Sonntag, 24. Februar 2013

Die Dinge groß sehen (IV): Schritte in die unbekannte Zukunft


Sie hat etwas vor. Gestern schon waren ihr die Farben und Formen aufgefallen und in ihrem inneren Raum, der ihr für Kreativität und Phantasie zur Verfügung steht, begann sich etwas zu regen, zu bewegen, zu entwickeln, zu entzünden. Noch hat sie keine Worte dafür, aber sie spürt den Drang, sich an die Nähmaschine zu setzen. Und das tut sie auch. Bald rufen die verschiedensten Materialien aus allen Ecken der Wohnung, die in ihrem Prozess eingesetzt werden möchten.

Ihre langen Haare wirft sie immer wieder über die linke Schulter. Die Pulswärmer halten ihre Hände warm und geben ihnen Kraft. Diese kleinen Hände übernehmen die Regie, sie arbeiten, gestalten, kreieren. Man muss ja mit einer Nähmaschine nicht unbedingt Stoff zusammennähen. Auch Papiere, Pappe oder Fotos lassen sich mit Fäden verknüpfen, verzieren, in neue Bedeutungszusammenhänge transformieren.

Sie wagt sich an etwas Neues, Unbekanntes. Ist keine Expertin, weiß aber, dass sie im Fluss ist. Und dann klingelt ihr Handy. Mit einem Kaffee und einer Zigarette stellt sie sich vor die Tür und hört dem Freund am Telefon zu. Sie schweigt, nimmt auf, lässt die Worte in sich kreisen und findet einen Anknüpfungspunkt. Ein warmes Gespräch entsteht. Dieser Moment ist der ihrige, sie fühlt sich mit der Welt verbunden. Spürt, dass Innen und Außen in ihr einen Klang erzeugen, den sie bejaht.

Aber sie weiß um die Fragilität ihrer Innerlichkeit. Irgendwie gibt es da eine Glatteisfläche in ihr. Manchmal rutscht sie aus. Oder es wird ihr zu kalt. Dann ergreift sie in einem kleinen Kreis von Menschen das Wort und versucht zu berichten, was sie erlebt. Und wonach sie sich sehnt. Kompromisslos ehrlich bewegt sie sich dann auf dem gefrorenen Eis, auch wenn die Gefahr des Einbruchs droht. Tränen können nicht gefrieren, aber Herzen erweichen.

In der Kreativität liegt ihre Kraft. In der Kunst, die die Banalität des Alltags transformiert und sinnschaffend die Menschen in Bewegung bringt. Ihr Blick ist stets nach vorne gerichtet. Utopien und Pläne kommen aus der Zukunft – nicht aus dem Dunkel der Vergangenheit. Sie schaut in die Ferne, immer nach vorne. Hier und jetzt will sie tätig sein, Spuren will sie hinterlassen – aus der Zukunft heraus.

Aber manchmal versteht sie die Welt nicht. Die Menschen, sich selbst. Da gibt es die Dunkelheit, Verwirrung, eine Unterwelt. Und sie kämpft gegen die Fangarme, die sie festzuhalten drohen, hält nach den kleinen Silberperlen Ausschau, die wie im Märchen den Weg weisen. Sie muss das Licht finden.

Und wenn die Worte dann unscharf werden, dann erhebt sie ihre Stimme, lädt Klänge ein, sich durch sie zu offenbaren. Dann führt sie mit Musik und tänzerischer Darstellung das fort, was die Sprache und der Intellekt verweigern. Dann schreitet sie weiter, ohne zu wissen, wie der Weg heißt, in welchem Land sie ist und welchen Titel das Vorhaben in der Gesellschaft trägt. Dann kooperieren Stimme und Füße. Ihre kleinen, beweglichen Füße zeigen ihr den Weg, den sie stolpernd beschreitet, vom Zukunftsklang geleitet.

Und sie kehrt zurück an die Nähmaschine und arbeitet weiter. Um sie herum liegen Stoffstreifen, Scheren, Fäden, Bänder und Bilder… Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie sich beeilen muss. Zu spät kommen will sie nicht. Aber es ist knapp. Zumal sie auch noch ihre Sachen packen muss. Und wieder denkt sie, dass sie sich besser organisieren müsse, irgendwie aufräumen solle.

Aber die Kunst verschafft sich gerade dort Gestaltungsräume, wo das Denken und der Wille oberflächlich zurücktreten, wenn das, was kommen wird die Regie übernimmt, wenn das Herz zum Maß der Dinge wird. An der Bushaltestelle angekommen, schaut sie sich die Frau an, die neben ihr steht. Das macht man eigentlich nicht. Aber wenn sie kann, geht sie mit offenen Augen durch das Leben. Schaut, wer neben ihr steht, erkennt, wer die Menschen sind, die sie sucht. Um einen Schritt zu machen, das Werk weiterzuführen.

Sonntag, 10. Februar 2013

Die Dinge groß sehen (III): Biographisch gerinnende Ermutigung


In der Waldorfschulpraxis nennt man es Kinderbesprechung. Wenn es gut läuft, setzen sich die Lehrer in ihren Konferenzen immer wieder zusammen und besprechen einzelne Kinder mit je spezifischer Fragestellung und Perspektive. Anlass dafür ist die Verantwortung, die die Schule der Entwicklung der Kinder gegenüber einnimmt. Unerheblich ist dabei, ob das Kind durch Sichtbarkeit, Lautstärke und besondere Auffälligkeiten hervortritt, oder gerade umgekehrt, ob es eher unsichtbar, still und unauffällig ist.

Jedem Kind gebührt in seiner Schullaufbahn (mindestens) eine Kinderbesprechung. Das Zusammenkommen der Beteiligten ist ein heilsames Geschehen, das dazu verhilft, ein Kind in seiner Entwicklung, seinen Fortschritten und Hindernissen wahrzunehmen, es von verschiedenen Seiten anzuschauen und möglicherweise unterstützende Maßnahmen in dieser oder jener Richtung einzuleiten. Der Kreis der Lehrer, Erzieher und manchmal auch der Eltern wird dabei in die Lage versetzt, das Schicksal des Kindes zu unterstützen.

Die Leitfrage in der Kinderbesprechung ist: Woher kommt das Kind (was bringt es mit) und wohin will das Kind (wohin will es) und was können wir dazu beitragen? Aber auch wenn das Kind erwachsen geworden ist und nicht mehr auf eine Waldorfschule geht – was ja der eine oder andere auch gar nicht getan hat – bleiben die Fragen aktuell und treten auf diese oder jene Weise in der Biographie auf. Wie gehen wir damit im Erwachsenenalter um?

Die Fortführung von Kinderbesprechungen sind meines Erachtens sogenannte Taubegruppen, wie sie bei Adventura entwickelt wurden. Jetzt steht nicht mehr ein Kind im Mittelpunkt, das übrigens bei den Besprechungen gar nicht dabei ist, sondern der Erwachsene, der Fragen an sein Leben hat. Er wählt sich einen Kreis von Menschen, mit denen er bereit ist auf sein Leben zu schauen und seine Fragen anzugehen – er ist der Mittelpunkt des Kreises.

Unsere Biographie stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Initialzündung für eine Taubegruppe ist eine Frage, ein Problem, ist ein Moment, in dem wir aus der Alltagsroutine austreten, innehalten, vielleicht nicht mehr weiter wissen und nach neuen Inspirationen verlangen. Dass wir das nicht immer alleine hinkriegen ist schon eine alte Weisheit. Dass wir das aber in einer Gruppe von Menschen bewusst angehen können ist neu.

Die Wahl der Menschen, die in einer Taubegruppe mitarbeiten bestimmt der Betreffende. Lehrer, Erzieher und Eltern haben ausgedient, nun werden Menschen gewählt, die auf Augenhöhe einen Beitrag zu leisten im Stande sind. Möglicherweise werden auch fachspezifische Fähigkeiten gebraucht. Voraussetzung ist aber, sich auf den Fragenden, Innehaltenden einzulassen, ihn neu kennen zu lernen und die Aufmerksamkeit auf ein Nachspüren zu richten: wo kommt er her, wo will er hin und was kann die Gruppe in diesem Moment dazu beitragen, dass die Steine, die das Schicksal in den Weg gelegt hat, verstanden oder erlöst werden?

Kleine Taubegruppen (drei bis sieben Menschen) sind im Stande die (manchmal vagen) Fragen des Betreffenden polyfon anzugehen, sie künstlerisch zu begleiten und den oft nicht so einfach zu ergreifenden Hindernissen die auf den Ebenen des Denkens, Fühlens und Wollens auftreten, mutig zu begegnen. Die Arbeit in einer Taubegruppe ist ein delikates Geschehen, das um Takt und Einfühlungsvermögen aber auch um Klarheit und Bestimmtheit fragt.

Taubegruppen konstituieren sich selbst, vereinbaren Umgangsformen, treffen Verabredungen in Zeit und Raum und werden wieder aufgelöst, wenn der Schicksalsweg des Betreffenden wieder in eine gangbare Spur gefunden hat. Was entsteht, wenn wir die Kinderbetrachtungen im Erwachsenenalter in Taubegruppen transformieren, ist biographisch gerinnende Ermutigung.

Samstag, 2. Februar 2013

Die Dinge groß sehen (II): Der ruhige Mann mit dem Überblick


Er steht in der Küche und liest das Rezept. Die Kinder spielen drüben, immer wieder einmal wirft er einen Blick zu ihnen. Zuerst muss das Fleisch eingelegt werden. Er breitet die Zutaten vor sich aus, holt Töpfe, Messer und Schüsseln. Er weiß, dass er mehrere Dinge gleichzeitig zu machen hat.

Aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Es gab einen Moment in seinem Leben, als er eine Entscheidung getroffen hat. Und der ist er treu. Alles andere würde ihn verwirren – das hat er lange genug mitgemacht. Die Welt um ihn herum ist in Bewegung, hier eine Anfrage, dort eine Notwendigkeit, das Telefon klingelt und dort muss er auch noch hin – eins nach dem anderen.

Nun kommen die Zwiebeln dran, liebevoll schält er sie und schneidet sie in winzige Würfel. Mit dem neuen Messer geht das gut. Neben dem Brettchen mit den Zwiebeln legt er die Peperoni- und Paprikaschoten bereit, gelbe, rote, grüne. Auch die Nüsse müssen noch gehackt und die Zitronenschale abgeschabt werden.

Drei Welten greifen ineinander. Er befindet sich inmitten der großen Welt, ja, die Hauptstadt sollte es sein. Das hat er schon vor vielen Jahren entschieden. Sein Leben hat erst dort begonnen. Er kennt sich aus, auch wenn die Stadt von Baustellen und Umleitungen durchzogen ist, er findet den Weg – man muss auch nicht über alles reden.

Wenn ich ihn frage wie es ihm geht, dann wiederholt er meine Frage mit einem Blick, als wenn er sie zum ersten Mal in seinem Leben hört. Wie es ihm geht? Gut, natürlich. Ja, es geht ihm gut. Warum auch nicht? Er hat sich sein Leben eingerichtet. Man muss sich doch nicht so viele Fragen stellen, oder? Er weiß, wer er ist und was er tut. Und er weiß, wer er nicht ist und was er nicht tut. Ganz einfach…

Für die Soße schneidet er Petersilie klein, holt Sherry aus der kleinen Kammer und nimmt die Sahne aus dem Kühlschrank. Früher hat er gerne Musik gehört, aber das passt jetzt nicht. Gerade fangen die Kinder an zu streiten. Er schlichtet, tröstet, fühlt sich ein, beruhigt… Das klappt gut. Mit der kleinen Welt, die er sich geschaffen hat, kommt er gut zurecht, Tag für Tag. Schließlich finden sich immer Lösungen.

Die Himbeeren liegen auf dem Balkon, sie sollen nicht mehr gefroren sein, wenn sie mit der Creme vermischt werden. Die Kinder werden etwas anderes zum Nachtisch bekommen. Zwischen der Welt der Kleinen und der Welt der Großen gibt es einen Unterschied – auch wenn sie zusammengehören.

Und dann gibt es da noch seine Welt. Auch ihm ist die Zigarette eine Hilfe. Die Schachtel liegt ganz oben auf dem Kühlschrank, dort, wo sie niemand sieht und niemand dran kommt. Er geht auf den Balkon. Nur einen Moment. Und er raucht und freut sich darüber, dass er so lebt, wie er lebt. Ein paar Minuten nimmt er sich, um aus der Zeit zu treten. Es war nicht immer alles so, wie es jetzt ist.

Was er kann ist zuhören. Offen, still und staunend. Und dieses Zuhören führt oft dazu, dass es keiner Worte mehr bedarf. Wenn sie nach Hause kommt soll das Essen fertig sein. Die Kinder im Schlafanzug, das Abendessen kann beginnen. Die Kinder essen die Nudeln pur. Er überlegt, was es zu erzählen gibt, eigentlich ist gar nicht so viel passiert. Schön war es, ruhig, normal… Man muss sich nicht so viele Gedanken machen. Das Leben ist gnädig mit ihm – es geht ihm gut und das genießt er bedachtsam.