Sonntag, 24. März 2013

Die Dinge groß sehen (VII): Mural - Vom Kümmern um den Kummer


Ich nenne ihn Mural. Und er hat einen blinden Fleck auf seinem Herzen. Diese stille Stelle, mit der er nichts sehen oder fühlen kann, ja, die er weder sieht noch fühlt, und die sich kaum begreifen lässt, da sie etwas ist, was gerade nicht ist, hat er schon sein Leben lang. Manchmal versteckt sich dieses kahle Etwas in den Falten seines Lebens und wird zu einem Raum, der unerkundbar ist. Und manchmal liegt es bloß und eben wie eine flache Insel im Meer an der Oberfläche der Grenze zwischen Licht und Luft.

Mural lebt in der Gegenwärtigkeit des Zeitstroms. Er ist weder von der Zukunft noch von der Vergangenheit besessen, wohl aber blickt er mit seinen kleinen Augen weit in zeitliche Fernen, unergründliche Tiefen und über den Rand der irdischen Grenzen hinaus. Der Fleck in seinem Herzen hält ihn im Jetzt und die Kräfte der Zeitlichkeit, die nach vorne und hinten, oben und unten schweifen, tragen ihn durch die verschlungenen Straßen des Lebens.

Manchmal erzählen andere Mural davon, wie der Fleck aussieht, denn nach außen ist er denen sichtbar, die nach innen schauen. Sie versuchen leise etwas davon zu flüstern, von seinem Geruch und seinen Bewegungen zu erzählen. Aber in Mural entsteht kein Bild - was er braucht, in so einem Moment, ist eine Rose, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Er kennt weder Eifersucht noch Neid. Er ruht in sich, ganz allein – manchmal umwoben von dem unsichtbaren Nichts, das das Zentrum seines Seins ausmacht, die Säule zwischen Ober- und Unterwelt bildet. Mural kennt es nicht anders, als ein Herz zu haben, das eine freie Fläche hat.

Einst wölbte sich sein Herz, wollte sich selber umstülpen und verdrehen – um zu sehen, was nicht zu erahnen ist. Es wollte sich neu gebären, um eins zu werden mit sich selbst, um die nackte Stelle zu verwandeln, sie anzukleiden und ihr einen Namen zu geben. Und fast hätte dieses Umbauvorhaben seinem Herzen das Klopfen und Pochen versagt. Nun aber lebt er mit dem Unbekannten weiter in seiner Mitte – und es ist wahr und gut.

Mural ist auf sich gestellt. Immer ist er da, wo er ist. Er spürt die Mitte seiner Welt. Die Fäden des Lebens laufen in seinem Herzen zusammen, aber nicht alle Enden behält er im Blick. Gerne reagiert er auf das, was auf ihn zukommt. Doch manchmal trennt er sich von der Schönheit des Schmerzes und fällt auseinander. Dann braucht er stützende Hände, warme Worte, eine Geste des Lichts. Mural kann traurig und unerreichbar sein.

Das Zentrum des Auseinanderfallens ist der blinde Fleck in seinem Herzen, wenn ein Pfeil diesen Punkt trifft, dann vibriert sein Herz, dann erwacht der Schmerz, dann weiß er nicht mehr, was er nicht sieht. Seine leuchtenden Augen blicken verwirrt in die Ferne. Und es öffnet sich der Abgrund, in den nur er fallen kann – denn die Welt bekommt es noch nicht einmal mit. Das Leben zwischen Geburt und Tod ist brüchig.

Mural ist ein weise und er hat zu schweigen gelernt. Seine Tränen finden fast nie den Weg in die Sonne, sondern sie benetzen den leeren Fleck in seinem Herzen. Ja, er lebt von den ungeweinten Tränen, die das Tor zur Welt nicht kennen, sondern nur das zu seinem Innern. Glaube, Liebe und Hoffnung tragen ihn – mit diesen Flügeln überfliegt er steiniges Brachland.

Und dann füllt sich die ebene Fläche, auf der kein Gras wächst, mit dem silbrigen Naß, von dem er nichts weiß. Er trägt sie dann, die glänzenden Tropfen, fühlt die Schwere der Leichtigkeit, kennt aber die Quelle der Last nicht. Stärke und Schwäche, Humor und tiefer Ernst durchdringen ihn mit seiner leeren Stelle auf seinem Herzen – er macht sich keine Vorstellung davon, sondern lebt vom Tag in die Nacht und wieder hinaus.

Mural ist den Menschen gerade in der Ferne nah. Er übergibt sich dem Geist der Zeit. Worte sind es, die ihm zu Gebote stehen, Verständnis, Einsicht und Weite. Und es sind Gedanken und Zusammenhänge, die ihn nicht davon abbringen, an die Morgendämmerung zu glauben, die sich zwischen den Menschen erhebt, wenn sie einander – auch mit kahlen Stellen im Herzen und anderen Eigenheiten – aufrichtig begegnen. Dann kümmert sich Mural um den Kummer der anderen.

Sonntag, 17. März 2013

Die Dinge groß sehen (VI): Walter Benjamin - unnahbar, einmalig und echt


Heute kennt die akademische Welt dich (darf ich du sagen?), dein Name ist in aller Munde. In der studierten Welt bist du nach deinem frühen Tod zu neuem Leben erwacht und hast dich entblättert. An dir scheiden sich die Geister. Ja, du bist nicht unumstritten. Denn du bist nicht eindeutig einzuordnen, weder der Disziplin noch deiner Aussagen nach. Dein freier Geist fasziniert die Einen, verunsichert die Anderen. Sowohl in der Literaturwissenschaft, in der Philosophie, der Soziologie, der Geschichte, der Kunst… überall hast du Spuren hinterlassen, die weiterführen. Eine Begegnung mit dir ist schwerlich zu vermeiden.

Zu Lebzeiten war es dir nicht vergönnt (auratisch) zu strahlen. Sondern ganz im Gegenteil, es sieht so aus, als ob du vom Pech verfolgt gewesen seist. Heimatlos, umherirrend, deinen Platz nicht findend… Das Berlin deiner Zeit bot alles und nichts. Eigenwillig warst du, von Stimmungen wurdest du geleitet, aber geschrieben hast du vielseitig und eigenständig gedacht. Ja, einen echten Denker kann man dich getrost nennen. Deine Doktorarbeit wurde angenommen, nicht jedoch deine Habilitationsschrift. So wurde dir die akademische Laufbahn vorenthalten, aber du hast weiter gemacht, deinen Ort, dein Wirkungsfeld gesucht. Vor den Nazis bist du geflohen, nach Paris emigriert, hast dort das Passagen-Werk begonnen…

Ja, die überdachten Passagen von Paris, sie entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Ufer der Seine. Die Arkaden, die Fensterbögen und die ägyptischen Motive lassen darauf schließen, dass die Vorbilder dieser „Regenschirme der Armen“, wie du sie nanntest, die überdachten Basare des Orients waren. Geschützt vor Wind und Wetter, der Unwirtlichkeit der Straßen und der Pferdefuhrwerke konnten die Händler dort überdacht ihre Waren feil bieten und die Damen der höheren Gesellschaft in aller Ruhe, fernab des aufwühlenden Straßenbetriebs, flanieren. Ja, flanieren… dein Freund Franz Hessel, der Flaneur aus Berlin, hatte dir voran das Leben in Paris erkundet und es für lebenswert erachtet.

Erst vor wenigen Tagen ist der letzte Zeuge deines Lebens verstorben, Stephane Hessel (Sohn deines Freundes Franz Hessel), der große Diplomat, der die Wirrnisse des Zweiten Weltkriegs überstanden, sein Schicksal in die Hand genommen hat und bis zuletzt unermüdlich tätig war. Für die Menschlichkeit, ja, die Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Frieden, für Lebensentwürfe, die nicht ausschließen, sondern integrieren und wertschätzen – auch, wenn sie fremd sind. Ihr habt euch noch getroffen, damals, in Marseille, wenige Tage vor deinem Tod – das erzählt Stephane Hessel in einem Film über dich und sein Gesicht erscheint dabei in einem Glanz.

Du hast den Begriff der Aura geprägt, hast ihn auf das Kunstwerk bezogen, hast beschrieben, was das Ereignis einer individuellen ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks ausmacht. Du hast die Aura „als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ definiert und ihr die Kennzeichen „Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit“ zugesprochen. Faszinierende, enigmatische Worte.

Du hast Fragmente des unvollendeten Passagen-Werks hinterlassen, an dem du die letzten dreizehn Jahre bis zu deinem Tod gearbeitet hast. Darin findet sich eine Aufzeichnung, in der der Begriff der „Aura“ neben den Begriff der „Spur“ gestellt wird. Obgleich dein Engel der Geschichte (Angelus Novus von Paul Klee) nach hinten schaut, der Vergangenheit zugewendet ist, ist es nun die Aura, die das Ereignis der Gegenwärtigkeit beschreibt und die Spur ist das Vehikel, das uns in die Zukunft führt und uns zu dem macht, der wir sind.

In die Geschichte schauen und die Aura auf den Spuren deines Lebens entdecken, die bis in die Gegenwart, ja in die Zukunft reichen… das hast du uns hinterlassen und gleichzeitig in Aussicht gestellt. Darum bist du lebendiger denn je – unnahbar, einmalig und echt – ob es nun ein verzweifelter Suizid oder kaltblütiger Mord war, damals, 1940, in dem kleinen Hotel in Portbou.

Die Dinge groß sehen (V): Der Frühling kommt bestimmt

Es ist etwas passiert. Dein Selbstverständnis als Möglichmacherin, als Organisierende, Begleitende und Unterstützende muss neu ergriffen werden, sich transformieren, anders angegangen werden. Gerne hast du die Fäden im Hintergrund miteinander verknüpft, beobachtet, wer wo eingesetzt werden könnte, wo es fließt und wo es stockt.

Du hast dein Schicksal angenommen, hast nicht versucht ins Rampenlicht zu treten, sondern hast mit deiner stillen Art den Anderen eine warme Umhüllung geboten. Auf deiner Unterschrift aber hast du bestanden und das ist gut.

Von weit her bist du gekommen, bist Schritt für Schritt auf deiner Lebensreise gegangen, weit und breit und lang in die Fremde hinein, in der du angekommen bist. Die alte Heimat, wie ein Traum im Urgrund deines Seins, weht mit einem leisen Gruß herüber – mehr nicht. Das Leben findet hier statt. Hie und da schaust du den Flugzeugen am Himmel nach. Die Sprache, noch immer fremd, nistet sich nicht ein. Von außen kommend erfasst du ihren Sinn, doch aus dir heraus wird sie nicht geboren.

Stets der Blick nach außen, deine Frage: Was brauchen die Anderen? Was braucht der Prozess? Und: Was kann ich geben, beisteuern, schenken? Dein Sein: immer auf das Ganze gerichtet, Entwicklung, Neugriff – still und leise. Du hast Sorge getragen, uneigennützig. Aufmerksamkeit und Hingabe sind deine großen Schätze. Nun muss die Aufrichtekraft alles geben, was sie finden kann. Der Blick wandert nach innen und findet Schwäche vor.

Wie eine Schattenkönigin sitzt du da. Dein Reich zerbröselt. Du schaust ihm nach. Es war einmal… Alles muss anders werden. Der Umkreis ist gefragt. Verunsichert schaust du mich mit deinen kleinen Augen an, versinkst in Gedanken. Irgendwohin. Die offenen Ränder der Wolken nehmen dich mit, sanft und staunend kannst du dich ihnen nicht erwehren. Dein Körper ist zurück. Er ist da und das ist ein Glück. Noch etwas wackelig und vorsichtig bist du auf den Beinen. Deine Stimme leise und fragend. Warum nur? Und: Wie weiter?

Die Welt muss sich drehen, der Blick sich dir annehmen. Ich erkenne dich wieder und doch bist du neu. Wir können uns auf Gewohnheiten nicht ausruhen. Die Rollen dürfen gewechselt werden, ja alles muss neu und anders werden, und doch bleiben wie es ist, das eigene Selbstverständnis fordert Wink und Wandlung im Gewordenen, die Zäsur eröffnet ein neues Kapitel, Zukunft weht herein – noch lau, der Schritt nur zögernd.

Die Neuerfindung braucht Zeit. Auf der physischen Ebene kommt alles wieder in Ordnung. Jetzt ist es die Seele, die den Weg finden, sich neu ergreifen, geistig werden muss. Punkt und Umkreis stülpen sich um, wir alle sind gefragt. Dein business ist auch unser business. Vertrau! Die Welt sieht anders aus. Ein paar Schneeglöckchen kommen aus den kahlen und grauen Wiesen hervor – mehr ist es noch nicht. Der Frühling lässt auf sich warten – aber er kommt bestimmt, das lässt sich die Zukunft nicht nehmen.