Sonntag, 16. Februar 2014

Biographien schreiben und lesen (II): Ein bisschen „Off Track“ nach vierzig Jahren


Meine Kindheit, Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre, war geprägt von den politischen Umwälzungen, den endlosen Debatten, den neuen Umgangsformen und dem Ende jeglicher Traditionen und Werte. Die „Erwachsenen“ waren damals heftig bewegt und probierten viel aus, immer subversiv und provokativ. Kindererziehung, Familie und soziale Einbettungen wurden neu erfunden – radikal und fundamental. Das Wahre, Schöne und Gute wurde abgeschafft – stattdessen hieß es bei uns: „macht kaputt, was euch kaputt macht“.

Aus dem Plattenspieler gab es verwirrende und mitunter düstere Jazz- und Rock-Klänge zu vernehmen, dazu rauchige Stimmen die etwas von mysteriösen Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten raunten… die englischen Texte verstand ich nicht, aber ich nahm wahr, dass „die Erwachsenen“ irgendwie darauf abfuhren und sich plötzlich, mit Zigarette im Mund, verklärte Gesichter einstellten, es musste also noch etwas anderes als das politische Establishment geben, das es abzuschaffen galt…

Interessant war es, auch sehr verwirrend, ja sogar verunsichernd – denn so richtig wusste ich das alles nicht einzuordnen. War die Welt nun eigentlich in Ordnung oder gerade nicht?

Schnittpunkt I. Und dann lernte ich dich kennen. Du hattest ein Kleid mit einem Spitzenkragen. Und manchmal hattest du im Sommer weiße Kniestrümpfe mit einem Lochmuster an – so etwas hatte ich mir immer gewünscht, aber nie bekommen, denn solche Dinge galten bei uns als spießig, bürgerlich... und ich fand sie doch so schön! Wir wurden Freundinnen und ich ging mit dir nach Hause: Da gab es eine ganze Familie, Vater, Mutter und vier Kinder – du hattest drei ältere Brüder. Ihr hattet ein richtiges Wohnzimmer und ein Schlafzimmer deiner Eltern, in das wir nicht hineingehen durften.

Und du hattest eine Mutter, so eine richtige Mutter – ich weiß noch, dass sie mich damals schon fasziniert hat. Immer war sie da, immer!, ich erinnere mich an ihre gebatikten Kittel und ihre Zopffrisur. Ich denke an eure kleine Küche, ihr Revier. Ihr hattet einen langen großen Esstisch und da gab es Mahlzeiten mit der ganzen Familie, dein Vater, das Familienoberhaupt... An diesem Tisch machten wir auch gemeinsam die Hausaufgaben und deine Mutter saß bei uns. Und sie fragte uns, was wir erlebt hatten und gab mir rundum das Gefühl, dass die Welt schön, wahr und gut sei.

Bei euch hatte die Welt eine Ordnung, sie war licht und rein. Es gab einen Rahmen, in dem wir uns bewegen durften und es gab Grenzen, die nicht zu überschreiten waren, ein bisschen Strenge war auch dabei, aber immer war es hell. Ich war gerne bei dir, sehr gerne, das Haus in dem ihr lebtet und deine ganze Familie hat mir Halt gegeben, bei euch schien immer die Sonne. Dein Vater war selten zu sehen, er war eine Respektperson – in der Mittagszeit musste im Hause Ruhe herrschen, damit sich deine Eltern ausruhen konnten.

Bei euch gab es keine politischen Diskussionen – jedenfalls nicht wenn ich da war -, keinen Streit und keine Demonstrationsaufgebote, die Welt war klein und rund und selbstverständlich gab es darin auch keine Musik aus dem Plattenspieler, sondern es wurde gesungen und selber musiziert.

Schnittpunkt II. Und nun sehe ich dich wieder, vierzig Jahre später. Das Leben hinterlässt Spuren, wir sind selber längst Mütter, ja fast Großmütter geworden. Vor allem aber treffe ich deine Mutter wieder, deine Mutter, die für mich der Inbegriff einer Mutter war (und ist?). Sie steht mit fast achtzig Jahren auf der Bühne und schmettert mit ihrem „Off Track“-Chor aus Tübingen all die alten Songs von damals. Diese Songs – die Musik meiner Kindheit und Jugend – aus ihrem Mund? Ich fasse es nicht.

Sie verrät dem Publikum des Landestheaters, dass sie damals am Heizungsgriff die Tanzschritte geübt hat, dass die neue Musik Zeichen von Freiheit und Unabhängigkeit waren. Die amerikanische Sehnsucht ist bis in das Wohnzimmer einer gut situierten Familie gedrungen. Das muss wohl vor der Zeit gewesen sein, in der ich bei euch im Hause Gast war (oder spät abends). Wünsche, Träume, verborgene Sehnsüchte?

Rock und Pop. Deine Mutter hat einen „Chor“ ins Leben gerufen, die Sänger/innen sind 60-80 Jahre alt – „damals also“ waren sie jung – und sie singen und konzertieren seit fünf Jahren unter der Leitung einer Jazzsängerin. Sie stehen auf den Brettern der Welt, als wenn sie immer dort gestanden hätten. Lassen die alte Zeit aufleben, als säßen wir mitten drin, Gefühle werden hörbar, Sehnsüchte sichtbar… Das Niveau ist erstklassig und die Authentizität unverhohlen.

Alles habt ihr zu geben, nichts zu verlieren, das Leben ist bunt und voller Klänge – ich bin begeistert, beeindruckt, und wieder geht durch euch die Sonne in mir auf, so völlig unerwartet auf der schwarzen Bühne. Ich war aus Gefälligkeit gekommen und gehe reich beschenkt nach Hause. So wie ihr mich damals aufgefangen und verändert habt – so macht ihr es heute wieder, auf ganz gegensätzliche Art und Weise. „Off track“ – ein bisschen aus der Spur eben - das ist das echte Leben. Dieser erneute biographische Schnittpunkt kam wahrlich völlig unerwartet.

Sonntag, 9. Februar 2014

Biographien schreiben und lesen (I): Wenn sich das Leben schreibt und zur Biographie wird


Den Lebenslauf eines Menschen nennen wir Biographie. Die Geburt ist der Anfangspunkt, der Tod das Ende, das gilt für jeden von uns. Was aber ist es, was das Leben zu einer stimmigen, erfüllten, runden Biographie macht? „Bios“ bedeutet Leben, „Graphie“ Schreiben. Das Leben schreibt sich, es schreibt sich ein – in uns, in andere Menschen, in Kultur und Gesellschaft, in die Welt, die ganze Erde.

Schreiben bedeutet, dass etwas sichtbar gemacht und festgehalten wird, überdauert, und auch von Anderen gelesen werden kann – Schreiben ist eine freie Kulturtat. Im Fall der Biographie „geschieht es“ – das Leben schreibt sich, ob wir das wollen oder nicht, die Jahre vergehen, immer vorwärts, und das Leben schreibt und schreibt sich ein, in der ihr eigenen Sprache.

Lesen hingegen ist eine individuelle Hinwendung zum Geschriebenen. Das Leben lesen - wie lese ich mich und wie lese ich dich? Was gibt es überhaupt zu lesen, und was verstehe ich von dem, was ich lese, schreibe ich mein Leben in meiner Sprache, kann ich deine Sprache lesen? Das Leben zu lesen erfordert ein feines Bewusstsein.

Die äußere Biographie, der tabellarische Lebenslauf offenbart sich mitunter platt und naiv. Da gibt es Daten und Fakten zu Kenntnis zu nehmen: Lebensdaten, Wohnorte, Familienverhältnisse, Bildungswege, Arbeitsverhältnisse und vielleicht noch Auszeichnungen. Auf diese Art kann ein Lebenslauf auf einem DIN A4 Blatt dargestellt werden.

Aber es gibt auch die innere Biographie eines Menschen, da gibt es Freundschaften, Liebschaften oder gar Feindschaften, einschneidende persönliche Ereignisse, Reisen, Todesfälle, Begebenheiten aller Art, Brüche, Abgründe – all das gehört zu uns, zu unserer Biographie, all diese Schnittpunkte machen uns aus.

Als lebender Mensch stehe ich zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Himmel und Erde, als eigene Welt in der großen Welt, als Momentaufnahme im Zeitgeschehen. Ich lasse mich prägen und ich präge:

Mich prägen die Menschen um mich herum, meine Mitmenschen, die, mit denen ich auf der Erde lebe. Das sind Eltern, Freunde, Lebensgefährten, Kinder, Kollegen, Nachbarn. Auch von öffentlichen Menschen lasse ich mich prägen, von Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern. Und auch ich präge andere – je nachdem, was ich tue oder eben lasse, wie ich mich zeige oder gerade verberge, ob ich spreche oder schweige.

Mich prägt die Kultur, in die ich mich hineinbegeben habe, die Sprache, die mich umgibt, die Religion, in der ich aufwachse, die Schulen in die ich gehe, die Ausbildungs- und Tätigkeitsorte. Wenn ich am gesellschaftlichen Leben teilnehme muss ich mich in Asien anders verhalten als in Europa, im Islam anders als im Christentum, auf Deutsch anders als in Swahili.

Mich prägt die Erde, wie sie sich präsentiert, die Landschaft, in der ich mich bewege. Das Wetter ist auf Island anders als in Südeuropa, die Ausprägung der Jahreszeiten spielt eine Rolle, Berge, Wälder, Seen und Meere - oder eben die pulsierende Großstadt. Mich prägen Reisen in ferne Länder, dort zieht es mich hin und jenes Land stößt mich ab.

All diese Gegebenheiten sind prinzipiell für jeden da, die Welt, die Erde, das Leben bieten sich an. Wie aber kommt es, dass ich dieses mache und jenes lasse? Die Wirkungen von Mitmenschen, Kultur und Natur sind höchst individuell, sie machen die Unverwechselbarkeit aus, in die wir gestellt sind, wenn wir uns entschließen eine Weile auf der Erde zu leben – zu schreiben und zu lesen.

Das Konglomerat der Einflüsse ist gewaltig, manchmal reißt es uns in seinen Schlund, die Formen der individuellen Bedeutsamkeit sind unermesslich - nicht alles spiegelt sich gleich in unserem Antlitz. Wenn wir das Glück haben, dass unser Leben uns auf die Spur der inneren Freiheit führt, können wir (weitgehend) selbstbestimmt leben, eigene Entscheidungen treffen, das Leben schreiben, das uns zu schreiben obliegt. Man nennt das eine gelingende Biographie.

Aber wie entsteht sie, was trägt dazu bei und was verhindert sie? Welche Gegebenheiten habt ihr vorgefunden, welche Ziele euch gesteckt, was macht ihr mit und in euerm Leben? Mich interessieren besonders die Schnittpunkte – wie auch immer sie geartet sein mögen, ob sie zu Höhenflügen einladen oder in Abgründe stürzen lassen.

In der nächsten Zeit werde ich mich mit Biographien beschäftigen und das eine oder andere dazu beschreiben, damit Menschen gelesen werden können.

Sonntag, 2. Februar 2014

Dieses Mal in Bonn: Lorenzo il Magnifico


Die Kopf- und Schulterbüste von Lorenzo il Magnifico ist in Rottönen gehalten, die sich ins Braun und Violett neigen. Sie ist lebensgroß und präsentiert den ersten Bürger der Stadt Florenz am Ende des 15. Jahrhunderts. Dieser ist bürgerlich gekleidet, trägt die klassische Kopfbedeckung, den „mazzocchio“ und um seine Schultern ist ein lockerer Schal geschwungen.

Wimpern, Barthaare und Falten sind bei genauem Hinsehen sichtbar, sogar die Pupillen seiner Augen sind farblich angedeutet. Das kräftige Kinn steht ein wenig hervor, die Lippen sind fest verschlossen, die Unterlippe hat mehr Volumen als die Oberlippe. Darüber prangt eine kräftige Nase, die ihm jedoch, laut Legende, nicht zum Riechen zur Verfügung stand.

Braune Haare begrenzen das beeindruckende und unverwechselbare Gesicht auf beiden Seiten. Die Mütze hängt auf der einen Seite bis auf die Schultern, der Schal auf der anderen Seite über die Brust. Der Ansatz der Arme lässt vermuten, dass sie bei einer imaginären Weiterführung gerade am Körper herabhängen. Die Augen von Lorenzo sind geöffnet.

Es scheint, als schaue er auf seine Stadt, seine Freunde, auf schöne Frauen, vielleicht auch auf seine Feinde – auf das, was auf ihn zukommt und ihn umgibt. Gleichzeitig wirkt er sehr ernst, er schaut auch nach innen, in sich hinein und gleicht Äußeres mit Innerem ab, der Blick aus seinen Augen ist der Schnittpunkt der Lemniskate zwischen dem, was er sieht und dem, was er fühlt.

Neben der Büste liegt auf der einen Seite sein Verschlüsselungscode für geheime Briefe an seine Mitarbeiter in verschiedenen Bankhäusern und auf der anderen eine Gedichtsammlung mit Gedichten von ihm selbst, von Poliziano und Luigi Pulcci. Vor der Büste liegt eine Medaille, auf der sein Bruder Giuliano, der bei der Pazzi-Verschwörung ums Leben kam, und er zu sehen sind.

Was Lorenzo sieht (eine ganze Menge dynamische Verhältnisse) und fühlt (Verwirrung, Sanftheit und Sehnsucht) lässt die Büste erahnen, nicht aber, was er tut – seine Hände sind nicht zu sehen. Lorenzo, so erzählen es die Geschichten, war ein Mann der Tat, er hatte viele Zügel in der Hand und konnte auch manches, was unmöglich erschien, möglich machen. Lorenzo war ein mächtiger Mann.

Seine Totenmaske, die in Bonn nicht ausgestellt ist sondern in Florenz zu sehen ist, zeigt ein Gesicht, das sich von der Außenwelt abgewandt hat, seine Augen sind geschlossen. Was bleibt ist ein Abbild dessen, was zwischen irdischer und geistiger Welt gelebt hat – die einzige „Fotographie“, die es von Lorenzo gibt. Ein Mann, der sich mit 42 Jahren zurück gezogen hat, der nicht mehr weiter konnte.

Barthaare, Wimpern und Augenbrauen zeigen etwas vom Leben, das der Transformation anheimgestellt ist. Irdisches wird Geistiges und Seelisches schwingt dazwischen. Manches lässt sich auch heute noch auf der Erde erahnen, anderes hat sich im Universum verteilt. Diese Totenmaske macht betroffen, erschüttert und bekümmert.

Was bleibt ist die Frage, was übersehen wird, was sich hinter dem Glanz der aufbrechenden Renaissance versteckt, was durch die vielen Worte, Bilder und Skulpturen verschwiegen wird, was das Geheimnis zwischen mir und dir ist. Wo ist der Schnittpunkt zwischen Hell und Dunkel zu finden, warum wird der Blick auf das Offenbare gelenkt und die Sicht ins Unermessliche versperrt?