Dienstag, 30. April 2013

Von der Angst. Und einer Schattenblume der Verlässlichkeit


Du hast gesagt, dass du manchmal Angst hättest. Und das verstehe ich, denn ich kenne die Angst, die Unwägbarkeit, das Imponderable. Oft kommt die Angst schleichend daher, sie ist verwandt mit der Furcht und der Beklommenheit, und sie nutzt die unbemerkten Momente, um Obdach zu fordern. Sie fragt nicht, denn sie weiß, dass sie abgewiesen würde. Nirgends wird er gern gesehen, der ungebetene Gast. Still und leise schleicht er sich an und versucht einen Ort für sich zu erobern. Das Angstland bietet keine gute Lebensgrundlage.

Manchmal steckt die Angst in meiner Hosentasche. Und manchmal klingelt sie wie ein Telefon in einem leeren Haus. Niemand nimmt den Hörer ab und nach einer Weile verklingt der schrille Ton des Auffuhrs, er weicht der Unruhe, bis das Klingeln erneut anhebt. Ihr Gesicht ist farblos, ihre Macht unsichtbar. Schnell wie der Wind kann sie kommen und gehen, auf leisen Sohlen oder in festen Stiefeln.

Und wenn sie sich Zutritt verschafft hat, dann wird der Klang der Sterne im Inneren von einem leisen Knistern begleitet. Es klingt hohl und leer, ist kalt und erschreckt. Flüsternd erschüttert das Knistern das ruhige Gewässer. Es kommt ungelenk daher, wie die Angst selbst. Und je nachdem wie breit die Tür ist, durch die sie schlüpfen, die zischelnden Gesellen, erfüllen sie den Raum. Angst besteht aus Angst, aus nichts als Angstpartikeln, die sich ängstlich aneinander festhalten, damit sie sich nicht auflösen und über dem bodenlosen Abgrund schweben.

Angstblumen entstehen und vergehen, sie leben versteckt. Und manchmal auch verdreckt. Die Quelle der Angst liegt in einem anderen Land. Dort, wo es Ordnungen gibt, die durchbrochen werden. Wo Regeln und Vorsätze herrschen, die keine Abweichung dulden. Wo die Sonne scheint und hemmungslos vom Himmel knallt, die Klarheit dominiert und die Nacht verboten ist. Das grelle Licht gebietet Gehorsam. Es schafft einen Glanz, der scharf und schneidend wirkt. Zwischen Himmel und Hölle der Mensch, der seine Seele zum Schauplatz macht, damit die Kräfte einander messen.

Die menschliche Seele, ein Ort für die Angst. Aber ihr Ursprungsort liegt zwischen den Dingen, die sich aneinander reiben wie Schmirgelpapier, und nicht wissen, wie sie zueinander passen, ineinander gehören. Angst macht wachsam, sie stört das träumerische, trügerische Gleichmaß, in das wir uns flüchten, um den Alltag zu ertragen. Angst kann piksen, wie Nadelstiche, oder sich wie ein grauer Nebel auf das Gemüt legen. Die Angst will erlöst werden -

vom Schatten der Zeit. Schattenblumen wuchern wenn die Angst regiert. Aber zum Regieren ist sie gar nicht angetreten, sie versteht sich selbst als Gradmesser, als Maß des Einen und des Anderen, als Brücke zwischen Gestern und Heute, zwischen dem Dunkel und dem Licht. Denn Angst kann uns tragen, von einem Ufer zum anderen. Ihre Gebärde ist Sehnsucht, sie will anerkannt werden. Bloß weil sie geheimnisumwoben versteckt, will gerade sie entdeckt werden.

Die Angst will sich verbinden mit der Achtsamkeit, scheu und bescheiden, sie will eine Allianz bilden mit der Vorsicht und der Wachsamkeit. Sie will Freude werden, Sicherheit und Verbindlichkeit. Sie will ihre eigene Enge und Beklommenheit weiten, taktvoll ins Licht treten und sich anmutig anbieten, als Brückengeländer vom Ich zum Du. Dann begleite sie aus der Verlorenheit in die Weite, und heiße den Gast willkommen. Er wird dir zeigen, was er ist, was er kann und was er will.

Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

Rose Ausländer

Montag, 22. April 2013

Island. Wenn die Erde spricht und der Wille des Menschen gefordert wird


Gen Norden
Vor ihr liegt die weite Steppe. Noch grau, kraftlos und müde, die Wut des Winters hängt in jedem Grashalm, ermattet neigen sie sich der Erde zu. Am Horizont erhebt sich der Berg, sanft wie ein Schneehügel sieht er aus, Wolken umspielen den Gipfel, ihr Auge kann nicht unterscheiden, wo das Wasser sich als gefrorener Teppich zeigt und wo als schwindelnde Watte im Blau des Gewölbes. Das kalte Weiß der Erde und das unerreichbare des Himmels verbinden sich hier und gehen ineinander über. Darunter grollt die Hölle, es bereitet sich etwas vor, der Ausbruch des Vulkans kündigt sich an.

Stoisch weiden die Pferde. Suchen nach Nahrung im alten, glitschigen Kalt. Müde erhebt sich der Blick der Alten. Doch die Fohlen nehmen die Schwere nicht an, sie traben, trotten, tölten. Erfreuen sich der Freiheit im Gespann, das eine zottiger als das andere, treu suchen sie die Nähe zu den Menschen. Der Wind streift ihnen durchs braune Fell, lässt die Mähnen flattern und erweckt ihre Neugier Tag für Tag – ob Sonne, Schnee oder Nebel. Sie sind gewillt die Lasten zu tragen.

Gen Süden
Die kleine Kapelle steht dort wie ein Spielzeugauto, mitten auf der Ebene – das Nichts ringsumher. Menschen zeigen sich hier selten, aber der Wasserfall tost unumwunden. Das kalte Nass donnert die Schlucht herab, Jahr für Jahr schmelzen die Gletscher, erfrieren erneut und zerfließen dann wieder. Das Wasser ist eisig und erfrischt die Gemüter. Wenn die Sonne sich zeigt, erhebt sich ein Regenbogen und lässt Hoffnung erwachen. Farben werden geboren und Verbindungen lassen sich erahnen, bis erneut die Asche fällt.

Dort, wo der Schwefel ans Licht kommt, wächst Grün und Orange aus der Stumpfheit hervor. Diese Farben leuchten im Dampf des heißen Gewässers, der den Himmel zu erreichen trachtet. Immer wieder versucht er‘s aufs Neue. Die tiefe Hitze der Erde schenkt sich der Kälte. Versöhnung von Luft und Wasser, Himmel und Erde – das gewaltige Schauspiel ununterbrochen, über Jahre und Jahrhunderte.

Gen Osten
Sie stapft über das unerschrockene Moos. Dazwischen Steine, grau, braun, schwarz - große und kleine, harte und leichte, immer wieder Pfützen, ein Bach, nie weiß ihr Fuß, worauf er treffen wird, wenn er sich neigt und neuen Halt sucht. Lang ist es her, dass hier die Lava geflossen ist. Das Leben ergreift erneut Besitz. Die knurpeligen Pflänzchen sind mutig und zäh und vorallem bescheiden. Flüsternd erobern sie Nahrung und geben sich mit wenig zufrieden. Auch diese Ebene ist weit. Voller Unruhe stellt sie sich dem Wind, der ihr nichts anhaben kann.

In der Ferne ragt der schwarze Berg auf. Erloschen und leer liegt das Feuer im Geröll der Zeit versunken. Was einst loderte, zischte und brodelte ist nunmehr zu einem erkalteten Mahnmal mutiert. Kalt, trocken, still aber heftig. Wer weiß schon, was die Erde bewegt, warum sie immer wieder zornig wird und das Innerste nach außen schleudert, um zu transformieren was nicht bleiben kann wie es war. Nur der erkaltete Krater hat die heiße Flut aus dem Erdinneren überlebt. Wie ein Gerippe trotzt er der Zeit.

Gen Westen
Die tosende Gischt bricht sich am Ufer. Blau ist das Wasser, unendlich und kraftvoll. Steil ragen die Felsen empor, tonnenschwer und doch leicht wie der Wind. Zu Gesten erstarrt, die ihr den Atem stocken lassen, zeigen sich die Kräfte, die einst die Schwere bewegten. Ihre Nachrichten schreien die fliegenden Gesellen in die offenen Lüfte. Und landen gekonnt auf den Spitzen der Steine. Hunderte, Tausende sind es, die zusammengehören und gemeinsam ihre wachsamen Runden drehen. Zusammen werden sie eins, fliegen dem Himmel entgegen und kommen zurück, setzen einzeln an der Steilküste auf, als gäb es die Fläche nicht.

Der Hafen ist klein. Schwarz und Blau treffen aufeinander. Schiffe und Menschen sind aneinander geknotet, wenn sie die schützende Mauer verlassen. Der Fischfang ist nötig, um das Überleben zu sichern. Die Gischt peitscht gewaltig, wenn der Wind sich nicht schlafen legt. Doch die Nacht ist still – über Wasser, Stein, Steppe und Geröll – wenn der Himmel erglüht, die Nordlichter tanzen und die Botschaften am Horizont funkeln. Himmel und Erde treffen aufeinander und wollen erkannt sein, im Willen des Menschen.

Sonntag, 14. April 2013

Ein Stück Pappe, meine Großmutter und ich


Zum Abschied am Bahnhof in Dorpat begleiten sie nur die Mutter, das Kindermädchen und der Kofferjunge. Dagmar Schulz, mit ihrem nicht gerade riskanten Namen, spürt den frischen Wind, endlich ist es soweit. Der Wunsch war 1917 entstanden. Damals wurde sie einundzwanzig Jahre alt, das ist verbrieft und die Urkunden belegen es. Die Revolution brachte für Estland die Unabhängigkeit und damit war es wieder möglich, den Blick von Osten nach Westen zu richten. Der geliebte Zar hatte abgedankt, stattdessen wurden Stromkabel durch das Land verlegt.

Ich lebe seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Meine Stadt im Ruhrgebiet ist im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden. Auf dem Brachland der Trümmer wurde sie neu erbaut, nicht mehr als ihren Namen hat sie behalten. Schnell, hoch, funktional, überall Beton. Alles aus dem Boden gestampft. Der Blick aus der Küche meiner Kindheit fällt auf das ziegelrote Opelwerk. Ich kenne nichts anderes als arbeitende Menschen und Autobahnen.

Seit Generationen lebt die deutsche Familie im Baltikum. Nun fährt sie, die junge, neugierige und doch scheue Frau nach Berlin, in die Reichshauptstadt. Ihr Herz klopft mächtig, denn sie ist allein und die Fahrt weit. Sie will die Welt fotografisch einfangen, für sich erobern, so ist es den Unterlagen in der grünen Kiste zu entnehmen. Immer wieder stellt sie sich verwegene Aufnahmen von Frauen vor. Die Recherche ergibt, dass 1890 die „Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins“ eröffnete. Sie war weltweit die erste Ausbildungsstätte im Bereich der Fotografie für Frauen. Und das in Berlin. Genau diese Schule ist der Ort ihres Begehrens.

Bei uns geht es beim Essen um Politik, den Umsturz der Gesellschaft und die Demo am nächsten Samstag. Auch mein Leben ist von einer gesellschaftlichen Erschütterung bestimmt, fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution, etwas westlicher und aus anderen Gründen. Alten Geschichten habe ich in meiner Kindheit ungläubig zugehört – es soll Zeiten gegeben haben, in denen „Deutsche“ in ganz Europa zuhause gewesen sein sollen. Es soll ein Land gegeben haben, in dem es im Sommer nachts kaum dunkel wurde, in dem es Birken gab und Blaubeeren… Zeiten, in denen die Menschen viele Sprachen beherrschten - mit dem Kindermädchen Estnisch, mit den Eltern Deutsch, in der Schule Russisch, mit dem Besuch Französisch… Meine Großmutter hat mir nicht alles erzählt.

Ihr Vater, obgleich selbst Fotograf, war entschieden gegen die Erfüllung ihres Berufswunsches, er will seine jüngste Tochter noch immer standesgemäß mit einem Deutschbalten in Estland verheiraten und hält nichts davon, dass Frauen überhaupt Berufe ergreifen. Er ordnet also an, dass die Tochter zunächst eine hauswirtschaftliche Ausbildung zu machen habe und zwingt sie mit väterlichem Gebot in die Knie. Hie und da darf sie in seinem Atelier helfen – aber nicht an den Apparaturen, sondern bei der Einrichtung der Requisiten. Dagmar Schulz erträgt es kaum.

Ich mache mich auf den Weg, um meinen Vorfahren nachzuspüren. Als Kriegsenkel suche ich Wurzeln – denn ich selbst kenne so etwas wie eine gewachsene Verlässlichkeit eines Ortes nicht. Heimat, was soll das sein? Menschen und Orte wechseln, nichts hat Bestand. Die Reise mit dem Zug führt weit in den Osten, die Anzahl der Birken vervielfacht sich. Es ist Sommer und ich träume durch das Land. Ich verstehe die Sprache nicht, sehe aber Klänge, höre Landschaften, fühle Vergangenes, rieche alte Geschichten und fahre über den sandigen Boden, der Blut aus dem Osten und dem Westen aufgenommen hat. Die grünen Ufer der Seen schweigen und laden grußlos zum Verweilen ein. Ich folge den Gleisen der Eisenbahn mit meinem Blick, denn die Ebene verbirgt ihre Geheimnisse nicht.

Das schöne Reh gibt allen Herren, die sie anlächeln, eine abschlägige Antwort. Äußerlich fügt sie sich in ihr Schicksal, innerlich lässt sie nicht davon ab und verfolgt ihren Plan. Sie wird einmal einen Hosenanzug tragen! Und dann, irgendwann, ist es soweit. Der Vater kann ihren Willen nicht brechen, aber auch nicht mit ansehen, dass sie einzuknicken droht, sie bekommt seinen Segen und macht sich auf den Weg, verabschiedet sich am Bahnhof. Sie reist aus der Vergangenheit heraus, meiner Zukunft entgegen.

Ich erreiche die Ostsee am nördlichen Zipfel des Landes. Als der Fischer in den Hafen zurückkehrt, verkauft er mir seine Beute. Viel zu viel, wie werde ich das alles am Feuer verarbeiten? Aber die Geste des Mannes ist groß und voller Herzlichkeit - wie kann ich sein Angebot abschlagen, zumal ich der Landessprache nicht mächtig bin? Ich befinde mich in einem neuen Kapitel meines Lebens. Am Dienstag wage ich mich in die erste Stadt. Zunächst nach Tallin, meine Großmutter hatte es immer Reval genannt. Die Altstadt nimmt mich an, ich füge mich ein, fühle mich irgendwie angenommen - in der Bernsteinstadt. Die Häuser um mich herum präsentieren alten Stolz. Es ist noch immer Sommer und ich trinke mein erstes Bier. Gerstenbier, in einem tönernen Krug. Da die Nächte kurz und die Tage lang sind, erliege ich dem offenen Himmel am Strand und gebe mich ihm hin.

Nach drei Jahren der Ausbildung, Dagmar Schulz hat das Leben in Berlin in vollen Zügen genossen, ist es soweit, die Absolventinnen dürfen ihre Abschlussfotografien, die prämiert werden sollen, vorbereiten. Dafür werden sie, samt ihrem Equipment, auf eine Reise geschickt. Noch immer müssen die Fotografien auf dicke Pappen aufgezogen werden und auf der Rückseite werden Name und Adresse des Ateliers in geschwungenen Lettern und graziös vermerkt.

In Tartu, meine Großmutter hatte immer von Dorpat gesprochen, steige ich aus dem Zug – in den sie einst einstieg – und gehe durch das hölzerne Bahnhofsgebäude. Ich wandere durch den Domberg-Park, bleibe am Kussberg stehen und gehe dann über die Engels-Brücke hinunter in die Stadt, direkt auf die Universität zu. Ich laufe über die alten Steine und denke verstummt daran, dass meine Vorfahren hier über Generationen gelebt haben - seltsam. Bekannt und unbekannt zugleich. Die deutschen Straßennamen sind verschwunden und auf den Schildern finden sich estnische Buchstabenkombinationen, die ich nicht auszusprechen vermag. Spuren sind nur vertikal zu finden, nicht horizontal. Ich erinnere mich: Durch den Hitler-Stalin-Pakt hatte die deutsche Bevölkerung 1939 das Land innerhalb von drei Tagen verlassen müssen. Nichts konnte mitgenommen werden, nur das eigene Leben und ein paar Papiere ließen sich retten, wenn man geschickt und schnell genug war. Meine Großmutter war damals dreiundvierzig Jahre alt, hatte das Atelier meines Urgroßvaters Carl Schulz längst übernommen und war für ihre Aufnahmen in den Metropolen der alten Zeit bekannt. Dieses Mal stieg sie auf Hitlers Geheiß in den Zug, widerwillig, und verließ ihre Heimat, ihr Leben, in das sie niemals zurückkehren würde. Sie fuhr bis Posen und ließ sich dort ein neues Haus samt Atelier zuteilen, in dem sie bis zur Kapitulation…

Dagmar Schulz weiß, wen sie fotografieren will. Sie kennt die junge Frau aus Wien nicht persönlich, in den Boulevardblättern klatscht man aber über sie, die „schöne Sarah“, die die Tollkühnheit besitzt, mit einem eigenen Auto durch Europa zu fahren, so jedenfalls erzählt man es in Berlin. Und ihr Glück will es, dass Sarah Rotblatter auf dem Weg von Warschau nach St. Petersburg auch in Dorpat vorbeikommen soll. Dagmar Schulz fährt wieder in die Heimat und bereitet ihre Apparate dafür vor, Außenaufnahmen zu machen. Sie wählt einen einzigartigen Ort, den es nur einmal in der kulturell so bedeutenden Kleinstadt Dorpat gibt: die Tankstelle. Dort wird sie der Schönheitskönigin auflauern und sie fotografieren.

Der Zweite Weltkrieg fegt auch über Estland, mittendrin wird meine Mutter geboren, Menschen kommen und gehen, nichts bleibt wie es war. Ich weiß davon durch den Geschichtsunterricht, bei uns erzählt man nicht so viel von früher. Erbstücke gibt es nicht, man kam mit leeren Händen. Das Haus meiner Familie in Dorpat war zerstört worden, das wusste ich. Ich suche also die Straße und vergleiche den alten deutschen Stadtplan mit dem neuen estnischen… Eine kleine Gedenktafel erinnert daran. Tatsächlich: an das Haus. Der Platz, auf dem das Holzhaus samt Atelier gestanden hatte, ist leer. Einfach leer. Und ich setze mich in den vergehenden Sonnenschein des Nachmittags und träume, wie es damals wohl war… Oder wie es wäre wenn… Es kommt mir wie eine unvollendete Geschichte vor. Ein bisschen traurig nehme ich Abschied von dem leeren Platz, mit leeren Händen, der einmal… ich schlendere die Straße herunter und komme an ein Antiquitätengeschäft. Ich trete ein, ein alter gutmütiger Herr aus dem letzten Jahrhundert nickt mir freundlich zu. Ich schaue mich um. Überlege, ob die Möbel, die dort stehen, wohl in dem Schulz’schen Haus gestanden haben mochten? Und ich entdecke eine Pappkiste mit Fotos.

Carl Schulz ist von dem Vorhaben seiner Tochter nicht gerade angetan, aber glücklich, sie wieder zu Hause zu haben. Hatte sie noch immer nicht verstanden, wie man seinem Namen Ehre macht? Schließlich hatte er noch vor wenigen Jahren den Zaren fotografiert. Carl Schulz ist ein konservativer Mann, der davon ausgeht, dass die Vergangenheit zurückkehrt. Letztendlich kann er sie aber nicht zurückhalten und gibt seiner Tochter schließlich die teuersten Papiere, auf denen sie ihre Aufnahmen an der Tankstelle in der Dunkelkammer ans Licht holt.

Verträumt schaue ich mir ein Foto nach dem anderen an. Grau-braune Bilder auf dicken Pappen mit allerlei Motiven… Schöne Frauen in altmodischen Kleidern und geschwungenen Hüten. Steife Herren mit ausdrucksstarken Schnäuzern, erschrockene Kinder mit glattgelegten Frisuren… Und dann bekomme ich ein ungewöhnliches Bild in die Hand: Eine junge Frau in einem alten Cabriolet, mit stolzer Miene und erhobenem Busen – an einer Tankstelle. Und ich wende die Fotopappe und lese: Abschlussfoto von Dagmar Schulz, 1928, Lette-Verein Berlin. Atelier Carl Schulz, Gartenstraße 3, Dorpat, Estland.

Montag, 8. April 2013

Die Dinge groß sehen (VIII): Coenraad van Houten und das Neue


Coenraad van Houten ist gestorben. Seine Lebensspanne umfasst die Zeit vom 14.02.1922 bis zum Morgen des 28.03.2013 - Gründonnerstag. Am Ostersonntag wurde er beerdigt. Wenn ich nach innen schaue und mich frage, was er für mich bedeutet, so fällt mir sofort eine allgemeine Beschreibung über den Menschen von Hannah Arendt ein, die Coen für mich in besonderer Weise verkörpert hat.

„Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.“[1]

Coen war ein Wunder, der seine Aufmerksamkeit auf das Neue gerichtet hat, ständig neu angefangen und initiiert hat. Er war jemand, der Initiative ergriffen hat. Der sich ergebnisoffen in Prozesse begeben konnte. Und: er war ein großer und stattlicher Holländer, der in der Welt zu Hause war, zwischen drei Sprachen leicht wie ein Reh hin und her wechseln konnte, gegen Ende seiner regulären Arbeitszeit noch einen ganz neuen Griff machte und die anthroposophisch orientierte Erwachsenenbildung schuf.

Nachdem ihm während der langen Jahre beim NPI in Holland, einer Organisation, die sich um Betriebe und Institutionen kümmert, klar geworden ist, dass die gemeinsame Arbeit innerhalb einer Organisation im Wesentlichen von den Beteiligten abhängt, hat er sich von der institutionellen Beratung abgewendet und sich den Fragen, den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Individuums, sprich dem Schicksal des Einzelnen zugewendet.

Wie lernen Erwachsene? Wie gehen nachhaltige Lernprozesse vor sich? Wie arrangiert das Leben Lernmomente und wie lassen sie sich ergreifen? Wie lässt sich der karmische Hintergrund eines Menschen für die Zukunft fruchtbar machen? Coenraad van Houten war ein innerer Schüler Rudolf Steiners, seine äußeren Lehrer waren Willem Zeylmans van Emmichoven und Bernard Lievegoed – die er alle drei sehr ernst genommen hat.

Das Herzstück seiner Arbeit der letzten zwanzig Jahre war die Entwicklung eines Weges, um vom persönlichen Schicksal zu lernen, die Lebensprozesse zu Lernprozessen auf den verschiedenen Ebenen zu transformieren. Er integrierte dabei die Tag- und die Nachtseite, Vergangenheit und Zukunft und zeigte Möglichkeiten auf, wie sich das Individuelle im Schicksalsnetzwerk entwickeln, ja verwirklichen kann. Immer ging es ihm darum, dass der heutige Mensch seine Freiheit ergreift, dass er mit dem Potential seiner Freiheit einen eigenständigen Umgang zu pflegen lernt.

Nicht nur in der konkreten Arbeit bekommt man es dabei mit Hindernissen, Widerständen und Blockaden zu tun, sondern auch die Bewegung um die Arbeit von Coenraad van Houten herum, NALM (New Adult Lerning Movement), erfährt Widerstände. Geht es doch darum, die theoretischen Darstellungen Rudolf Steiners über Karmafragen tastend in die Praxis zu holen, vorsichtig sichtbar und erlebbar zu machen, um Schicksalsknoten anfänglich zu verwandeln und nachhaltige Lernmomente zu ermöglichen.

Auch Coenraad von Houten hatte dunkle Seiten, er konnte störrisch und mürrisch sein, und in all seiner Beweglichkeit hatte er Momente, in denen er sich auf etwas oder jemanden fixiert hat, in denen er es nicht aushielt, dass das Neue sich nur langsam zeigt, dann war er ungeduldig und ungerecht und hatte Angst davor, dass dunkle Kräfte die Macht ergreifen. Nur schwer konnte er die Arbeit loslassen.

Ich persönlich hatte im Laufe der vielen Jahre einige Zusammenstöße mit ihm, die rückblickend unglaublich bereichernd und horizonterweiternd waren, ich verdanke ihm viel meiner eigenen Entwicklung. Er war ein großer Anthroposoph, der den Ansatz Rudolf Steiners tief in sich aufgenommen hat und seinen Teil zu einer Weiterentwicklung in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums in der heutigen Zeit beigetragen hat.

Nun geht er in der geistigen Welt dem Neuen, noch Unbekannten, der Zukunft entgegen. Er blickt zurück, verarbeitet und wird dann aufs Neue beginnen. Seine Arbeit wird hier auf der Erde weitergeführt werden – wenn sich genügend Menschen finden, die bereit sind, das Alte hinter sich zu lassen, das Neue zu ergreifen und Verantwortung für die Initiative zu übernehmen, die immer und immer wieder neu geboren werden will.

[1] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, 1996, Seite 215f.