Sonntag, 27. Oktober 2013

…eine Rose als Stütze. Verlierbare Lebende und unverlierbare Tote


Also gut, sage ich mir, es führt kein Weg daran vorbei. Ich fahre. Unterwegs versuche ich Raum für die Leere zu schaffen, mich auf das Loch vorzubereiten, offen zu sein. Aber schon nach wenigen Minuten schalte ich das Radio ein, ich brauche Ablenkung, halte es nicht aus. Weder weiß ich, was auf mich zukommt, noch habe ich eine Antwort auf die Frage. Keine Antwort, die die Zeit angemessen umfängt, die ihr gebührend gerecht wird - die Erzählung enthält offene Blätter, für mich höchstens unsichtbar beschriebene Seiten.

Ich bin nicht die einzige auf der Straße und doch allein, aber der Wind evoziert Leichtigkeit. Der Himmel ist gnadenlos und frech einfach blau, der Herbst bäumt sich auf, schiebt sich vor alles andere. Glutrote, braune, gelbe, grüne, ocker-, sand-, beige- und erdfarbene Blätter, überall fliegen sie herum und spielen sich auf, als wären sie Seifenblasen und dürften feiern. Flammende, feurige Farben bäumen sich in der Natur auf bevor erneut das Ende kommt. Der Tod, die Transformation – die Wendung nach innen.

Es gibt nicht nur eine Wahrheit, nur eine Bedeutung, alles ist vielseitig, polyphon, der gesamte Farbkreis präsentiert sich, Wahrheiten lassen sich nur in Quentchen erhaschen und bilden ein enigmatisches Konvolut. Gerade die klaren Bilder verschleiern gerne ihre Provenienz. Von welcher Seite aus darf ich schauen, mich einbringen, auch wenn ich dabei meine Wunden zeige? Heute habe ich nicht so viel Mut in meinem Rucksack stecken, sondern suche, wie so oft, einen Festpunkt im Nichts.

In der Ferne tauchen die Berge auf. Föhn. In der klaren Luft liegt der Dunst der Zukunft an der Schwelle zum Himmel. Wie die Umrandung eines Bildes stehen die Berge am hinteren Rand meines Horizonts. Sie geben Halt. In verschiedenen Grautönen stehen sie voreinander und umarmen sich gegenseitig. Sommersonnengaben liegen in ihren Herzen – sie werden sich wärmen, wenn es kalt wird und die löchrige Zeit kommt.

Sie ist um Jahre gealtert, ich sehe es sofort, unsere Begegnung kann nicht mehr sein als ein Sternenmoment auf dem stillen Ozean der Zeit, der sich überdauert hat, der vorwärts und rückwärts schiebt, drängt und eine lähmende Unruhe erzeugt. Klar ist: Er ist gegangen UND er ist da. Und klar ist auch: sie ist geblieben UND gleichzeitig weg. Wie kann ich das verstehen, was ist damit zu machen, wie einzubinden in das blutende Herz der Übriggebliebenen? Ich bin ratlos.

Sie setzt sich auf seinen Sessel, auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hat, und nur er. Sie sucht seine Nähe, die nicht mehr da ist, versucht seine Perspektive einzunehmen, was sie nie konnte, beobachtet die Vögel durch das große Fenster und fragt sich, wie es ihm dabei ging – denke ich mir. Seine Zeitungen liegen um sie herum – das Abonnement hat sie nicht gekündigt, eher hätte sie sich versündigt. Ob das geht, mit den Augen eines anderen zu lesen? Kann geistige Sehnsucht warm sein, offen und tragend, so dass sie neuen Lebensmut erhält?

Wir tippen diese Frage an und jene aber es entspinnt sich kein Gespräch, die klingende Melodie erstirbt in Brüchen, stille Momente lasten, wenn sie schwer sind, Worte gefrieren. Ich gehe in den Garten, atme die frische Herbstluft, und sehe dann die letzte blühende Rose an dem Busch neben der Terrassentür. Sie ist voll und farbig und blüht und zeigt sich in all ihrer Pracht – sie duftet und singt und stützt und ich weiß, dass er es ist, der durch sie Grüße bringt, uns allen.

Ob sie das erreicht, versteht? Er war ein leuchtender Fels, ein Anker zwischen Himmel und Erde. Ihr feines Geschick hat ihn vor mancher Attacke bewahrt – aber nun ist sie übriggeblieben, ohne ihn und sie weiß nicht mehr, wer sie ist, was sie soll. Auf die Idee, eine Rose anzuschauen, obwohl es schon Herbst ist, ist sie noch nicht gekommen. Die Toten sind unverlierbar, die Lebenden jedoch können umso leichter verloren werden. Ich fahre zurück, es ist dunkel und still, der Herbstwind hat sich gelegt und die Nacht senkt sich müde auf mein Haupt – zwischen Himmel und Erde.

(Zum Titel: „Nur eine Rose als Stütze“ ist ein Gedichttitel von Hilde Domin. „Verlierbare Lebende und unverlierbare Tote“ sind Begriffe aus dem Gedicht: Die schwersten Wege, ebenfalls von Hilde Domin.)

Sonntag, 13. Oktober 2013

Dinge (V) - Pfennige und Süßigkeitentüten


Die Kinderwelt und die Welt der Erwachsenen stehen einander asymmetrisch gegenüber. Ein Schnittpunkt zwischen den beiden Welten ist das Geld. In meiner Kinderwelt gab es Kinderhausfreunde, Hochhausfreunde, Schulkameraden und die Kinder von Freunden meiner Eltern. Die Kinderwelt war groß und abenteuerlich, vielseitig und ideologisch mal so und mal so geprägt. Je nachdem, in welchem Kontext ich wen traf, konnte dieses oder jenes gemacht werden. Die Erwachsenenwelt war eine für sich, die ich nicht immer verstand.

In der Hochhaussiedlung durfte ich mich mit meinen Schulkameraden frei bewegen. Im Wesentlichen bezog sich das auf die Schneise von unten, wo wir wohnten, nach oben, wo meine Schule, die Hufeland-Grundschule war. Wir wohnten in den Hochhäusern am Ring, innerhalb der Siedlung konnte man autofrei den Berg, der links und rechts von Häusern gesäumt war hochgehen und kam dann, in der Mitte des Weges, auf einen großen Platz. Ich glaube, dass es dort sogar einen Brunnen gab - das hat die Architektur Ende der 60er Jahre auch aus Beton hinbekommen – Bäume, Wiesen oder Büsche gab es mit Sicherheit nicht.

An diesem Platz, dem Koma-Platz, gab es im Erdgeschoß der dort stehenden Hochhäuser mehrere Geschäfte – was es in meinem Hochhaus nicht gab. Unter anderem gab es dort einen Uhrenladen, in dem meine Großmutter mir meine erste Armbanduhr kaufte, sie war blau – das weiß ich noch. Auch gab es einen Supermarkt, den Koma-Markt eben, einen Tabakladen, einen Zeitschriftenladen – und vielleicht noch mehr – jedenfalls gab es an der Ecke, an der wir vorbei mussten, wenn wir zur Schule gingen, da ging es noch ein Stück weiter den Berg hinauf, eine Bude.

Ja, so nannte man das damals im Ruhrgebiet – einen Kiosk, eine Trinkhalle, eben eine Bude. Und in dieser Bude überschnitten sich die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt auf eine unideologische Art und Weise. Wir Kinder durften, so wir die entsprechenden Geldstücke vorwiesen, Teil der Erwachsenenwelt werden – wir wurden als Käufer anerkannt. Man konnte in diese Bude hineingehen. Ich nehme an, dass es dort die üblichen Notfall-Produkte gab, die man so brauchen kann.

Für uns war aber nicht das Hineingehen interessant, Butter, Rasierschaum oder Klopapier interessierte uns nicht, sondern die Glasfront vorne. In der Mitte gab es ein kleines Fenster, aus dem der Verkäufer schaute und verkaufte. Und hinter der gesamten Glasfront, um das Fenster herum, waren durchsichtige Süßigkeitendosen aufgestapelt, in die der Verkäufer hineingreifen konnte, wenn wir…

Da gab es jede Menge Gummizeug, Colafläschchen, Teufel, Lakritzschnecken, Salzbrezeln aus Lakritz, kleine gefüllte violette und silberne Pastillen, Salmiakkugeln und Mausespeck aus Schaumzucker, Lutscher und Lollys, Colakracher und Brausetüten, süße Halsketten und Schleckmuscheln, Kaubonbons und mit Schokolade überzogene Karamelstangen oder bunt gefüllte Überraschungssortimente. An Schokolade erinnere ich mich nicht.

Alle diese kleinen süßen Dinge kosteten nur einige Pfennige. Und wenn man zehn, zwanzig oder sogar fünfzig Pfennige besaß, dann konnte man sich eine prall gefüllte Tüte zusammenstellen lassen. Gewissenhaft und geflissentlich bedienten uns die Verkäufer, in der Hoffnung, uns als Kunden zu erhalten, die später etwas finanzkräftiger zugreifen würden. In diesen Momenten war der Schnittpunkt das Geld, die Erwachsenen konnten sehr freundlich zu uns sein – jeder war auf seine Weise von Hoffnungen und Wünschen getragen.

Der Besitz einer selbst zusammengestellten Süßigkeitentüte, sie war weiß und aus Butterbrotpapier, war für uns Kinder der Himmel auf Erden. Wir spazierten quatschend und schmausend und des Lebens lustig durch die graue Betonwelt und malten uns aus, was wir später, wenn wir groß sein würden, wohl verkaufen könnten – in der Rangordnung ganz oben stand selbstverständlich der Süßigkeitenbudenbesitzer, auch wenn wir ahnten, dass unsere Eltern, zu welchem Lager sie auch gehörten, das möglicherweise übereinstimmend nicht als Priorität favorisierten.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Dinge (IV). Flügel und Abgründe


Ich war sieben Jahre alt und mitten im Zahnwechsel. Das war mein Glück – sonst wären Zähne zu Bruch gegangen. Ich hatte Rollschuhe bekommen. Rollschuhe, die man sich über die Schuhe schnallte. Vorne mit Gummilaschen und einer Schleife und um das Fußgelenk mit einem Lederband, das in regelmäßigen Abständen Löcher aufwies, damit der Stachel der Schnalle in genau jenes gedrückt werden konnte, das den Rollschuh fest an den Schuh drückte.

Die vorderen Gummilaschen und das lederne Band waren rot, die Schnürsenkel gelb, die Räder schwarz, das Gestell blechern. Die Rollschuhe waren neu, ich hatte sie von meiner Großmutter geschenkt bekommen und ich übte unermüdlich galant auf den zwei Mal vier Rädern zu fahren. Das war nicht einfach, ich fuchtelte ziemlich viel mit meinen Armen in der Luft herum, machte aber Spaß und gab mir das Gefühl, über mich hinauszuwachsen.

Vor unserem Hochhaus gab es einen breiten gepflasterten Weg, der zu einer abwärtsgerichteten Betontreppe führte. Sie mündete mit etwa dreißig Stufen auf den Parkplatz, auf dem all die Autos der Hausbewohner standen, und war ebenfalls gepflastert. Auf diesem Boden ließ es sich nicht wirklich gut fahren lies. Zwischen Parkplatz und Straße standen ein paar jämmerliche Büsche, auf einer schmal eingefassten und langgezogenen Erdfläche – dort endete unser Territorium, bis dahin durfte ich mich frei bewegen. Normalerweise.

Aber, mein kindliches Glück wollte es, dass sich die Ölkrise auf unser Land hernieder senkte. An mehreren Sonntagen im Herbst herrschte ein komplettes Autofahrverbot und somit erweiterte sich unser Bewegungsradius. Wir durften an so einem Tag auf der Straße Rollschuh fahren. Ihre Oberfläche bestand weder aus Kopfsteinpflaster, Betonplatten noch aus sonstigen unebenen Materialien, sondern aus glattem Asphalt. Wir machten es wie die Autos sonst, auf der einen Seite in die eine Richtung, auf der anderen in die andere und um die gebrochene Mittellinie übten wir das Slalomfahren.

Es war wunderbar – fast wie fliegen. Ich glaube, dass alle Kinder aus der Siedlung an diesem Tag das Rollschuhlaufen übten. Die mit neuen Augen betrachtete Straße um unsere Siedlung herum war zu einer Flugschneise avanciert, in die wir ein- und ausbogen, auf der wir schnell und langsam fuhren, Hand in Hand und allein, es war ein Fest. Und das: ohne Erwachsene. Die lehnten sich sonntagnachmittäglich auf den kinderfreien Sofas zurück, schrieben Diplomarbeiten oder diskutierten die bedrohliche Weltlage. Kurz, sie kümmerten sich nicht um uns.

Das Glück war bei mir, ich fühlte mich wie eine kleine Königin mit Flügeln. Aber auch das Unglück war nicht weit. Als es zurückging, nach Hause, über den Kopfsteinpflasterparkplatz, an unserem gelben R4 vorbei, die Betontreppe hoch. Aus irgendwelchen kühlen Gründen, ich weiß heute wirklich nicht mehr warum, bin ich nicht auf der rechten Seite, dort, wo ein Handlauf die Treppe hinaufführte, mit meinen Rollschuhen die Treppe hoch geklettert sondern links, ohne mich festhalten zu können.

Und irgendwie mittendrinn, auf dem Weg die Betonstufen zu erklimmen, rutschte ich aus, verlor das Gleichgewicht. Ich versuchte mich mit Händen und Knien zu halten. Aber ich stürzte mit der Oberlippe auf eine Stufenkante. Gerade dort, wo die vier oberen Schneidezähne fehlten. Auch Knie und Ellenbogen waren kräftig lädiert, aber Blut schoss aus meiner Lippe, knallrot und ohne Unterlass. Das brannte entsetzlich und schmeckte gleichzeitig süß.

Wie die Sache an diesem Abend ausgegangen ist, das weiß ich nicht mehr. Aber die Narbe fühle ich noch heute. Und manchmal, wenn ich versonnen und melancholisch bin, dann nehme ich die kleine Beule an meiner Oberlippe zwischen meine Zähne und denke daran, dass das Fliegen und das Abstürzen zusammengehören, so wie Glück und Unglück… Ich weiß gar nicht, ob ich je wieder Rollschuh gelaufen bin – schließlich dauerte die Ölkrise ja gar nicht lang.