Sonntag, 25. Mai 2014

Versatzstücke an der Schwelle


Das Licht umzingelt fahl den Horizont, es bricht sich sanft in der untergehenden Sonne und lässt die Welt mit einem letzten Atemzug in mattem Gold erscheinen, bevor das Grau des Abends seinen Dienst antritt. Blüten schließen sich, das Gras beginnt zu wispern und der laue Wind durchstreift sein Revier. Leise branden die kleinen Wellen des Wassers an den Strand, der Herzschlag verlangsamt sich, während die Sehkraft gesteigert werden muss. Es wird stiller in der Welt und die geheimnisvollen Stunden sind bereit ihrem Auftritt entgegen zu zittern.

Auch in der Stadt nimmt die Geschäftigkeit des Tages nur langsam ab. Geschäfte und Kneipen haben weit in die Abendstunden hinein geöffnet, nur Banken und Ärzte haben ihre Türen bereits verschlossen – sie wickeln ihre finsteren Geschäfte nur im Tageslicht ab. Fußgänger, Fahrradfahrer, Autos mit ihren Insassen – alle sind unterwegs, von A nach B, von B nach C. Diejenigen, die nicht wissen, wohin sie wollen oder sollen, tauchen in den Strom ein und lassen sich mitnehmen. Ziele gehören für gewöhnlich zum allabendlichen Ungemach der kleineren und lösbaren Art.

Worte klappern im Steinbruch einer Vorabendserie, Verdummung und Erdrosselung jeglicher Kreativität springen dem Betrachter aus dem glänzenden Bildschirm entgegen. Das was war wiederholt sich, das Neue bleibt im Verborgenen. Alltägliche Routine lässt Herzen im Takt schlagen, Melodien und Rhythmen wagen sich nur zaghaft ins Gewühl. Hinter den Kulissen unserer Zeit lauert die Ewigkeit, die sich im Sperrmüll entblößt und mit zerborstenen Ikearegalen gen Abendstern ragt.

In der Befreiung aus dem Gewordenen gebiert sich der Wille zur Zukunft, er braucht Anstöße aus der Sphäre des Zwischen. Sanfte aber nicht minder beharrliche Spuren. Erinnerung und Gewissen betasten einander und bitten um einen Gesprächstermin im Vorzimmer des Mittelpunkts. Individuum und Gesellschaft, Gestern und Morgen, ich und du – immer sind es die Schnittpunkte, die die Gefahr bergen, ebenso wie die Entwicklung zwischen Himmel und Erde die Übergänge sucht und frei offenbart.

Die Checkliste:
Was waren die bedeutendsten Ereignisse in deinem Leben?
Welche die bedeutendsten Begegnungen?
Was war, was ist, was wird daraus? Und vor allem warum?
Du, deine Ideale und deine Wirklichkeit: wer sitzt im Schauspielhaus wo (Bühne und Stehplätze inklusive)?
Wer bist du? (Mehrfachantworten möglich)
Wer möchtest du sein?
Wie verhalten sich Treue und Zweifel in deinem Leben zueinander?
Wozu das alles?

Katrin und Erwin stehen in der Kinoschlange und warten darauf Karten für den Thriller zu bekommen. Sie freuen sich auf eine feurige Abwechslung, denn das Kücheputzen war fad geworden, seit es nicht mehr darum ging, wirklichen Schmutz zu beseitigen. Mit Zewa-wisch-und-weg und dem entsprechenden Klarsichtreiniger konnten die Spuren der letzten Woche nahtlos beseitigt werden. Im Alltag gibt es wichtigere Ziele als geistige Erkenntnis, Moralität und Kreativität. Bereits das Grab ist gepachtet, der Stein in Auftrag gegeben – so what?

Der Zug vereinigt die Menschen, die wissen wohin sie wollen, die mutig ihrer Zukunft entgegenfahren – manchmal mit 250 km/h. Aber laufen, handeln und sprechen müssen sie dann doch selbst. Auf dem Bahnsteig fängt es an, am Bahnsteig endet es – ein fliegender Kuss über die Kluft zwischen Waggon und Gleis, so lange die Türen geöffnet sind. Der Fortschritt des 21. Jahrhunderts hat das Winken mit dem Taschentuch aus dem fahrenden Zug verunmöglicht – jetzt gibt es nur noch Gedanken und Handys. Bevor die Sonne wieder aufgeht und die Nacht auf der anderen Seite der Welt verschwindet, wird sie das Ziel erreicht haben und glücklich aufatmen.

Montag, 5. Mai 2014

Klänge und Farben. Zur Aufführung von Leçons de ténèbres - Tanz der Schatten aus der Dunkelheit


Ein langer Arbeitstag rundet sich. Da gab es Telefonate, Mails, Gespräche, Sitzungen, etwas vor- und nachzubereiten und vor allen Dingen nichts zu vergessen – die Jobliste für den nächsten Tag ist bereits prall gefüllt. Aber sie muss warten. Das was bereits getan wurde verschränkt sich mit dem, was noch zu tun ist, das kleine und das große Gestern berührt das Morgen, bei dem noch offen ist, ob es klein bleibt oder groß wird – ob es in die Geschichtsschreibung aufgenommen wird.

Die Kirche ist fast voll besetzt, als ich an dem lauen Frühlingsabend zur Aufführung einer multimedialen Performance komme: „Leçons de ténèbres - Tanz der Schatten aus der Dunkelheit“. Angekündigt ist ein Zusammenspiel zwischen Schattenbildern, Lichtinstallationen, Gesang, Percussion und Tanz zu Musik von Francois Couperin. Das Gesamtkunstwerk wird von Künstlern aus den Bereichen Malerei, Eurythmie und Musik aufgeführt.

Als das Publikum zu schweigen beginnt und der Raum sich für die Aufführung öffnet, führen die Klänge der Klage in das große Gestern. Es ist etwas geschehen, mittels Polyphonie wird daran erinnert, wird etwas ins Heute geholt. Starre und sich bewegende Schatten melden sich aus dem Zwischenreich und begehren auf. Farben und Formen übernehmen die Vermittlung zwischen der Musik und den grauen Schatten. Drei Figuren zeigen und bewegen sich. Sie nehmen Tuchfühlung miteinander auf und beziehen sich aufeinander – ohne Worte aber mit gestochen scharfen Gesten.

Als Zuschauer werde ich Zeuge eines geheimnisvollen Geschehens, das sich im Raum aufeinander bezieht. Die gesamte Kirche wird zum Schauplatz, das Publikum zum Mitwisser. Allerdings bleibt nur vage erahnbar, um was es geht. Die geschichtlichen Stichworte im Kopf verblassen, Gedanken werden zu Gefühlen. Die Strahlkraft der einzelnen Künstler schiebt sich in den Vordergrund. Der zweistimmige Gesang durchdringt mein Herz, Licht, Farbe und Formen bewegen sich auf die innere Bühne meiner Seele zu.

Ich bin umringt von Könnerschaft, von meisterhaften Leistungen einzelner Künstler, die sich zugunsten des Gesamtkunstwerks abwechseln, in Beziehung zueinander treten und sich wieder voneinander entfernen. Sie machen sich zum Medium und verbinden die Klage von gestern mit der Hoffnung des Morgen. Geschehenes Leid transformiert sich in traurige Schönheit, Schmerz in klirrenden Jubel – alles was da ist ist da, die Musik macht es erträglich.

Die Künstler präsentieren sich innerhalb des Gesamtkunstwerks als Individuen, die über sich hinauswachsen und die Größe der Kunst erlebbar machen. Ohne die grauen Schatten gibt es kein Licht, ohne die Stille keine Musik. Farben und Formen werden von den Gesichtern der Tänzer geleitet, sie weisen ihnen den Weg. Ein Segment des Weltgeschehens schlüpft in der kleinen Kirche wie aus dem Ei, lässt den Himmel erzürnen sowie zugleich erblühen. Silberne Tränen der Trauer erleuchten den Weg in die Unterwelt.

Auf die Welt außerhalb der Kirche hat sich die Abenddämmerung gelegt, Stille umkreist Bäume, Straßen und Autos. Ruhe umhüllt die Menschen, die aus der Kirche treten und die wunderbare Klage in ihrem Herzen tragen. Wenn Stille klingt, Schatten Farbe annehmen und Menschen sich zeigen, dann werden die kleinen Dinge groß und ein Moment zur Ewigkeit. Gestern und Morgen verschränken sich im Heute und Joblisten werden zu kleinen Wegmarken auf dem langen und unübersehbaren Lebensweg.