Montag, 25. November 2013

Christiane zu Salm: "Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben"


Die Aufgabe lautete in etwa: „Stellen Sie sich vor, dass Sie übermorgen sterben. Unwiderruflich. Schreiben Sie einen Nachruf auf sich selbst. Jetzt. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit.“ So erzählt die Autorin, wie sie darauf kam, mit Sterbenden zu sprechen und deren eigene Nachrufe zu veröffentlichen. Sie sprach mit Menschen, die auf Grund von Alter oder Krankheit kurz vor ihrem Lebensende stehen. Mit Menschen, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind, sondern ein „ganz normales“ Leben geführt haben.

Die eigenen Nachrufe, die die Sterbenden der Autorin diktiert haben, sind kurz, zwei, drei Seiten lang. Und sie enthalten das, was diejenigen, die kurz vor dem Tod stehen, über ihr Leben sagen wollen. Können. In der Retrospektive, die keine Änderungen mehr ermöglicht, keine Zukunft mehr beinhaltet, sondern nur noch den Blick zurück gestattet und manchmal danach fragt, was anders hätte laufen können, sollen.

Erste Sätze:
„Ich bin unendlich wütend. Sauer auf das Leben, sauer auf das Sterbenmüssen.“ „Der besondere Glücksmoment in meinem Leben war, als ich meinen dritten Mann kennenlernte.“ „Die einzig schöne Zeit in meinem Leben war meine Kindheit.“ „Ja, ich bin im Großen und Ganzen zufrieden mit dem, was ich erschaffen habe.“ „Ich bin Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, weil ich für mich die Freiheit in Anspruch nehme, mein Leben und Sterben selbst zu bestimmen.“ „Meine Rettung ist, dass ich frühzeitig Buddhist wurde, schon mit zweiundzwanzig.“

Sichtbar werden Menschen, die nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen haben, sondern die einfach da sind und sich ungeschönt über ihr eigenes Leben äußern. Offen, ehrlich, verzweifelt, verlegen. Im Leben sind wir es gewöhnt von anderen bewertet und beurteilt zu werden, in den Nachrufen geht es aber gerade darum, sich selbst zu beschreiben, sich selbst zu positionieren, manchmal auch sich selbst zu richten – der Nachwelt zu berichten.

Letzte Sätze:
„Es tut gut, dass es jetzt raus ist. Aber jetzt ist es auch zu spät.“ „Das Akzeptierenkönnen dessen, was ist, das ist das Geheimnis.“ „Sie sollen sich oft im Leben etwas trauen, vor allem sich selbst.“ „Denn nach dem Tod kommt sowieso nichts mehr.“ „Ich könnte Regine um Verzeihung bitten, und die Sache wäre vorbei.“ „Ich will weg, rin in die Grube und vorbei.“ „Bleibt mir bitte wohlgesonnen, auch über meine Zeit hinaus.“

Ein Buch von Sterbenden für Lebende, ein Buch über das Leben, gelebtes Leben. Ein Buch, das sichtbar macht, wie kostbar das individuelle Leben ist, wie kompliziert und auch wie phantasievoll. Zeitgeschichte wird sichtbar, gesellschaftliche Prägungen, Werte und Normen aus der Kindheit, die als Erwachsene verwandelt und individualisiert werden müssen, damit sie zu eigenen Werten und Normen werden, die aber nicht immer mit denjenigen der Umgebung zusammenstimmen.

Die Berichte rütteln auf und machen zugleich still. Was würde ich schreiben, wenn ich fünfzehn Minuten für einen Nachruf auf mich selbst hätte? Und was würde ich schreiben, wenn ich fünfzehn Minuten dafür Zeit hätte zu beschreiben, was ich in meinem Leben noch machen, erreichen, erleben und sehen will? Das Buch blickt zurück und hinterlässt mich als Leserin mit einem Blick nach vorne – das Leben gestalten und in die Hand nehmen, es könnte auch schnell vorbei sein.

Christiane zu Salm: Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben. Goldmann Verlag, München, 3. Auflage, Oktober 2013.

Montag, 18. November 2013

"Vögel mit Wurzeln"- Worte im freischwebenden Raum

Themen verbergen sich, Worte verweigern sich – die Stille umhüllt. Meine Gedanken wandern hierhin und dorthin, ich versuche einen Zipfel zu erhaschen, denke „ja, hier – da! – dort kann ich andocken, daran kann ich weitermachen“. Aber dann entschwinden sie wieder. Die Ideen, die Anknüpfungspunkte – Gedanken werden schal, schmecken lauwarm und verziehen sich in die Unkenntlichkeit.

Die leise Klaviermusik im Hintergrund versucht mich zu erreichen, lädt mich zum Träumen ein, klopft immer wieder zart an, wenn sich meine Ohren schlafen legen wollen. Aber auch die Klänge halten nicht vor, sie bilden den Hintergrund – ohne Vehemenz, ohne Risiko, ohne Entschiedenheit. Das Drama der Musik erobert mich nicht, ich nehme es als Alltagsgebrabbel. Wo bin ich?

Ich suche mich und schaue mich um, ob ich vielleicht irgendwo zu sehen bin. Höre mich um, ob vielleicht jemand von mir gehört hat. Aber da ist niemand. Ich könnte eine Suchanzeige aufgeben – just to know, where I am. Nur das, das Wo möchte ich doch gerne wissen. Physisch sitze ich natürlich hier. Das weiß ich schon. Aber eben rein physisch. Habe ich nicht in den Spiegel geschaut, mich nicht gekämmt oder geschminkt? Was erzählen meine Augen, wenn dein Blick…

Ich hatte mir vorgenommen zu schreiben, die Texte weiterzuführen, die im Leben mit fließen wollen. Aber vielleicht habe ich gar nichts zu sagen. Nur eine Sprache hat sich bei mir eingenistet, ein paar fremde Worte sind mir zwar bekannt, aber es ist doch nur eine Liebe, in der ich souverän handeln, schalten und walten kann. Das ist viel und wenig – ich bedaure es, nicht wirklich springen zu können. Aber vielleicht springt mir ja noch etwas in die aufgehaltenen Hände.

Wenn ich den Mut und die entsprechende Phantasie hätte, könnte ich Texte schreiben, die die Löcher zeigen. Die farbigen Rahmen von Momenten, die Brüchigkeit von Buchstaben, die sich nur noch mühsam aufrecht halten. Die den Glanz der Verlegenheit sichtbar machen, das tosende Durcheinander in den Zeiten der äußeren Stille. Die Konjunktur des Wortes Disziplin strebt wieder aufwärts. „Wo ein Wille ist, ist ein Weg!“ Wenn du nur willst, dann kannst du die Welt auf den Kopf stellen – du musst nur wissen, was du willst!

Daran glaube ich nicht mehr. Der Glaube an einen verborgenen Willen im Untergrund ist mir abhanden gekommen. Ich werde aufstehen und weitergehen – meine müden Augen offen halten. Die Straßenlaternen sind in den großen Städten bis spät in die Nacht erleuchtet. Das Schöne ist ja, dass es nur einen Weg gibt. Zwei Wege kann ich ja nicht gleichzeitig gehen. Der Weg ist der Weg ist der Weg. Und die Vergangenheit ist kräftig und stark. Was haben die Menschen nicht schon alles geschafft. Abgründe weggeräumt, Städte neu erbaut, eine Zukunft für unsere Vergangenheit erschaffen.

Weiche Worte erfüllen die Stille, beginnen sich zaghaft zu bewegen. Sie überdauern. Sind standhaft, in ihrer Zartheit – das mag ich sehr. Aber gerade deshalb gehe ich respektvoll mit ihnen um, keines soll sagen, es ginge ja nicht anders, wir wussten ja nicht… „Denn sie wissen ja nicht, was sie tun“. Das ist vorbei. Taugt nicht mehr als Entschuldigung. Auch wenn die klare Durchsicht manchmal Urlaub hat, so kann ich doch die Fensterputzer bestellen. Die Stille bietet Leere – und schenkt Moralität.

Vögel mit Wurzeln

Meine Worte sind Vögel
mit Wurzeln

immer tiefer
immer höher
Nabelschnur.

Der Tag blaut aus
die Worte sind schlafen gegangen.

Hilde Domin
aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, S. Fischer Verlag, 1987, S. 274.

Montag, 4. November 2013

Im Friedwald. Zum zweiten Todestag von Angela Albeck-Henke


Den ganzen Vormittag regnet und stürmt es. Dunkel, kalt und grau fegt der Herbst über das Land und kündet von dem, was da kommt. Doch dann reißt die Wolkendecke auf. Klar und blau wölbt sich der Himmel, hinter mir strahlt die Sonne, vor mir nieselt der Regen – ich fahre dem Regenbogen entgegen, er leuchtet vom einem Ende zum anderen und bringt die warmen Farben in die kalte Luft zurück.

Die Betroffenheit über deinen Tod ist noch immer da und der Kreis der Menschen groß, der daran Anteil nimmt. Wir treffen uns am Parkplatz und laufen durch den Friedwald. Bekannte und vertraute Gesichter treffen aufeinander, vom Sehen kennen wir uns mittlerweile alle – du verbindest uns. „Wie geht es dir? Was machst du? Wie hat sich dieses und jenes entwickelt? Wo stehst du in deinem Leben und was hat Angelas Tod mit dir gemacht?“

Die alten und großen Bäume schütteln ihre Kronen im Wind, die Herbstbrise fährt kräftig durch sie hindurch, lässt Blätter fliegen und macht deutlich, dass alles in Bewegung ist. Der Regen versiegt, es ist plötzlich hell und die Sonne scheint durch das restliche Blattwerk, der Boden ist nass und weich. Wir laufen den Berg hinauf, den Weg entlang, bis wir abzweigen müssen. Ein unscheinbarer Pfad führt ein kleines Stückchen den Hang hinab, zu deinem Baum, zu dir.

Die Gespräche verstummen. Wir bilden einen Kreis, dein Baum ist ein Teil von uns, wir nehmen dich auf, für einen Moment stehst du im Kreis der Lebenden. Es ist still. Nur der Wind singt sein Lied weiter. Die Betroffenheit verbindet und jeder ringt auf seine Weise damit Ja zu sagen. Aufs Neue Ja zu deinem Tod zu sagen, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Leben UND Tod gemeinsam anzuerkennen – und dennoch weiterzuleben.

Abschied genommen haben wir längst, wir sind keine Abschiednehmenden mehr. Der Baum begrüßt uns, die sich Erinnernden und beruhigt sogleich. Dein Baum, er steht und strahlt Beständigkeit aus. In diesem Jahr wirkt er anders als zuvor, er zeugt von Kraft und Leben. Die mächtigen Zweige sind sowohl nach oben als auch nach unten gerichtet. Er verbindet Himmel und Erde. Ein Baum unter vielen und doch ein ganz bestimmter, ein besonderer Baum.

Aufs Neue werden Erinnerungen geboren und geteilt. Verlegen, zögerlich, tastend, du stehst mitten unter uns. Einfacher ist es zu singen, zu beten – gemeinsame Worte auszusprechen. Du hättest das gemocht – oder, magst du es? Wir bringen keinen strahlenden Chor zusammen, aber die Bemühung klingt, die Melodie trägt, Tränen glänzen, Herzen werden berührt. Es ist schön und traurig zugleich.

„Du musst das Leben nicht verstehen…“ sagt Rilke in einem Gedicht. Still und langsam laufen wir durch den Wald zurück. Eine warme Ruhe umfängt mich. Ja. Es ist was es ist. Es ist gut. Irgendwie. Erst am Parkplatz geht es wieder um die irdischen Fragen, an die wir uns halten können: Wie lautet die Adresse, welcher Weg muss genommen werden? Bei Kaffee und Kuchen werden die Gespräche fortgeführt. Es sind weniger die Fragen, die nun leiten, sondern die Erinnerungen und Vorhaben, die Kreuzwege, die die Begegnungen bestimmen.

Die Erinnerung gebiert sich aus dem scheinbar Vergessenen, die Zukunft aus der Vergangenheit und dafür brauchen wir einander. Angela, das Leben geht weiter und du bist dabei. Dein Stern strahlt in der Dunkelheit der Herbststürme weit und hell.