Sonntag, 16. März 2014

Biographien schreiben und lesen (V): Die eigene Stimme finden


Ein paar Sonnenstrahlen versuchen das kahle Geäst zur Erneuerung zu animieren, das erwachende Leben hervorzulocken. Die Stimmung ist zögerlich und zurückhaltend, die Welt schweigt und wartet darauf, dass sich der Vorhang der Bühne öffnet. Es bleibt ein Geheimnis, worauf sich die Magnetnadel des individuellen menschlichen Lebens richtet, wovon sie angezogen wird, horizontal und vertikal. Das Herz als initiierender Kreuzungspunkt jeglicher Gefühle, jeglichen Strebens und Handelns bleibt ein Rätsel, ein Mysterium.

Allemal aus vier Richtungen kommen Stimmen, die sich sanft und leise, mitunter aber auch hart und fordernd Gehör verschaffen. Sie treffen im menschlichen Herzen aufeinander. Das kann ganz leise geschehen, aber auch zu inneren Tumulten führen – aus einem Tanz kann ein Kampf werden. Eine der irdischen Aufgaben des Menschen ist es, aus diesen Stimmen, die aus verschiedenen Richtungen kommen, unterschiedliche Ziele verfolgen und alle ihre Berechtigung haben, die eigene Stimme zu finden, sie zu kreieren, zu etablieren und ihr einen Platz zu geben, um ihr dadurch Volumen zu verleihen.

Auf der horizontalen Linie kommt eine Stimme von links, aus dem Westen, sie repräsentiert die Vergangenheit und lebt von der Erinnerung. Von dem, was das Haus des Gestern bewohnt. Manchmal öffnet es Türen oder Fenster. Dort leben Menschen und Verstorbene, Ereignisse und Momente, Entscheidungen und Beschlüsse, die der Vergangenheit angehören, kulturelle Quellpunkte und Initiierungen. Die Stimme der Erinnerung lässt persönliche Erfahrungen zu Werten avancieren und ruft immer wieder dazu auf, umsichtig zu urteilen.

Die horizontale Linie führt nach rechts, in den Osten. Von dort melden sich die Stimmen der Zukunft, sie erreichen uns über das Gewissen. Der Zeitstrom aus der Zukunft ruft leise aber unerbittlich und weiß, was recht und unrecht ist, was getan und gesagt werden will und worüber lieber geschwiegen sein soll. Die Zukunft offenbart sich nicht wie die Bilder der Vergangenheit es tun, sondern ihre Farben und Klänge rufen geheimnisumwoben aus einer Zeit, die vor uns liegt. Die Stimme aus dem Haus des Morgen sorgt für Mut und Zuversicht, sie bittet um Taten.

Auf der vertikalen Linie kommen von unten aus dem Süden, vom Erdmittelpunkt, die Stimmen des alltäglichen Lebens, die sich vornehmlich um die physische Existenz des Menschen bemühen. Da muss für Kleidung, Nahrung und Wohnraum gesorgt werden, aber auch für eine Meldebescheinigung, eine Krankenversicherung, einen Pass, Geld oder ein Auto. Diese Stimme bemüht sich um Zuschreibungen der Profession, um Papiere, Recht und Ordnung. Die Kraft aus der Erde sorgt diesbezüglich für ebene oder steinige Straßen im Leben und sorgt dafür, dass wir nicht hungern oder frieren.

Die Stimme, die aus der Senkrechten von oben aus dem Norden kommt ist die, die aus der Weltenmitternacht spricht, aus der geistigen Welt - ihr ist die Gabe verliehen von den Motiven eines Menschen zu erzählen. Von Wünschen, Vorsätzen und Entschlüssen, die auf geistiger Ebene gefasst wurden und werden und initiierend ins Leben hineinreichen, lenken und leiten – die das Unverwechselbare eines Menschen hörbar und ihn auf seine eigene Rätselhaftigkeit aufmerksam machen. Diese Stimme aus der Ewigkeit sorgt für Inspiration, Imagination und Intuition und ist der Persönlichkeit des Menschen geschuldet.

Die Stimmen von links und rechts, oben und unten treffen im menschlichen Herzen, der Seele aufeinander und ringen um ihre Stellung. Harmonisches Miteinander und chaotisches Durcheinander wechseln einander ab. Das Ich des Menschen ist ein Konglomerat aus Erfahrungen und Hoffnungen, aus Notwendigkeiten und Zielen, das es möglich macht, Platzierungen im Leben anzunehmen und Platzwechsel zu vollziehen.

Aus der Verhältnismäßigkeit der vier Stimmen entsteht unsere eigene, unverwechselbare Stimme, die uns durch das Leben führt. Sie will erkannt, gepflegt und umsorgt werden und präsentiert sich irdisch als Name. Der Vorname, als sichtbarer Beleg für die Identität seines Trägers, ist der einzige Ankerpunkt im Leben, den es in einer sich ständig bewegenden Welt gibt, die sich aus den Impulsen der vier Himmelrichtungen konstituiert und unaufhörlich selbst erschafft.

Sonntag, 9. März 2014

Biographien schreiben und lesen (IV): Zum Selbstverständnis eines "Zentrums des Erlebens"


Der Mensch, als handelndes Subjekt, als „Zentrum des Erlebens“ (Peter Bieri) lebt zwischen Raum und Zeit von seiner Geburt bis zu seinem Tod auf der Erde. Er gestaltet seine Biographie und schreibt dadurch das Leben in sich, seine Umgebung und die Erde ein. Bios bedeutet Leben, Graphie bedeutet Schreiben. Aber was schreibt sich ein, um welche Ereignisse geht es, was ist es, was den Lebenslauf eines Menschen zu einer individuellen Biographie macht und wie lassen sich Lebensgeschichten lesen?

Jeder Mensch lebt in dem Spannungsfeld zwischen eigenen Motiven die er mitbringt, die sich in ihm entwickeln, denen er nachstrebt und seiner sozialen Umwelt, die durch Normen, Werte, Gepflogenheiten oder Gesetze bestimmt ist. Individuum und Welt passen nicht immer zusammen, gehen aber als Prozessgeschehen auseinander hervor (Ursula Stenger), denn sie sind beide Teil voneinander und bedingen sich gegenseitig.

Pico della Mirandola, Dichter und Philosoph in der Renaissance in Florenz, schrieb im Vorwort seiner Schrift „Über die Würde des Menschen“: Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünscht. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, dich in die höhere Welt des Göttlichen durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.[1]

…wie ein Bildhauer und Dichter… Der Mensch, als ein seelisches Wesen, das mit Gefühlen und eigenen Motiven ausgestattet ist, steht zwischen Materie und Geist und darf, ja muss gestalten, wenn er nicht zu einer Marionette des Gesellschaftssystems werden möchte. Wie ein Bildhauer, der in dem unbehauenen Stein die Skulptur erblickt und sie hervorholt und/oder wie ein Dichter, der mit Worten sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges entstehen lassen kann, Wahres und Erdachtes, Gutes und Böses, der mit seinen Worten trennen und verbinden kann.

Alles, was äußerlich geschieht, hat eine innere Entsprechung, kann zum Lebensereignis erhoben werden und die Möglichkeit zur Entwicklung bergen. Wenn der seelische Schnittpunkt zwischen Geist und Materie und zwischen mir und dem Anderen als Quelle und Ziel zugleich verstanden wird, wird die Biographie zu einem selbsterschaffenen Kunstwerk (Foucault), dass das Individuum gestaltet und das dadurch eine Bedeutung erlangt, dass Mitmenschen es lesen dürfen.

Da der Mensch nicht allein existieren muss, sondern in einem polyphonen sozialen Gefüge lebt, Teil eines menschlichen Miteinanders ist, das auch von Nähe und Distanz geprägt ist, hat er es mit Anregungen und Herausforderungen seiner Mitmenschen und seiner Umwelt zu tun. Die eigene Motivgeschichte verschränkt sich mit der anderer, durch Hinwendung zum Gegenüber. Leben bedeutet, sich in einem ergebnisoffenen Prozess zwischen Schreiben (des eigenen Lebens) und Lesen (der Motive meiner Mitmenschen) zu bewegen.

[1] Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Leipzig: Pantheon Akademische Verlagsanstalt 1940, Seite 50.

Sonntag, 2. März 2014

Biographien schreiben und lesen (III): Über die Bedeutung von Gefühlen


Im Schnittpunkt des Jetzt – zwischen Vergangenem und Zukünftigen – ist die Ausprägung des Gefühls ein wichtiges Signal für mein Denken und Handeln. Weder kann ich in einem Moment wenn etwas geschieht – ich lese die Zeitung, stehe an einer Straßenkreuzung, befinde mich in einer Konferenz – das Geschehen (analytisch) durchdenken noch die Konsequenzen aus einer folgenden Handlung überblicken. Ich verlasse mich auf mein Gefühl, denn es ist eine unmittelbare Reaktion auf das, was ich erlebe: Gehe ich weiter oder bleibe ich stehen, frage ich nach oder schweige ich, sage ich innerlich ja oder nein…

Während mein Denken prinzipiell indoktrinierbar ist und mein Handeln nach bestimmten Normen und Werten vorgegeben oder gemaßregelt sein kann, sind innere und damit sehr persönliche Gefühlsreaktionen im Allgemeinen nicht korrumpierbar. Was aber bestechlich ist, ist die Deutung meiner Gefühle, die Bewertung und Beurteilung. In welchem Kontext „erlaube“ ich mir das Gefühl des traurig Seins anzunehmen, mich einsam zu fühlen, mich zu freuen, Glück oder Zufriedenheit zuzulassen?

Gefühle gehören, gesellschaftlich gesehen, in die intime Privatsphäre eines Menschen (Angst, Ärger, Humor, Mitleid, Liebe u.a.m.). Selten werden Gefühle als Argumente anerkannt – im beruflichen, professionellen Kontext haben Menschen sich an Leitbilder, Richtlinien, Gebote und Verbote zu halten und ihr eigenes Gefühlsempfinden „außen vor zu lassen“.

Nicht zuletzt gehört Deutschland zu den Ländern mit den meisten Bestimmungen und Erlassen, Vorgaben und Gesetzen. Auf fast jede mögliche Situation hat sich der Staat vorbereitet. In diesem Falle passiert dieses und in jenem jenes. Nicht zuletzt ist das die Begründung für die Legitimierung unserer Rechtsstaatlichkeit. Was in die Vorgaben eingebaut ist, ist ein gewisser Ermessensspielraum, in dem die Beteiligten u.U. ihrem Gewissen folgend (relativ) frei bzw. individuell handeln können.

Das Gewissen befindet sich in unmittelbarer Nähe des Gefühls. Während Gefühle kurzfristig auftreten und auch schnell wieder verschwinden können, handelt es sich beim Gewissen eher um eine längerfristige innere Ausrichtung eines Menschen. Gefühle können unmittelbar erlebbar werden, die leise Stimme des Gewissens hingegen ist eine innere, mitunter delikate Angelegenheit die unter Umständen nicht nach außen dringt.

Aber gerade diese innere Stimme ist es, die unseren Gefühlen den Weg weist und damit ethische, moralische und intuitive Gründe dieses und nicht jenes zu tun legitimiert. Gefühle sind wichtige Signale, die sich mit dem Denken und Handeln verschränken können – aber nicht müssen. Für unsere eigene Integrität, unser Selbstverständnis, kurz unsere Identität ist es aber von Nöten, dass unserem Gefühlserleben ein angemessener Raum innerhalb unseres Selbst zugesprochen wird.

Gefühle sind prinzipiell immer „richtig“ – welche Bedeutung wir ihnen aber beimessen ist uns selbst überlassen: sie können uns im Weg stehen (ich habe keine Lust), uns auf etwas aufmerksam machen (da gibt es etwas, das ich fast übersehen hätte), uns leiten (ich werde mal in diese Richtung weiter suchen) oder uns warnen (es könnte Gefahr drohen). Ein Gespür oder eine Ahnung führt uns selten in die Irre. Darum ist es so wichtig, das eigene Gefühlsleben differenziert wahrzunehmen und einen warmen Umgang mit ihm zu pflegen.

Zeitgemäß wichtig scheint mir, in unserem Bildungssystem und dem gesellschaftlich-kulturellen Auf und Nieder dafür Sorge zu tragen, dass die Kunst (ganz allgemein) in jeglicher Hinsicht sichtbar und erlebbar ist und sich zutraut, unsere Gefühle anzusprechen. Wir hingegen müssen uns darin üben, neben dem Denken und dem Handeln, auch dem Fühlen einen adäquaten Raum zur Verfügung zu stellen, in dem (gewissenhaft) getanzt werden darf.