auto nicht vor der Mittagspause repariert und freigegeben werden, damit sie endlich losfahren konnte? Sie war schon spät dran und musste unterwegs noch die letzte Version ihres Manuskripts entgegen nehmen. Ob es daran wieder etwas auszusetzen gäbe? Der Wind pfiff, als der Kfz-Mechaniker auf sie zu kam und gleichzeitig ihr Handy klingelte.

In diesem Moment schlief Benno noch, allerdings befand er sich bereits in der richtigen Stadt, er träumte gerade von einem Unterfangen, den Mond unter dem Blecheimer einzukreisen und zu melken, dazu musste er mit drei Fingern einen Punkt auf dem Stein berühren, der sich hin und her bewegte. Er hatte sich erst spät hingelegt, denn das Gespräch musste aus dem Nullpunkt heraus geführt werden. Sie waren sich lange nicht einig geworden, was nun das eigentliche Problem sei, schließlich hatten sie es aufgegeben, weiter nach Worten zu suchen und sich der wortlosen Sprache anheim gegeben.

„Wie weit bist du?“
„Ich kann dich nicht verstehen…“
„Kommst du?“
Sie versuchte es noch einmal, langsam und deutlich: „W O B I S T D U ? ? ?“
„Ich höre es nur rauschen!“

Ihre Ungeduld brach sich Bahn, ihre Nerven lagen bloß, sie schleuderte den Apparat ins Auto. Gottverlassen und zornig wie sie war, griff sie in ihre Handtasche, um irgendwie Trost zu finden. Schnell zog sie ihre Hand zurück, glitschig und klebrig. Auch das noch. Bananen in Handtaschen benehmen sich unsittlich und preisen bei der ersten Gelegenheit ihre klebrige Nacktheit an. Widerlich. Sie schloss die Augen. Alles schien vertrackt ineinander zu hängen, sie suchte, wie immer, den erlösenden Ausweg. Dafür leckte sie das Süßliche ihrer Finger ab. Im Autoradio jaulte sich eine Popsängerin ihren Liebesschmerz aus der Seele. Gleich würde der Mechaniker zurückkommen, der mit dem Meister zu sprechen hatte, und den sie hoffte dann doch noch erfolgreich um ihre Finger gewickelt zu haben.

Mailbox. Jetzt ging sie nicht dran. Was sie nur wollte? Benno versuchte sich die Nacht aus den Augen zu reiben und schaute dabei schlaftrunken in den Spiegel, der über seinem Bett hing. Im Haus war es still, er hörte nur den Lärm von draußen, immer wieder das Gequietsche der Straßenbahnen. Die Sonne leuchtete scheu in sein Zimmer, der Regen hatte sich verzogen. Die Welt war blank geputzt und verbarg nichts. Er konnte die dampfende Helligkeit kaum ertragen und wünschte sich die Nacht zurück. Bevor er aber wieder in einen sanften Schlaf abzugleiten drohte, schrillte sein Handy.

„… um 16.27 Uhr, holst du mich ab?“ fragte die warme Stimme am anderen Ende. Sie kannten das Spiel von früher, einander nicht zu begrüßen, sondern gleich zur Sache zu kommen, dies Mal war es seine ältere Schwester, Clara, er erkannte ihre Stimme sofort. Schlagartig wurde ihm klar, was der Tag von ihm wollte – er erschrak. Weil er es vergessen hatte. Jetzt musste er sich anstrengen. Würde er es schaffen?

„Schön, dass du anrufst, ich habe schon darauf gewartet“ – log er mit seiner betörenden Unschuldsmiene, wie gut, dass sie nicht sah, wo er war. „Mein Akku ist gleich leer. Bringst du die Schachtel mit, von der du…“ Die Verbindung brach ab. Was war es, worum ging es? Er konnte sich nur vage erinnern. Er sprang unter die Dusche, ließ das kalte Wasser über seinen Körper laufen. Sie wollten sich treffen und es gemeinsam tun. Komme was wolle, er würde dabei sein, es war abgemacht, seit dem Krach, sie wollten zusammen hingehen. Und Emilie sollte auch dabei sein, er wusste gar nicht wo sie war, erinnerte sich aber ausnahmsweise glasklar daran, dass sie damals die Schachtel eingesteckt hatte. Ein paar Stunden blieben ihm noch, bis zu dem Treffen der drei Geschwister, die ihre Mutter zum Geburtstag besuchen wollten.

Auf dem Balkon gegenüber saß der junge Mann, der wie immer alle Zeit der Welt zu haben schien. Benno machte sich einen Kaffee, schlürfte ein Joghurt und überflog die erste Seite der Zeitung. Die Katze schnurrte um seine nackten Füße. Wie er diese Momente hasste, in denen die Dinge nicht zueinander zu passen schienen. Heute wollte er doch seiner Professorin Paroli bieten. Und dabei war er innerlich immer noch bei seinem Traum. Wovon hatte er noch gehandelt? Er wusste es nicht mehr, hatte aber das Gefühl, dass er etwas Wichtiges und Revolutionäres preiszugeben bereit gewesen wäre. Benno war immer darauf aus, die Dinge gleich im Großen umzukrempeln. Er versuchte Emilie zu erreichen.

Clara entspannte sich, sie hatte die unbehagliche Entscheidung hinter sich und döste vor sich hin, es waren noch immer 204 Kilometer, wie sie dem Faltheftchen „Ihr Zugbegleiter“ entnahm. Die Wärme und das gleichmäßige Rumpeln des Zuges hatten etwas bestechlich Beruhigendes an sich. Sie musste nur noch ankommen, endlich würden sie es machen, einen Durchbruch lancieren. Ihr Gepäck bestand aus der obligatorischen Laptoptasche und einem grünen Koffer, der sich in alle vier Richtungen drehen ließ. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengedreht, das rote Kleid zeigte Schweißspuren an den Stellen, an denen es ihre nackte Haut berührte. Sie war gerannt, um den Zug zu kriegen. Der Akku ihres Handys war leer, sie hatte das Ladegerät im Schuppen an der Kabeltrommel vergessen.

Ihre Gedanken machten sich selbstständig, schlugen diese und jene Richtung ein, dümpelten daher, immer wieder trank sie einen Schluck Wasser. Sie dachte an ihre jüngere Schwester Emilie, wie sehr sie sie um ihre Klarheit beneidet hatte, damals, um ihre Willensstärke und ihren Erfolg. Seit dem Krach hatte sie nicht mehr mit ihr gesprochen, keiner wusste etwas vom anderen. Sie hatte ihre Lebensbahn von der Großstadt aufs Land verlegt, zog es vor die großen Visionen im Kleinen zu verwirklichen, im Gegensatz zu ihrem Bruder, auch, wenn sie jeden Abend sehnsüchtig in den Himmel schaute und die Sterne mit ihren Blicken umfing.

Sie konnte ja nicht ahnen, dass die, an die sie dachte, sich mit ihrem alten Auto fluchend auf der A1 befand, den nachmittäglichen Berufsverkehr in Kauf nahm und darum bangte pünktlich zu sein. Emilie hatte beschlossen, den Entwurf nicht mehr abzuholen und war nach dem Desaster an der Autowerkstatt erst einmal etwas trinken gegangen, um sich neu zu sortieren. Von ihrem Umzug hatte sie niemandem etwas erzählt, keiner wusste wo sie war, es war ja schon Monate her. Für die SMS hatte sie nur 160 Zeichen zur Verfügung, also musste sie die Worte weise wählen.

Die Drei waren ein Herz und eine Seele – gewesen. Jeder war seinem eigenen Plan nachgegangen, sie suchten Abstand und gehörten gleichzeitig zusammen. Damals war es der rettende Gedanke die Mutter zu besuchen, jeder wusste, dass es nur gemeinsam zu machen sei, wie ein lockerer Ausflug, den es in der Kindheit so oft gegeben hatte. Nun kostete es Überwindung.

Während Clara auf Gleis 12 aus dem Zug stieg – er war pünktlich –, parkte Emilie ihr Auto gerade im Parkhaus des Hauptbahnhofs und lief mit wehenden Haaren und der blauen Tasche durch das Treppenhaus in die Eingangshalle. Es war der kleine, alte Kiosk, an dem sie sich verabredet hatten. Reste der Bildzeitung lagen neben einem verwaisten Exemplar der ZEIT, schließlich war es schon Dienstagnachmittag, der Verkäufer, offensichtlich ein Italiener, telefonierte lautstark mit einer Unsichtbaren und gestikulierte dabei elegant.

Benno kam auf dem Fahrrad, mit einem smarten Lächeln, mitten durch den Menschenstrom gefahren. Er hatte den entscheidenden Rucksack auf dem Rücken, in dem die Briefe lagen – zu guter Letzt hatte er sie gefunden. Sein gelbes Rennrad kannten die beiden, er hatte es gekauft, als sie noch Kinder waren und mit Träumen durch den Tag schlenderten. Schuldzuweisungen hatten jetzt keine Chance, auch wenn es einiges zu klären galt. Sie umarmten einander, bevor Verlegenheit und Reue sich zwischen sie stellen würde – über Skype hatten sie die Befangenheit nicht wahrgenommen, der technische Anschein der Unmittelbarkeit fand den Weg bis auf den Bildschirm nicht.

„Ich hoffe, dass sie uns überhaupt die Tür aufmacht, nach all dem…“
„Sie weiß ja nicht, dass wir es sind, sie wird es schon tun. Und sie wird sich freuen, ich bin sicher! Wir werden nicht streiten, sondern…“
„Lasst uns Kuchen kaufen, Himbeertorte, und in die Schachtel legen. Emilie, du hast sie dabei? Schließlich ist es ihr Geburtstag und wir haben sie schon so lange nicht mehr gesehen…“

Sie liefen durch die Fußgängerzone und bogen an der vierten Querstraße ab. Das dritte Haus auf der linken Seite war ihr Ziel. Sie hatten es geschafft, es war 16.51 Uhr, noch neun Minuten, dann würden sie an der Haustür klingeln, so war es früher immer gewesen, um 17.00 Uhr begann der freie Teil des Tages. Sie schauten sich an und drückten auf die Klingel mit dem gemeinsamen Nachnamen. Benno nahm den Rucksack in die Hand und öffnete den Knoten, Clara stand links, Emilie mit der Schachtel rechts; ob die Mutter zu Hause war und die Tür öffnen würde?

Samstag, 21. Juni 2014

Hilde Domin

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.


Sonntag, 15. Juni 2014

Am griechischen Wasser. Noch immer regieren die Götter


Eine Woche später. Vor mir leuchtet und glitzert das Wasser blau. Tief blau. Seine Fläche erstreckt sich bis zum Horizont. Und darüber hinaus. Umrahmt wird das Bild von einer Landzunge und einer Insel in der Ferne. Der Himmel neigt sich tief, die Linie ist klar, dünn, sanft und doch scharf. Hier beginnen Unendlichkeiten einander zu berühren. Der morgendliche Wind ist angenehm und streicht warm an den Grenzen meines Körpers entlang. Die Sonnenstrahlen erobern jeden Winkel, an diesem Ort der Welt werden die Schattenplätze des Lebens freiwillig aufgesucht.

Jetzt, am Morgen, sind es die Sonnenstrahlen, die das Wasser an den kleinen Bruchstellen silbern glänzen lassen. Glitzernd wie die Sterne der Nacht, die vom Meeresboden zurückkommen, denn das Ende der Dunkelheit wirft sie in den frühen Morgenstunden jeden Tag aufs Neue in die Tiefe der wässrigen Unendlichkeit. Von dort treiben sie nach oben an die Wasseroberfläche und warteten, bis ihre Zeit am Himmel erneut beginnt und sie sich wieder ans Firmament wagen. 

Dort, wo Land und Wasser aneinander stoßen, übernimmt der Himmel die Regie. Die Faszination dieses Schnittpunkts lockt die Menschen an. Noch herrscht Ruhe, obwohl aus der Ferne griechische Folkloreklänge zu hören sind. Die ersten Badegäste breiten ihre Habseligkeiten aus und vertrauen sich den Elementen an. Meine Gedanken schweifen in die Ferne, sie verlassen die Küste und lassen sich von der Weite mitnehmen. Zeit und Raum werden eins, aufgenommen in der Unendlichkeit zwischen der großen Vergangenheit und der sich nähernden Zukunft.

Ich denke an den großen Manu, wie er einst aus der Ferne zwischen Himmel und Wasser auftauchte. Sein Schiff, beladen mit Wissen und Geschichte. Sein Ziel die menschliche Küste, offene Herzen. Nachts folgte er den Sternen die ihm die Richtung wiesen, tags lauschte er den goldenen Spuren am Grund des tiefen Wassers. Intuition, Inspiration und Imagination verbinden sich miteinander und werden zu inneren, begehbaren Inseln auf dem seelischen Schlachtfeld des aufrüttelnden Lebens.

Manu braucht Weite, Licht und Luft, denn sein Kriseneinsatz findet an den dunklen Stellen des menschlichen Lebens statt, dort, wo Ecken und Kanten scharf sein können, wo der Frieden zum Krieg wird, weil die Menschen Angst voreinander haben und einander blind verletzen. Plötzlich durchkreuzt ein kleines weißes Schiff das blaue Bild aus der Ferne. Es fährt von rechts nach links, Raum und Zeit haben mich im Schnittpunkt des Jetzt wieder, die Sonne brennt noch immer unerbittlich vom Himmel herab.

Am nächsten Morgen bringt die Kellnerin in gebrochenem Englisch Kaffee und Wasser. Die Welt ist heute eine andere. Nach dem großen Unwetter, es hat über Stunden geblitzt, gedonnert und unendliche Mengen an Regen vom Himmel geschüttet, ist klar, dass noch immer die Götter die Geschicke lenken. Der silberne Glanz ist verschwunden – keine Sterne, keine blitzenden Flecken auf dem Wasser, keine Oliven- und Silberpappelblätter, die dem Himmel entgegen glitzern und blinken – die Welt ist erschüttert und still.

Das große Wasser gähnt ruhig und glatt wie ein Spiegel vor mir, der Horizont grenzt sich klar und scharf wie die Klinge eines Messers davon ab. Der Himmel lehnt sich noch immer herab, schwer und bedrohlich – die Götter beruhigen sich nur langsam, noch hat die Sonne ihre Position nicht wiedererlangt. Die Menschen sind in sich gekehrt heute und zur Versöhnung bereit. Die griechische Küste lädt mit dem großen Wasser dazu ein, die Götter zu ehren und sich zu verneigen, damit Manu landen kann, um das Festland des Lebens endlich zu betreten.

Sonntag, 8. Juni 2014

Pfingsten? Zwei dicke Männer am frühen Morgen

Die Nachrichtensprecherin hat gerade mit ihrem Bericht begonnen, ich komme morgens um kurz nach sechs Uhr mit dem Auto zum Bahnhof. Es ist hell und still, ich aber bin noch nicht ganz wach. Früh aufzustehen gehört nicht zu meinen Stärken, dennoch tue ich es, wenn es verlangt wird. Der Parkplatz direkt vor dem Bahnhofseingang gähnt mir leer entgegen. Vereinzelt stehen einige Autos da, als wenn sie vergessen worden wären. Der Morgen ist frisch und alt zugleich.

Und da sehe ich sie wieder. Zwei Männer. Sie kommen aus der Bahnhofsbäckerei. Ich schätze sie beide so um die sechzig. Der eine ist sehr dick, der andere nur dick. Sie sehen ein wenig ungepflegt aus. Bauarbeiter? Die Jeans unter dem Bauch zugeknöpft, ein strammes T-Shirt über dem Bauch und ein Pullover, der sicher zwei Nummern zu klein, auf jeden Fall aber zu kurz ist. Darüber, je nach Wetter, eine Jacke. Die ist offen. Immer. Bei beiden. Langhaarige Grauschöpfe sind es, Brillenträger. Männer der Tat.

Immer kommen sie zu zweit. Breitbeinig. Um kurz nach sechs Uhr aus der Bahnhofsbäckerei. Eigentlich sehen sie so aus, als hätten sie Currywurst und Pommes gegessen. Die Männer unterhalten sich, gestikulierend. Sie wirken nicht so, als wenn sie gerade dem Bett entstiegen und mit dem Versuch beschäftigt wären, dem Tag auf leisen Sohlen entgegen zu gehen. Im Gegenteil, es sieht so aus, als wenn sie schon so richtig etwas hinter sich hätten. Bei ihnen scheint es schon mitten am Tag zu sein. Krumme Geschäfte?

Der eine hat einen dicken Schlüsselbund in der Hand. Sie steuern auf den ersten Parkplatz zu, der dem Bahnhofsgebäude am nächsten ist, dort steht ein Auto. Per Klick leuchten die Blicklichter auf. Dieses Mal ist es ein dicker Mercedes. Ein silberner. Er steht direkt vor mir. Manchmal ist es auch ein Range Rover. Ich habe noch nicht darauf geachtet, ob in den Fällen dann vielleicht der andere den Schlüssel hat. Vielleicht doch eher Bauunternehmer? Sie steigen ein und fahren ab. Kraftvoll und selbstverständlich.

Ich frage mich, wer sie sind. Ich komme in der Regel einmal in der Woche um diese Zeit zum Bahnhof, allerdings an unterschiedlichen Tagen. Ob sie jeden Tag kommen? Ob sie ein Ritual genießen? Morgens – früh! – vor der Arbeit? Sie sehen nicht wie Genießer aus und natürlich auch nicht wie Denker. Nein, es sind eher derbe Typen. Und die Autos passen auch nicht zu ihrem Outfit. Obwohl sie lautstark reden, gehören sie in das Bild der morgendlichen Stille. Bei mir im Auto erzählt die Nachrichtensprecherin gleichzeitig etwas von Weltpolitik.

Ich weiß nicht, wo sie herkommen und nicht wo sie hingehen, aber ich sehe sie immer wieder morgens um kurz nach sechs Uhr am Bahnhof aus der Bäckerei kommen. Zwischen Tag und Nacht und immer wieder im Schnittpunkt zwischen Anfang und Ende. Ich vergesse die Typen auch immer wieder, spätestens im Zug. Und wenn ich sie dann sehe überraschen sie mich. Aber sie haben mich noch nie enttäuscht. Heute morgen habe ich an sie gedacht. Obwohl ich nicht zum Bahnhof fuhr. Ein Pfingsterlebnis?