Sonntag, 29. September 2013

Dinge (III). Alte Küchenmöbel - nach geschlagener Schlacht


Ich sitze in der Küche, trinke einen Espresso, wie so oft, und träume ein bisschen vor mich hin. Und auf einmal fühle ich die ermattete Müdigkeit um mich her, leise Stimmen flüstern etwas von besseren Tagen. Nur der bunte Herbststrauß auf dem alten Küchentisch versucht alles zu geben, was er hat – bunt strahlt er, auch er mit letzter Kraft - und versucht Leichtigkeit zu evozieren. Aber die Luft bleibt lau, Stille, Erschöpfung und Abnutzung übernehmen die Regie – ich sehe die Küchendinge.

Staub hat sich noch nicht abgesetzt, aber der kommt vielleicht bald. Die Ikea-Küchenmöbel neigen ihre müden, gebrauchten Häupter. Sie haben einen Jahre währenden Marathon hinter sich, der nun vorbei ist. Ein ermattetes Schlachtfeld nach geschlagenem Gefecht. Einst war das Equipment neu, stolz und präsentabel. Das ist Jahrzehnte her. Jetzt singt nichts mehr, sondern flüstert nur noch mit gebrochener Stimme – müde stehen die Dinge da.

Die Schränke haben ermöglicht, dass Tassen, Teller, Gläser, Töpfe und das ganze Zeug, was man in einer gut funktionierenden Küche so braucht, einen Platz bekommen. Den haben die Dinge noch heute. Alles steht da, still und stumm. Spuren sind zu sehen, es war einmal… aber die untersten Teller in dem Stapel wurden schon länger nicht mehr benutzt. Geschirr in Hülle und Fülle, Teller und Tassen in allen Größen, manch spezielles Gerät, die Pfanne der ersten Stunde und die Töpfe, in denen wohl schon alles einmal gekocht wurde.

Die Arbeitsflächen haben ihren Glanz verloren, ihre Würde aber in der Patina gewonnen, sie erzählt von Ereignissen, Geschehnissen, vom Leben: da ein Fleck, da eine Kerbe, dort eine Macke – noch ist die Lebenskraft fühlbar. Tagtäglich wurde gebraucht, benutzt, gekleckert und abgewaschen, zurückgeräumt und wieder hervorgeholt – manches ging zu Bruch. Die Küchenmöbel haben ihren Stolz verloren, denn der Zenit dieser Küche ist vorbei.

Einst lebten die Küchenschränke davon, ständig ein- und ausgeräumt zu werden. Nachts noch einmal Spaghetti für die heranwachsenden Jungs, Kuchen, Salate und feine Speisen für Feste und Geburtstage, ein kleines Frühstück am frühen Morgen, ein Glas Wein am Abend. Auch Malheure gehörten dazu, mal brannte etwas an, wurde zu viel gesalzen oder zu wenig gesüßt… Erste Versuche, vollendete Werke, aber vor allen Dingen: Alltag. Ständige Benutzung.

Gerüche und Düfte erfüllen den Raum. Unmengen an Lebensmitteln wurden verarbeitet und verspeist, tätige Hände, die zubereitet haben, vorbereitet, nachbereitet. Und das ganze immer umringt von Erzählungen, Gesprächen, von ein- und ausgehenden Menschen – vom sprudelnden Leben. Die Küche als Herz, im Schnittpunkt der Begegnungen.

Die Schubladen brauchten im Laufe der Zeit unterstützende Schrauben, damit sie nicht auseinander zu fallen drohten. Schön anzusehen waren sie nicht, aber sie lebten, pulsierten. Alles steht noch da, still und stumm – aber ihr seid weg. Kindheit und Jugend habt ihr mit dieser Küche verbracht, vom ersten Tag an! – jetzt lebt ihr in anderen Küchen, sitzt an anderen Tischen, esst von anderen Tellern.

Die Dinge sind da. Sie bleiben. Aber sie duften, tanzen und lachen nicht mehr so richtig. Vergangener Stolz prickelt einfach nicht. Sie entbehren Präsenz, sie wollen dienen, sich zur Verfügung stellen, nicht ruhen – die alte Zeit ist vergangen, die neue noch nicht da. Muss eine neue Küche her? Oder muss die alte zum Friseur? Respekt gebührt der Treue, das lebendige Leben der letzten Jahrzehnte schenkte eine Aura – die aber nur durch Menschen sichtbar ist. Sie braucht kontinuierliche Präsenz. Was also tun?

Sonntag, 22. September 2013

Dinge (II). Immaterielle Präsenz nächtlicher Besucher


Die Bettwäsche war rot-weiß-kariert. Die Karos knapp einen Zentimeter - würde ich schätzen. Und rot, ja, so richtig rot. Ich hatte mein Bett im Zimmer meines Bruders aufgeschlagen, eine Matratze auf dem Boden. Es war Besuch da – wir hatten Pflaumenknödel mit brauner Butter gegessen. Ich musste mein Zimmer frei machen – für Übernachtungsgäste. Bei meinem Bruder schlief ich gerne. Sein Fenster in der Hochhauswohnung ging nach hinten raus, dorthin, wo nicht die große Straße war, sondern die Menschen zu Fuss in der autofreien Betonwüste unterwegs waren.

Wir schauten noch lange aus dem Fenster, fantasierten über die abendlichen Schwärmer, die wir dort unten sahen und schliefen spät ein. In meiner Nacht, als es ganz dunkel und still war, kam eine große schwarze Spinne von der Tür zu meinem Fußende gekrabbelt. Auf die Matratze konnte sie leicht klettern, sie lag ja am Boden. Das Tier war groß, haarig – eklig. Was sollte ich tun? Ich war gelähmt – fast gänzlich. Mein Herz klopfte wild. Mit all meinem Mut schob ich meine Bettdecke ans Fußende, türmte sie dort auf – mit meinen Füßen und versuchte so die Spinne davon abzuhalten, meine Beine hinauf zu klettern.

Die Spinne verlief sich in den Falten der Bettdecke, der rot-karierten, so hoffte ich. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr. Hoffte nur noch. Und ich lag da und fror. Ich hatte einen Frotteeschlafanzug an, aber keine Strümpfe. Im Laufe der bangen, stillen und dunklen Stunden wurde es mir so kalt, dass ich meine Füße doch langsam unter den Bettdeckenwall schob. Erst als ich wieder tief eingeschlafen war, muss der Mut zurückgekommen sein, die Decke ganz zu benutzen – und zu ahnen, dass die Spinne vielleicht nur eine Traumgestalt war. Mein Bruder jedenfalls schien einen anderen Traum zu träumen - obgleich wir doch in einem Zimmer waren.

Eine andere nächtliche Begegnung fand in meinem Zimmer statt. Ich war allein. Möglicherweise war die Bettwäsche blau kariert – das weiß ich nicht mehr genau. Ich lag in meinem Bett und hörte die Autos auf der Straße unten, immer wieder fuhr ein Lichtschein durch mein Zimmer. Neben meinem Bett war die Tür, daneben ein Schrank. Den hatten meine Eltern gebaut, eine Stahl- und Stoffkonstruktion. In der Richtung meiner Füße war das Fenster, über die ganze Zimmerbreite - riesige Hochhausfenster.

Der Traum war tief und heftig, real und erschreckend. Vielleicht hatten mir meine Eltern das Buch „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler vorgelesen – ich kannte die guten und lieben Hexen, wusste aber auch, dass es böse gab. Eine der bösen Hexen war in mein Zimmer gekommen. Sie versteckte sich in meinem Schrank. Und ich wusste es genau, zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt würde sie herauskommen – und mich verhexen.

Aber ich schrie rechtzeitig nach meiner Mutter. Ich fürchtete mich und wollte nicht verhext werden. Mit stockenden Worten erklärte ich ihr, dass sich eine Hexe in meinem Schrank versteckt habe. Und da die „Tür“ des Schrankes doch aus Stoff war, konnte sie nicht abgeschlossen werden. Gleichzeitig überkam mich das verwirrende Gefühl, dass es ja gar keine echten Hexen gab. Oder doch?

Meine Mutter erkannte meine nächtliche Lage, erfasste, dass ich mich nicht sicher wähnte und rettete mich mutig. Sie öffnete beherzt das große Fenster zur Straße – sie machte es weit auf. Und dann ging sie mutig zu meinem Schrank, ergriff die Hexe, packte sie fest, lief zum offenen Fenster und warf sie weit hinaus. Schnell schloss sie das Fenster wieder – ich war gerettet. Sie sagte noch, dass nun nichts mehr passieren könne, denn die Hexe könne ja nicht durch geschlossene Fenster hereinkommen. Das beruhigte mich und ich konnte wieder schlafen.

Nicht nur die gegenständlich fassbaren Dinge spielen eine Rolle. Innen- und Außenwelt fließen ineinander, auseinander, miteinander. In der Kindheit noch mehr, als im Erwachsenenalter. Die Bilder sehe ich noch heute vor mir und die Erinnerungen an die gegenständlichen Ereignisse sind tief in mich eingebrannt. Dinge sind mehr als materielle Gegenstände, sie haben die Kraft, sich einen Weg in kindliche Herzen zu bahnen – dort ruhen sie, ein Leben lang und sind präsent.

Samstag, 14. September 2013

Dinge (I). Blechteller und ein Salzstreuer


Die gelben Teller leuchten. Das warme und satte Gelb strahlt noch immer. Und in meiner Erinnerung existieren die Teller und der Salzstreuer wie eh und je. Sie gehören zu mir, zu meinem Leben. Wo sie sich real befinden – oder ob es sie überhaupt materiell noch gibt, das vermag ich nicht zu sagen. Die gelben Teller sind aus Blech, aus gelb emailliertem Blech mit schmalem, schwarzen Abschlussrand, der die Welt des Tellers beschränkt. Für Essteller sind sie nicht groß, die Fläche erhebt sich am Rand und begrenzt sich selbst. Die erhobene Umrahmung beschützt das Essen, hält es zusammen und bewahrt es.

Der Salzstreuer ist aus Glas, viereckig, und hat eine gelbe, runde Blechhülle auf, durch die das Salz gestreut wird. Auch sie, gelb – so richtig gelb, mit kleinen Dellen, Datschen und Beulen versehen. Das weiße Salz teilt sich den gläsernen Innenraum mit einigen Reiskörnern – damit es nicht feucht und klebrig würde, wie man mir sagte. Immer wieder fragte ich mich, wie es den Reiskörnern wohl mit dem Salz geht, ich stellte mir das Leben, wenn man so von allen Seiten eingesalzen wird, ziemlich streng vor.

Jeden Tag aß ich von den gelben Blechtellern. Sie waren gleichzeitig normal und besonders, und sicherlich auf kaum einem anderen Mittagessentisch zu jener Zeit zu finden – vielleicht eher im Campingurlaub. Woher sie kamen weiß ich nicht, vielleicht von einem südfranzösischen Markt. Auf jeden Fall brachten sie die Sonne mit. Wenn ich in die Küche kam, leuchteten sie mir in ihrem satten Sonnengelb vom Tisch entgegen. Der Tisch bestand aus einer schwarzen und einer weißen rechteckigen Marmorplatte, die auf einem Stahlgestell lagen – einer recht kühlen Angelegenheit also.

Der gelbe Salzstreuer stand in der Mitte des Tisches und wanderte bei manchen Mahlzeiten von Teller zu Teller. Die gelbe Blechhülle näherte sich den gelben Tellern, berührte sie aber nie. Ich hatte das Gefühl, dass die Teller die Nähe des Salzstreuers brauchten, sie bekamen Nahrung von ihm. Für mich gehören sie zusammen, Teller und Salzstreuer. Schon auf Grund der leuchtenden Farbe. Darum kam es auch manchmal dazu, dass das Salz vermisst wurde.

Und es fand sich, wie meistens, eben nicht bei den Gewürzen, sondern im Geschirrregal. Dort thronten Schüsseln, Schälchen, Teller, Brettchen, Becher, Tassen, Gläser, die von beiden Seiten des Regals, das mitten in der Küche stand, darauf warteten, gebraucht zu werden. Und mitten in den verschiedenen Ansammlungen aus allerlei Farben und Materialien, meistens direkt in unmittelbarer Nähe zu dem Stapel der gelben Blechteller, stand das Salz. Es suchte die Geborgenheit der Farbe und fühlte sich dort wohler, als bei den Gewürzen – wie ich fand.

Wenn die gelben Blechteller aufeinander gestellt wurden, ergaben sie einen kompakten Stapel. Die Teller passten exakt aufeinander und ließen keine Zwischenräume. Ihr Gewicht war übrigens beträchtlich. Ganz im Gegenteil zu dem unscheinbaren Salzstreuer, der leicht wie die fliegenden Salzkörnchen war und locker und leicht von Hand zu Hand gelangte. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch wurde er benutzt – angeschaut, angefasst. Manchmal drei Mal täglich. Ein Ding eben, man nennt es wohl „Alltagsgegenstand“ – aber ein liebgewonnenes.

In meiner Innenwelt existieren die Dinge. Noch. Und ganz bestimmt. Nah und warm. In meiner Außenwelt nicht. Alle die Menschen, die damals mit uns gegessen haben, sind diesen Dingen auch begegnet. Welche Bedeutung sie für sie haben, weiß ich nicht, vielleicht gar keine. Heute sind die Teller meines Lebens weiß – und bedeutungslos. Die Salzstreuer ohne Reiskörner und austauschbar. Was ist es, was die alltäglichen Dinge der Kindheit so unangreifbar und bedeutsam machen?

Samstag, 7. September 2013

Nach Worten tasten. Und Ausschau halten


Wenn du zu meinem Romanfigureninventar gehören würdest, dann wärest du diejenige, die immer wieder aus dem stillen Nichts in die Explosivität des Augenblicks treten würde. Deine Hände verraten es, sie sind zart und fein und stark und ausdrucksvoll. Deine Finger begleiten deine Worte, ja sie ziehen ihnen Mäntel, Hosen oder Hemden an. Sie geben ihnen Eloquenz, Grazie und Anmut. Wort, Blick und Geste ergeben eine Gesamtkomposition, die dem Augenblick zürnt und der Ewigkeit dankt.

Überraschend das Treffen. Menschen und Themen verbinden uns. Und sie werden direkt am Bahnhof herbeizitiert und laufen erst einmal zwischen uns. Die Anderen müssen kommen, um unsere Begegnung zu ermöglichen, sie leiten, tragen und irritieren. Die Anderen sind nicht da und doch gehen sie zwischen uns – wir brauchen sie als Gesprächsthema. Und so kreiert sich eine Welt, die den Alltag weich fallen lässt, wie eine reife Tomate, die auf die Erde plumpst. Wahrnehmen heißt gleichzeitig mitnehmen.

Du erzählst und die Anderen verschwinden gänzlich. Du erklärst, beschreibst und fragst. Du redest nicht mit Worten, sondern mit Blicken. Du belauschst dich selbst, willst dir auf die Spur kommen, du fragst dich frei und genießt die laue Luft, die sich heute ohne Ecken und Kanten zur Verfügung stellt. Wir genießen das Essen. Der rote Wein entfaltet sein Aroma – ein prächtiger Abend. Die Weltgeschichte stapft an uns vorbei, aber die Vergangenheit interessiert uns nicht. Wir wollen wissen, wie sich die Zukunft aus der Gegenwart gebiert.

Es geht um Glück. Bin ich glücklich? Du? Wen oder was brauchen wir dazu? (Und warum?) Glück lässt sich weder konzipieren noch konstruieren, ist lebensnotwendig aber leicht entzündbar – es kann verpuffen, entschwinden im Nichts. Wie lässt sich fassen, was nicht zu fassen ist, bewahren was nicht zu bewahren ist. Du suchst das Glück. Und du hast ein Recht darauf. (Warum auch nicht!) Aber es ist geheimnisvoll, denn… ja, was? Ja selbst mit Worten lässt sich Glück nicht bündeln, nicht ein- oder entkleiden, nein, das Glück ist selbstbewusst, eigensinnig und unergründlich.

Und wir fragen nach Sinn. Ich zitiere: sinnvoll, sinnlos, sinnreich, sinnentleert, sinnfällig, sinnwidrig, sinnlich, sinngemäß, sinnerfüllt, sinnentstellt, sinnbildlich… Aber das hat keinen Sinn, das führt uns nicht weiter. Der Sinn - wie das Glück - ein Gefühl das kommt und geht, dem wir aber so gerne habhaft werden wollen und das einst dem Tod Rechenschaft ablegt: Machte ihr Leben Sinn? (Oh je, sind wir schon so weit?) Ich erinnere mich nicht mehr. Aber noch heute spüre ich das Gefühl, dass unser Gespräch sinnvoll war, denn es führte nach oben zu Gedanken und nach unten zu Taten…

Also gut. Wir versuchen es mit der Zukunft. Wie sieht sie aus? Und vor allem: wie soll sie aussehen? Du ringst mit dir. Ja und nein kreuzen sich. Du willst es weitermachen, weißt nicht wie, machst es so, und vielleicht morgen so. Es gibt Gründe nichts zu ändern. Und doch rankt sich der Wunsch aus der Gewohnheit heraus - es anders zu machen, neue Schritte zu wagen. Doch wie das Alte fallen lassen, wenn das Neue noch nicht greifbar ist? Es nährt sich nur aus der Hoffnung, dass etwas entsteht, die Ahnung, sonst so zart und fein, stellt sich auf und behauptet sich.

Wir kommen zurück zum Netz. Zum Netzwerk aus Menschen, zu dem auch wir gehören, Menschen, die suchen, einander suchen, die ahnen, wollen und träumen. Sinn gebiert sich aus der Begegnung – wenn sich Gedanken und Taten verbinden. Wenn Chancen nicht unversucht verstreichen - zu bequem sind, um aus dem Trott auszubrechen - wenn Ziele wie klare Sterne am Himmel stehen, dann transformieren sich Welten und werden neu. Die Dinge groß sehen und einander die Hand reichen, um weiter zu gehen, der Vernichtung entzogen, der Nachhaltigkeit im Zwischenmenschlichen geweiht.

Glück und Sinn und Zukunft und das Netzwerk sind Vokabeln der letzten Begegnung, die sich nur schwerlich entschlüsseln ließen. Bei der nächsten wird es um Vorsätze und Entschlüsse gehen – das gebietet die Redlichkeit. Wir werden weiter mit Worten tasten und Ausschau nach Lösungen halten, die es vermutlich nicht geben wird – das wissen wir schon. Und dennoch, ich freue mich darauf!

Sonntag, 1. September 2013

Zurück. Im beengelten Raum


Als sie die Tür öffnete, sah sie es gleich: Es war viel zu tun, diverse Papierstapel warteten auf sie – unschuldig sahen sie aus. Und so blickte sie lieber aus dem Fenster und lies den Traum noch einmal Revue passieren. In aller Ruhe fand darin ein Aufstand statt, die Ziele lagen enthüllt auf dem Tisch, die richtungsweisende Stimme offenbarte sich durch Handzeichen und viele Menschen standen um den Brunnen, von dem etwas ausging – allemal ein Klang. Ihr Herz schlug gleichmäßig, allerdings etwas fester. Es war etwas daran, sie vernahm den verwirrenden Ruf wieder.

Als das Telefon klingelte, spürte sie den Riss. Den feinen Riss, der sie zu zerbrechen drohte, er verlief mitten durch ihr Herz. Irgendetwas in dem Ton des Klingelns und dem des Risses mussten miteinander korrespondieren. Gefahr schien nicht zu drohen, aber Aufmerksamkeit war geboten. Sie rüstete sich, prüfte, ob sie alles dabei hatte. Am wichtigsten waren die kleinen Dinge, mit denen sie die Verbindung zur Welt aufrecht erhalten könnte, wenn es denn nötig sei – so etwas hatte man damals noch nicht, der Fortschritt hatte also etwas gebracht. Sie war aufbruchsbereit. Wie fast immer.

Aber ihr Blick verlor sich in den Schäfchenwolken, die den Himmel zu umschlingen versuchten, rastete einen Moment in der Baumkrone und wurde dann von dem großen Strommasten angezogen, der sich schwarz und gewaltig gegen die Ferne abhob. Dort bewegte sich etwas. Wie ein Scherenschnitt sah es aus. Schwarze Linien, etwas sich Hebendes und Senkendes, Trag- und Abspannmasten, Freileitungen und Leiterseile. (Woher kannte sie die Fachausdrücke?) Und es bewegte sich noch mehr, Menschen. Dort oben. Wahrscheinlich Männer. Echte Helden. Ein bizarrer Ausschnitt.

Ihr Computer fuhr hoch. Es dauerte. Der Anruferin hatte sie weiterhelfen können. Immerhin. Sie machte sich eine Liste. Schloss die Augen. Und sie wusste, dass es dieses Mal kein schaler Text werden würde, sondern ein exotischer – mit Pfeffer, Kardamon und Ingwer versehen, denn die Sonne glühte noch in ihr. Sie war allein. Das wusste sie. Und irgendwie nahm sie das auch an. Sie war patent, wusste, wie mit einem Riss zu leben ist. Also setzte sie die Worte auf den Bildschirm. Die Zeit, sich handschriftlich zu äußern und einander postalisch etwas zuzusenden, schien endgültig vorbei zu sein – obwohl ein echter Brief doch so etwas Schönes war.

Als es klopfte war die Überraschung groß – Vorboten dessen, was kommen würde und Nachwehen dessen, was gewesen war verbeugten sich vor ihr. Fast schien es ihr, als könnte sie die Zeit sehen. Zeit, die im Kommen war, Zeit, die vergangen war und Zeit, die sich wie eine Spirale um sich selbst drehte: der Moment. Jeder Mensch hat sein Zeitkontingent, das vor ihm ausgebreitet liegt oder um seine Gestalt geschlungen ist. Und wenn sich Menschen begegnen, dann berühren die Rationen einander. Private Zeit gibt es nicht und doch ist das Erleben individuell, denn Quelle und Bestimmung schwingen ineinander. Individuum und Welt gehen auseinander hervor…

Die Schatten, die sich in Kindheit und Jugend leise und fast unmerklich aufeinander legen, bilden das Bett des Lebens, auf manchen lässt es sich weich schlafen, manche knistern wie Papier. Sie schließt das Fenster, fährt den Computer herunter, schaltet eine Anrufweiterleitung und verlässt den Raum. „Der Tau auf der Rose. Wer berührte sie vorher? Vor der Nacht.“ (Meret Oppenheim) Inmitten der Stunden des Tages nimmt die Liebe sie auf und tröstet den Moment – auch Strommasten passen in ein gerissenes Herz, wenn der Himmel blau ist und die Sonne glüht – ihr Zeitkontingent nimmt sie mit und verlässt den beengelten Raum.